Bei einem Streit um die Leistungsberechtigung nach dem 4. Kapitel des SGB XII gilt die Bindungswirkung nach § 45 Satz 2 SGB XII bzgl. einer vom ersuchten Rentenversicherungsträger festgestellten Erwerbsfähigkeit ausschließlich für den Sozialhilfeträger, nicht hingegen für die Gerichte. Die Tatsachengerichte haben unabhängig von der Feststellung des Rentenversicherungsträgers die verminderte Erwerbsfähigkeit selbst und umfassend von Amts wegen zu überprüfen und ggf. Beweis zu erheben.
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 21. Juni 2024 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte dem Kläger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) dem Grunde nach zu gewähren hat und in diesem Zusammenhang, ob der Kläger dauerhaft voll erwerbsgemindert und damit Leistungsberechtigter ist. Der Beklagte macht diesbezüglich bis zu dem von ihm geführten Berufungsverfahren seine Bindung an die Feststellungen des Rentenversicherungsträgers nach § 45 SGB XII geltend.
Bei dem 2004 geborenen Kläger erfolgte noch im Säuglingsalter wegen einer Herzmuskelerkrankung (restriktiv-hypertrophe Kardiomyopathie) im Dezember 2004 eine blutgruppeninkompatible Herztransplantation. Zur Vermeidung von Abstoßreaktionen wurde eine immunsuppressive Therapie durchgeführt. In der Folge traten häufige Mykoplasmen-Pneumonien, Bronchitiden sowie eine schwere ParvoB 19-Infektion (Ringelröteln) auf, die aufgrund der lmmunsuppression zu einer transfusionspflichtigen Anämie führte. 2006 zeigten sich erstmals epileptische Anfälle, die unter Therapie mit Valproinsäure seit 2009 sistierten, 2013 wurde die Medikation beendet. Die immunsuppressive Therapie wird bis heute durchgeführt. Außerdem ist die mentale Entwicklung und Reifung des Klägers eingeschränkt (vgl. Stellungnahme der Z1 vom 19.10.2021, Bl. 16 VerwA). Die Ärzte der Universitätsklinik T1, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Abteilung Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie, Sozialpädiatrie diagnostizierten im April 2018 u.a. einen Zustand nach (Z. n.) tonisch-klonischen Anfällen, einen Verdacht auf (V. a.) frühkindliche Grand-mal-Epilepsie (Erstdiagnose 2006), eine expressive Sprachentwicklungsstörung mit Dyslalie sowie Dysgrammatismus, eine Lese- und Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie und eine leichte motorische Koordinationsschwäche (vgl. Arztbrief vom 25.04.2018, Bl. 21 VerwA). Seit dem Absetzen der Medikation mit Valproat im Jahr 2013 sei es zu keinen epileptischen Anfällen mehr gekommen. Die Ärzte des KfH Nierenzentrums an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin T1 diagnostizierten eine chronische Niereninsuffizienz Grad 3b bei renaler metabolischer Azidose und renaler Osteodystrophie und einen Wachstumshormonmangel bei neurosekretorischer Dysfunktion (vgl. Arztbrief 16.02.2022, Bl. 25 VerwA). Bei der kinderkardiologischen Sprechstunde im Klinikum der Universität M1 am 02.01.2023 zeigte sich kein Hinweis auf eine Abstoßfunktion, die Therapie mit Immunsuppressiva konnte laut Ärzten unverändert fortgeführt werden, es sei denn es käme zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion, die dann eine Umstellung der Immunsuppressiva erforderlich machen würde (vgl. Arztbrief vom 05.01.2023, Bl. 27/29 VerwA).
Beim Kläger sind seit 16.07.2020 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche G, aG, H und B anerkannt (Bl. 10 VerwA). Bei ihm ist ein Pflegegrad 4 festgestellt (Bl. 14 VerwA). Eine Rente wegen Erwerbsminderung bezieht er nicht. Er lebt gemeinsam mit seinen Eltern (geboren 1980 und 1975, beide erwerbsfähig und erwerbstätig) und seinem jüngeren Bruder im Haushalt der Eltern.
Bis zum 11. Schulbesuchsjahr besuchte der Kläger die D1-schule in M2, ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum in freier Trägerschaft (der Stiftung K2 gGmbH) mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung und dort den Bildungsgang geistige Entwicklung (Bl. 13 VerwA). Der Unterricht an der D1-schule erfolgt im Allgemeinen in den Bildungsgängen Grund-/Haupt- und Werkrealschule oder Lernen oder geistige Entwicklung. Die Schulzeit an der D1-schule umfasst grundsätzlich in der Regel fünf Grundschuljahre und fünf Hauptstufenjahre; im Bildungsgang geistige Entwicklung schließt sich die dreijährige Berufsschulstufe an, wobei das Bildungsangebot für Schüler:Innen im Bildungsgang geistige Entwicklung durch die differenzierte Berufsschulstufe erweitert wird (vgl. https://www.dreifuerstensteinschule.de/bildungsgaenge.htm).
Der Kläger besuchte im 12. Schulbesuchsjahr - dem Schuljahr 2022/2023 - im ersten Jahr die differenzierte Berufsschulstufe der D1-schule in M2 (Bl. 13 VerwA). Im Schuljahr 2023/2024 besuchte der Kläger die differenzierte Berufsschulstufe der D1-schule im zweiten Jahr (vgl. Auskunft des Sonderschullehrers S1 vom November 2023, Bl. 88 SG-Akte).
Am 30.01.2023 (Bl. 2 VerwA) informierte sich die Mutter des Klägers über mögliche Grundsicherungsleistungen, woraufhin der Beklagte dem Kläger noch am selben Tag Antragsunterlagen übersandte (Bl. 6 VerwA), die wiederum ausgefüllt und mit Datum vom 24.02.2023 unterzeichnet am 28.02.2023 (Bl. 7/10 VerwA) beim Beklagten eingingen.
Mit Schreiben vom 10.05.2023 (Bl. 33 VerwA) ersuchte der Beklagte die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg (im Folgenden: Rentenversicherungsträger), nach § 45 SGB XII zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII - dauerhafte volle Erwerbsminderung - vorliegen. Dem Ersuchen fügte er die vorgenannten ärztlichen Unterlagen sowie den Schwerbehindertenausweis des Klägers bei.
Mit Schreiben vom 05.06.2023 (Bl. 38 VerwA), beim Beklagten eingegangen am 16.06.2023, teilte der Rentenversicherungsträger mit, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII nicht erfülle. Die volle Erwerbsminderung bestehe unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage auf Zeit, weil es nicht unwahrscheinlich sei, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden könne. Die volle Erwerbsminderung bestehe (zumindest) seit dem 27.07.2004 voraussichtlich bis zum 31.05.2026. Zugleich wies der Rentenversicherungsträger darauf hin, dass der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung habe, da ausgehend vom Eintritt der Erwerbsminderung am 27.07.2004 die versicherungsrechtlichen/wartezeitrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
Am 05.07.2023 wurde die Mutter des Klägers zu dessen Betreuerin durch das Amtsgericht B1 bestellt (vgl. Betreuerausweis, Bl. 33 Senatsakte). Der Aufgabenkreis umfasst u.a. Behörden-, Renten- und andere Sozialleistungsangelegenheiten sowie die Vertretung des Klägers gerichtlich und außergerichtlich.
Mit Bescheid vom 21.06.2023 (Bl. 39 VerwA) in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023 (Bl. 47 VerwA) lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers „vom 28.02.2023“ ab. Zur Begründung führte er aus, dass der Rentenversicherungsträger für den Beklagten verbindlich festgestellt habe, dass der Kläger nicht dauerhaft voll erwerbsgemindert sei. Der Kläger sei damit nicht leistungsberechtigt nach dem 4. Kapitel des SGB XII. Er sei hilfebedürftig und als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, die aus ihm und seinen erwerbsfähigen Eltern bestehe, daher dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Gem. § 21 SGB XII sei er daher auch nicht leistungsberechtigt nach dem 3. Kapitel des SGB XII.
Hiergegen hat der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, am 01.09.2023 Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass er entgegen der Annahme des Rentenversicherungsträgers auf Dauer erwerbsgemindert und daher Leistungsberechtigter für Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII sei.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat vorgetragen, er selbst habe auf die Feststellung des Rentenversicherungsträgers im Wege des Ersuchens keinen Einfluss, vielmehr sei er an dessen Feststellungen gebunden. Die Klage sei nicht geeignet, die volle dauerhafte Erwerbsminderung des Klägers festzustellen, da der Beklagte eben diese Entscheidung nicht treffe.
Das SG hat den Rentenversicherungsträger mit Schreiben vom 19.09.2023 aufgefordert, die seinen Feststellungen vom 05.06.2023 zugrundeliegenden Unterlagen und Bewertungen zu übersenden (Bl. 27 SG-Akte). Aus den vom Rentenversicherungsträger übersandten Unterlagen (Bl. 31, 32 ff. SG-Akte) lässt sich u.a. die Stellungnahme der V1 vom 02.06.2023 (Bl. 58 SG-Akte) entnehmen, wonach eine kognitive Entwicklungsstörung bei frühkindlicher Grand-mal-Epilepsie (ICD-10 F 70) und ein Z. n. Herztransplantation bei restriktiver Kardiomyopathie vorliege, die zu einem Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seit Geburt führe und der weitere Verlauf abzuwarten bleibe, insbesondere die Frage nach der Ausbildungsfähigkeit, weshalb eine erneute Evaluation nach drei Jahren empfohlen werde und die Besserung daher nicht unwahrscheinlich sei.
Das SG hat die Schulberichte der D1-schule zu den Schuljahren 2021/2022 und 2022/2023 beigezogen. Hinsichtlich deren Inhalt nimmt der Senat ausdrücklich auf Bl. 65/82 der SG-Akte Bezug.
Auf Anfrage des SG hat der Sonderschullehrer der D1-schule S1 mit am 13.11.2023 beim SG eingegangenen Schreiben (Bl. 88 SG-Akte) mitgeteilt, dass der Kläger aktuell die differenzierte Berufsschulstufe im zweiten Jahr besuche und für eine Beschäftigung des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verschiedene Faktoren ausschlaggebend seien. Zum einen sei der Kläger auf Grund seiner körperlichen Beeinträchtigung nur bedingt belastbar. Außerdem dürfe er bestimmte Tätigkeiten, beispielsweise auf Grund der erhöhten Infektionsgefahr, nicht dauerhaft ausüben (z. B. im Kindergarten). Auch seien seine kognitiven Voraussetzungen, insbesondere seine Fähigkeiten in den Bereichen Deutsch und Mathematik - auch für eine verkürzte Ausbildung (Fachwerker) - nicht ausreichend. Außerdem habe der Kläger eine stark eingeschränkte Merkfähigkeit. Schulische Inhalte seien trotz Übungen oftmals in der darauffolgenden Woche nicht mehr abrufbar. Viele Wiederholungen würden ihm helfen, neue Inhalte besser zu erfassen, auch wenn die Inhalte nicht dauerhaft abrufbar seien. Auch seien die psychischen Voraussetzungen schwierig. Der Kläger habe aktuell wenig realistische Vorstellungen von einer Tätigkeit nach der Schule. Wünsche und Realität würden oftmals noch weit auseinandergehen. Zusätzlich sei er eher sensibel und es falle ihm sehr schwer, mit den eigenen Grenzen umzugehen. Gelinge ihm eine Aufgabe nicht oder werde er kritisiert, versuche er es immer wieder von Neuem. Dabei setze er sich sehr stark unter Druck. Es könne vorkommen, dass er sich komplett zurückziehe und dann für sein Umfeld kaum noch zu erreichen sei. Erst nach einiger Zeit könne die Situation dann vorsichtig mit ihm besprochen werden. Im Umgang mit seinen Mitschüler:Innen sei in diesem Schuljahr ebenfalls eine Veränderung zu beobachten. Der Kläger ziehe sich immer wieder zurück und suche die Einzelsituation. Insgesamt würden die Voraussetzungen (körperliche, kognitive und psychische) nach aktuellem Stand eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum möglich erscheinen lassen, weshalb der Kläger nach der Schule aktuell in einem geschützten Bereich gesehen werde.
Auf Anfrage des SG hat die Prüfärztin des Rentenversicherungsträgers V1 mit Schreiben vom 23.11.2023 (Bl. 98 f. SG-Akte) ausgeführt, dass sich auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Sonderschullehrers keine Änderung ihrer Beurteilung ergebe, da es sich bei dieser um keine medizinische Einschätzung handele und insbesondere nicht auf einer kognitiven Testung des Klägers beruhe.
Das SG hat von Amts wegen das Gutachten des K1 vom 21.04.2024 eingeholt (Bl. 124 ff. SG-Akte). K1 hat nach Untersuchung des Klägers am 18.04.2024 beim Kläger nur leichte körperliche Leistungseinschränkungen beschrieben.
Der Kläger ist dort in Begleitung seiner Mutter erschienen, die während des Anamnesegesprächs hin und wieder Formulierungshilfe geleistet hat (vgl. Bl. 131 SG-Akte). Der Kläger bzw. seine Mutter haben dort angegeben, dass es ihm im Großen und Ganzen gut gehe. Seine körperliche Leistungsfähigkeit habe sich in der letzten Zeit etwas gebessert; er fahre regelmäßig Fahrrad und gehe regelmäßig mit dem Hund spazieren; körperliche Probleme (z.B. Gleichgewichtsprobleme, Kurzatmigkeit, Brustschmerzen, Schwindel) habe er dabei nicht. Fußballspielen und Laufen mache er nicht mehr. Bei sportlichen Aktivitäten (z.B. Schulsport) müsse er die Belastung allerdings langsam steigern und könne nicht von Anfang an die volle Leistung bringen, ansonsten bekomme er blaue Lippen und Atemnot. Die früheren tonisch-klonischen Anfälle seien unter Medikation seit 2009 nicht mehr aufgetreten. Auf die Frage, welche berufliche Tätigkeit er sich in der Zukunft vorstellen könne, hat der Kläger gegenüber dem Sachverständigen angegeben, dass er gerne im Bereich Kfz-Technik arbeiten würde. In diesem Bereich habe er bereits zwei Praktika absolviert, körperlich sei er dabei nicht überfordert worden. Der Belastungstest (flottes Treppensteigen über zwei Stockwerke) hat bei anfänglicher Sauerstoffsättigung und einer Herzfrequenz von 104/min. eine Sauerstoffsättigung von 99 % und eine Herzfrequenz von 124/min. ergeben (vgl. Bl. 135 SG-Akte). K1 hat auf seinem Fachgebiet einen Z. n. Herztransplantation wegen restriktiver hypertropher Kardiomyopathie, arteriellen Bluthochdruck und eine chronische Niereninsuffizienz diagnostiziert. Er hat ausgeführt, dass internistischerseits eine leichte Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit insofern bestehe, als dass der Kläger bei anstehenden Belastungen nicht sofort „in die Vollen" gehen könne, sondern die Belastung langsam steigern müsse. Aufgrund der durch die Nierenerkrankung bedingten Hypertonie mit sporadischen diastolischen Werten bis 120 mmHg seien nur körperlich leichte Tätigkeiten zumutbar. Die chronische Niereninsuffizienz sei nach den letzten Laborwerten vom Dezember 2023 gut eingestellt und bedinge keine zusätzliche Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Der Kläger solle lediglich auf eine ausreichende Trinkmenge achten. In der aktuellen Situation sei daher dauerhaft eine körperlich leichte Tätigkeit über drei bis sechs Stunden täglich zumutbar. Der Kläger gebe selbst an, dass er gerne arbeiten würde, was – so K1 – seinem Selbstwertgefühl zugutekommen würde. K1 hat bei seiner Begutachtung u.a. den vom Kläger zur Untersuchung mitgebrachten Arztbericht der Kinderkardiologie des Klinikums der Universität M1 vom 01.01.2024 berücksichtigt, aus dem sich eine gute Transplantationsfunktion des Herzens und eine stabile Nierenfunktion ergibt.
Der Kläger bzw. seine Mutter hat zur Begutachtung von K1 das Gutachten der E1 vom 06.06.2023 mitgebracht, dass diese im Auftrag des Amtsgerichtes B1 - Betreuungsgericht - erstattet hatte.
Auf Anforderung des SG hat der Kläger sodann das Gutachten von E1 vom 06.06.2023 (Bl. 143 ff. SG-Akte) übersandt. In ihrem Gutachten hat E1 nach Untersuchung des Klägers am 31.05.2023 ausgeführt (vgl. Bl. 147 SG-Akte), dass beim Kläger infolge der Herztransplantation im Säuglingsalter sowie der stattgehabten epileptischen Anfälle aktuell eine Entwicklungsverzögerung mit leichter Intelligenzminderung und Lernbehinderung sowie kognitiven Einbußen vorliege. Seine intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten seien beeinträchtigt. Sein Denken sei einfach strukturiert, mit verminderten Abstraktionsvermögen, verminderter Fähigkeit komplexe Zusammenhänge und Sachverhalte zu verstehen, mit verminderter Kritikfähigkeit und Urteilsschwäche. Er habe Defizite bei den grundlegenden Bildungsfertigkeiten, könne nur eingeschränkt lesen und schreibe nur seinen Namen. Rechnen könne er Addition, Subtraktion und Multiplikation im Zahlenraum bis 100 langsam und nur mit Fehlern. Bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (Mobilität, Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Besorgungen) brauche er die Hilfestellung und Anleitung der Eltern. Er könne mit Geldbeträgen nicht umgehen und habe kein Summenverständnis.
Sodann hat das SG E1 von Amts wegen zur gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage im hiesigen Verfahren beauftragt. E1 hat in ihrem Gutachten vom 18.05.2024 (Bl. 159 ff. SG-Akte) ausgeführt, dass sie unter Berücksichtigung der von ihr bei der gutachterlichen Untersuchung des Klägers am 31.05.2023 erhobenen Befunde Tätigkeiten des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt allein aufgrund der kognitiven und psychomotorischen Einschränkungen für dauerhaft ausgeschlossen erachte. Der Kläger sei nicht in der Lage, Handlungsabläufe, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfordert würden, vollumfänglich zu erwerben und auszuführen. Er werde dauerhaft schon bei einfachen Aufgaben immer Anleitungen, Unterstützung und Korrekturen benötigen (schon allein durch die fehlenden Bildungsfertigkeiten die, trotz Förderschule, nicht mehr wesentlich zu bessern seien). Zudem sei er aufgrund seiner körperlichen Erkrankungen und Einschränkungen nur gering und nicht dauerhaft belastbar. Wesentliche Besserungen seien nicht zu erwarten. Entsprechende Behandlungen zur Minderung seiner Beeinträchtigungen seien bereits erfolgt und erfolgten weiter, dennoch seien dadurch keine wesentlichen Besserungen zu erwarten, die seine Leistungsfähigkeit erhöhen könnten. Lediglich in Teilbereichen könne die Selbständigkeit des Klägers in Alltagskompetenzen noch gefördert werden. Die kognitiven Einschränkungen des Klägers würden aber dauerhaft bestehen bleiben.
Mit Gerichtsbescheid vom 21.06.2024 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII zu gewähren und dem Beklagten die Tragung der außergerichtlichen Kosten auferlegt.
Gegenstand des Verfahrens sei der Bescheid des Beklagten vom 21.06.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.08.2023, mit dem der Beklagte die Gewährung von Grundsicherung nach den §§ 41 ff. SGB XII abgelehnt habe, weil nach der ihn gemäß § 45 Satz 2 SGB XII bindenden Feststellung des Rentenversicherungsträgers beim Kläger keine dauerhaft volle Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) vorliege. Richtige Klageart sei die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach folgender Maßgabe: Da der Beklagte den Kläger schon dem Grunde nach nicht dem für Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII leistungsberechtigten Personenkreis zuordnen habe können, habe sich im Verwaltungsverfahren die Prüfung einer Hilfebedürftigkeit des Klägers als weiterer Leistungsvoraussetzung erübrigt. Hierüber sei auch im Klageverfahren nicht gestritten worden, vielmehr sinngemäß vom Kläger eine Verurteilung des Beklagten dem Grunde nach gemäß § 130 Abs. 1 SGG beantragt worden.
Die Klage sei begründet. Der Beklagte sei dem Grunde nach zur Gewährung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu verurteilen. Die Prüfung der Hilfebedürftigkeit sei nun nachzuholen. Rechtsgrundlage der Entscheidung sei § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII. Danach seien Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI seien und bei denen unwahrscheinlich sei, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden könne und die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen bestreiten könnten, leistungsberechtigt. Eine volle Erwerbminderung nach § 43 SGB VI liege bei einem auf nicht absehbare Zeit auf unter drei Stunden täglich abgesunkenen beruflichen Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt – also nicht im geschützten Bereich – vor.
Die Kammer sei – unter Außerachtlassung der Hilfebedürftigkeit – überzeugt, dass die genannten Leistungsvoraussetzungen vorlägen. Der Kläger habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Er sei über 18 Jahre alt. Gestützt auf das Gutachten von E1 sei die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger nicht nur aktuell, sondern dauerhaft nicht in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Tätigkeit von mindestens drei Stunden täglich zu verrichten. Beim Kläger lägen erhebliche kognitive Defizite vor, die dauerhaft bestehen bleiben würden. Für die Kammer sei angesichts der Tragweite der festgestellten Defizite nicht nachvollziehbar, wie von Seiten des Rentenversicherungsträgers die Prognose gestellt habe werden können, dass eine rentenrelevante Besserung des Zustands des Klägers nicht unwahrscheinlich und der weitere Verlauf abzuwarten sei. Die gut nachvollziehbare, gegenteilige Auffassung von E1 decke sich zudem mit der Einschätzung des aktuellen Sonderschullehrers des Klägers, bei dem die Kammer aufgrund seiner ständigen Kontakte mit dem Kläger eine hohe Beurteilungskompetenz sehe. Es sei zu betonen, dass der Beklagte von der Auffassung des Rentenversicherungsträgers kraft Gesetzes nicht habe abweichend dürfen. Für das Gericht bestehe die Bindungswirkung des § 45 Abs. 1 Satz 2 SGB XII jedoch nicht (unter Verweis auf Hauck/Noftz, SGB XII, Stand 5. EL 2023, § 45 Rn. 24). Die Kostenentscheidung beruhe auf § 193 SGG. Obwohl der Beklagte aufgrund der ihn treffenden Bindungswirkung nicht aus eigener Entscheidung Anlass zur Klage gegeben habe, seien ihm wegen des Obsiegens des Klägers dessen außergerichtliche Kosten dennoch aufzuerlegen.
Der Beklagte hat am 26.06.2024 gegen den ihm am 25.06.2024 zugestellten Gerichtsbescheid Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung vorgetragen, dass, nachdem der Kläger 2004 geboren und heute 20 Jahre alt sei, § 41 Abs. 2 SGB XII hier nicht zum Tragen komme, da dieser Absatz den Personenkreis für Grundsicherungsleistungen im Alter regele. Der Leistungsanspruch des Klägers sei deshalb nach § 41 Abs. 3 und 3a SGB XII festzustellen. Die Feststellung, ob eine dauerhafte volle Erwerbsminderung vorliegt, erfolge gemäß § 45 SGB XII durch den zuständigen Rentenversicherungsträger, wenn der Träger der Sozialhilfe diese für wahrscheinlich halte und ein Ersuchen an den Rentenversicherungsträger nicht entbehrlich sei. So bedürfe es bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 41 Abs. 3a SGB XII und bei Vorliegen der Ausnahmetatbestände des § 45 Satz 3 oder 4 SGB XII keines Ersuchens an den Rentenversicherungsträger und damit auch keiner Prüfung der Voraussetzungen des Absatzes 3. Der Kläger erfülle weder die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3a SGB XII noch der Ausnahmetatbestände des § 45 Satz 3 oder 4 SGB XII, da er weder im Eingangs-, Berufsbildungs- noch Arbeitsbereich einer Werkstatt für Behinderte arbeite und in keinem Ausbildungsverhältnis stehe, für das er ein Budget für Ausbildung nach § 61 SGB IX erhalte. Der Rentenversicherungsträger habe im vorliegenden Fall eindeutig festgestellt, dass die in § 41 Abs. 3 SGB XII geforderte volle dauerhafte Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI beim Kläger nicht vorliege. Nach § 45 Satz 2 SGB XII sei die Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung bindend für den ersuchenden Träger, der für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständig sei. Das fachärztliche Gutachten von E1 vom 18.05.2024 ersetze oder beseitige die Feststellung des Rentenversicherungsträgers nicht, da dies weder in § 41 SGB XII noch in § 45 SGB XII so vorgesehen sei. Der Rentenversicherungsträger könne seine Entscheidung auf fachärztliche Gutachten stützen, jedoch sei vom Gesetzgeber nicht vorgesehen, dass fachärztliche Gutachten „über den Feststellungen des Rentenversicherungsträgers seien“ und diese sogar beseitigen oder verändern würden. So sei nach wie vor das Ersuchen des Rentenversicherungsträgers vom 05.06.2023 für die Beurteilung, ob der Kläger zum grundsicherungsberechtigten Personenkreis gehöre oder nicht, allein maßgebend.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.06.2024 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Er verweist auf die angefochtene Entscheidung des SG.
Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 02.10. und 10.10.2024 ihr Einverständnis mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung erteilt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die bei der Beklagten geführte Verwaltungsakte, die Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind, ausdrücklich Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Beklagten, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das SG hat den Beklagten auf die statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG) des Klägers zu Recht unter Aufhebung des Bescheides vom 21.06.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023 dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 SGG) verurteilt, Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII zu gewähren. Denn der Bescheid des Beklagten vom 21.06.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, da er Leistungsberechtigter im Sinne des § 19 Abs. 2 SGB XII i.V.m. von § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII i.V.m. § 43 Abs. 2 SGB VI ist und daher dem Grunde nach Anspruch auf diese Leistungen hat.
Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII (in der seit 01.01.2020 geltenden Fassung) ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII (65 Jahre plus) erreicht haben – was hier offensichtlich nicht der Fall ist – oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gehen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII vor (§ 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII).
Nach § 41 Abs. 1 SGB XII (in der seit 01.07.2021 geltenden Fassung) sind leistungsberechtigt nach dem 4. Kapitel, Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen bestreiten können, wenn sie die Voraussetzungen nach Absatz 3 oder 3a (Abs. 2 ist hier offensichtlich wegen Nichterreichens der Altersgrenze von 65 Jahren plus nicht erfüllt) erfüllen.
Nach § 41 Abs. 3 SGB XII sind leistungsberechtigt Personen nach § 41 Abs. 1 SGB XII wegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann.
Voll erwerbsgemindert i.S.d. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ist voll erwerbsgemindert auch, 1. ein nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI Versicherter, der wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann, und 2. ein nach dem SGB VI Versicherter, der bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert war, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Versicherungspflichtig i.S.d. zuvor genannten § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI sind behinderte Menschen, die a) in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen oder in Blindenwerkstätten im Sinne des § 226 Sozialgesetzbuch Neuntes Buches (SGB IX) oder für diese Einrichtungen in Heimarbeit oder bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 SGB IX tätig sind, b) in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen in gewisser Regelmäßigkeit eine Leistung erbringen, die einem Fünftel der Leistung eines voll erwerbsfähigen Beschäftigten in gleichartiger Beschäftigung entspricht; hierzu zählen auch Dienstleistungen für den Träger der Einrichtung.
Das SG hat in den Gründen der angefochtenen Entscheidung zutreffend die rechtlichen Grundlagen dargelegt und gestützt auf das Gutachten von E1 ausgeführt und begründet, dass und warum der Kläger zum leistungsberechtigten Personenkreis der dauerhaft voll erwerbsgeminderten volljährigen Personen im Sinne des § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII i.V.m. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI gehört.
Der Senat schließt sich daher der Begründung des SG nach eigener Prüfung uneingeschränkt an, sieht deshalb insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung gemäß § 153 Abs. 2 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.
Soweit der Beklagte mit seiner Berufung weiterhin und ausschließlich seine Bindung an die Feststellung des Rentenversicherungsträgers geltend gemacht hat, ist ergänzend Folgendes auszuführen:
Nach § 45 Satz 1 SGB XII (in der 01.01.2020 geltenden Fassung) ersucht der jeweils für die Ausführung des Gesetzes nach dem 4. Kapitel des SGB XII zuständige Träger den nach § 109a Abs. 2 SGB VI zuständigen Träger der Rentenversicherung, die medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII zu prüfen, wenn es auf Grund der Angaben und Nachweise des Leistungsberechtigten als wahrscheinlich erscheint, dass diese erfüllt sind und das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt vollständig zu decken. Nach § 45 Satz 2 SGB XII ist die Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung bindend für den ersuchenden Träger, der für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständig ist; dies gilt auch für eine Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung nach § 109a Abs. 3 SGB VI. Nach § 45 Satz 3 SGB XII erfolgt ein Ersuchen nach Satz 1 nicht, wenn 1. ein Träger der Rentenversicherung bereits die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII im Rahmen eines Antrags auf eine Rente wegen Erwerbsminderung festgestellt hat, 2. ein Träger der Rentenversicherung bereits nach § 109a Abs. 2 und 3 SGB VI eine gutachterliche Stellungnahme abgegeben hat, 3. Personen in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) das Eingangsverfahren oder den Berufsbildungsbereich durchlaufen oder im Arbeitsbereich beschäftigt sind oder 4. der Fachausschuss einer Werkstatt für behinderte Menschen über die Aufnahme in eine Werkstatt oder Einrichtung eine Stellungnahme nach den §§ 2 und 3 der Werkstättenverordnung abgegeben und dabei festgestellt hat, dass ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht vorliegt.
Hier kommt allein eine Erwerbsminderung des Klägers nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI in Betracht, da der schwerbehinderte Kläger (GdB 100, Nachteilsausgleiche G, aG, H und B) weder bei Antragstellung noch aktuell in einer anerkannten WfbM oder bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 SGB IX tätig war/ist und auch nicht in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen in gewisser Regelmäßigkeit eine Leistung erbrachte/erbringt, mithin die Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht erfüllt waren/sind. Er besucht seit Antragstellung bis aktuell eine sonderpädagogische Schule in der differenzierten Berufsschulstufe.
Der Beklagte, der selbst von einer Hilfebedürftigkeit des Klägers ausging (vgl. die Ausführungen im Bescheid vom 21.06.2023), ersuchte den zuständigen Rentenversicherungsträger mit Schreiben vom 10.05.2023, woraufhin die Feststellung des Rentenversicherungsträgers vom 05.06.2023 erfolgte, dass der Kläger zwar seit Geburt (!) voll erwerbsgemindert sei, aber nicht auf Dauer, sondern eine Besserung innerhalb der nächsten drei Jahre nicht unwahrscheinlich sei. Auf der Grundlage dieser, den Beklagten gem. § 45 Satz 2 SGB XII bindenden Feststellung, musste der Beklagte konsequenterweise davon ausgehen, dass beim Kläger keine dauerhafte volle Erwerbsminderung i.S.d. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI vorliegt und er daher nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis i.S.d. § 41 Abs. 1 und Abs. 3 SGB XII gehört.
Indes verkennt der Beklagte, dass die Bindungswirkung nach § 45 Satz 2 SGB XII ausschließlich für den Sozialhilfeträger und gerade nicht für die Gerichte besteht. Dies hat bereits das SG zutreffend in der angefochtenen Entscheidung unter Verweis auf entsprechende Kommentarliteratur klargestellt. Der Senat verweist in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23.03.2010 (B 8 SO 17/09 R, juris Rn. 16), in dem das BSG zur Frage der Bindungswirkung an eine Stellungnahme des Fachausschusses der WfbM i.S.d. § 45 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 SGB XII in der bis 31.12.2008 geltenden Fassung, der wortgleich dem seit 01.01.2020 geltenden § 45 Satz 3 Nr. 4 SGB XII entspricht, ausgeführt hat:
„Ob und in welchem Umfang der Sozialhilfeträger - entsprechend § 45 Abs. 1 Satz 2 SGB XII - an die Stellungnahme des Fachausschusses gebunden ist, muss hier nicht entschieden werden. Eine Bindung des Gerichts ergibt sich keinesfalls - weder rechtlich noch tatsächlich; dies gilt ebenso für eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers, die auf Ersuchen des Sozialhilfeträgers ergangen ist und (nur) letzteren bindet. Denn wenn ein Antragsteller entgegen der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers, die zur Ablehnung von Leistungen nach §§ 41 ff SGB XII geführt hat, geltend macht, er sei auf Dauer erwerbsgemindert, müssen die Gerichte die verminderte Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes auch in vollem Umfang von Amts wegen selbst überprüfen können.“
Dass für die Gerichte auch in sozialhilferechtlichen Streitigkeiten nach dem 4. Kapitel des SGB XII keine Bindung an Feststellungen des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsminderung besteht, ist jedenfalls seitdem ständige Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile vom 09.06.2011 - B 8 SO 1/10 R -, juris Rn. 19; vom 25.04.2013 - B 8 SO 21/11 R -, juris Rn. 15, vom 25.04.2018 - B 8 SO 20/16 R -, juris Rn. 15; vom 19.05.2022 - B 8 SO 1/21 R -, juris Rn. 13). Gleichgültig, ob die Behörde ein Verfahren nach § 45 SGB XII zur Feststellung der dauerhaften Erwerbsminderung einleitet und abgeschlossen hat, haben das SG bzw. das LSG unabhängig von der Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung die verminderte Erwerbsfähigkeit selbst und umfassend von Amts wegen zu überprüfen und ggf. Beweis zu erheben. Die in § 45 SGB XII vorgesehene Bindung an die "Entscheidung" des Rentenversicherungsträgers trifft nämlich nur die Verwaltung, nicht die Gerichte (BSG, Urteil vom 25.04.2013 - B 8 SO 21/11 R -, juris Rn. 15).
Dieser Ermittlungspflicht ist bereits das SG im Klageverfahren vollumfassend nachgekommen. Auf das Ergebnis seiner Ermittlungen gestützt, hat es für den Senat überzeugend dargelegt, dass und warum der Kläger – unabhängig von der Arbeitsmarktlage – dauerhaft voll erwerbsgemindert i.S.d. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist und die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers nicht zu überzeugen vermag.
Eine volle Erwerbsminderung i.S.d. § 43 Abs. 2 SGB VI ist dauerhaft, wenn unwahrscheinlich ist, dass die volle Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann (vgl. § 41 Abs. 3 SGB XII und im Übrigen auch § 102 Abs. 2 Satz 5 Hs. 1 SGB VI).
Der Senat stellt fest, dass bei dem Kläger eine Entwicklungsverzögerung mit leichter Intelligenzminderung und Lernbehinderung sowie kognitiven Einbußen, mithin eine Beeinträchtigung seiner intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten vorliegt. Diese stellen sich insbesondere in Form eines einfach strukturierten Denkens, eines verminderten Abstraktionsvermögens, einer verminderten Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge und Sachverhalte zu verstehen und einer verminderten Kritikfähigkeit und Urteilsschwäche dar ebenso wie in Defiziten bei den grundlegenden Bildungsfertigkeiten in Form einer nur eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeit (schreibt nur seinen Namen) und in Form der nur langsamen und fehlerbehafteten Rechenfähigkeit (Addition, Subtraktion und Multiplikation) im Zahlenraum bis 100. Auch benötigt der Kläger bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (Mobilität, Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Besorgungen) die Hilfestellung und Anleitung der Eltern. Zudem kann er nicht mit Geldbeträgen umgehen und hat kein Summenverständnis.
Diese Feststellungen stützt der Senat, ebenso wie das SG, auf das Sachverständigengutachten von E1 vom 18.05.2024, die unter Heranziehung der von ihr bei der für das Betreuungsgericht gutachterlich erfolgten Untersuchung des Klägers am 31.05.2023 erhobenen Befunde, die sie wiederum in ihrem Gutachten vom 06.06.2023 dargelegt hat und das der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (vgl. BSG, Beschluss vom 14.11.2013 - B 9 SB 10/13 B -, juris Rn. 6; BSG, Urteil vom 05.02.2008 - B 2 U 8/07 R - juris Rn. 51) sowie der ihr damals vorliegenden Befundunterlagen diese Gesundheitsstörungen – hier gar in Form von Behinderungen – für den Senat schlüssig und nachvollziehbar dargelegt hat.
Diese Behinderungen bedingen zur Überzeugung des Senats ein Leistungsvermögen, das – soweit im Übrigen auch nach den Feststellungen des Rentenversicherungsträgers – seit Geburt des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter drei Stunden abgesunken ist und das zur Überzeugung des Senats auch nicht mehr behoben werden kann. Denn wie E1 in ihrem Sachverständigengutachten vom 18.05.2024 für den Senat schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt hat (Seite 3 des Gutachtens, Bl. 161 SG-Akte), ist der Kläger nicht in der Lage, Handlungsabläufe, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfordert werden, vollumfänglich zu erwerben und auszuführen; er wird dauerhaft schon bei einfachen Aufgaben immer Anleitungen, Unterstützung und Korrekturen benötigen und er ist aufgrund seiner körperlichen Erkrankungen und Einschränkungen nur gering und nicht dauerhaft belastbar. Auch ist, wie E1 nachvollziehbar ausgeführt hat, von einer Besserung der kognitiven Einschränkungen angesichts der seit seiner Geburt erfolgenden medizinischen und therapeutischen Behandlungen sowie der sonderschulischen Förderung nicht auszugehen; allenfalls kann in Teilbereichen die Selbstständigkeit des Klägers in Alltagskompetenzen noch gefördert werden.
Damit hat E1 auch für den Senat schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass und warum der Kläger voll erwerbsgemindert i.S.d. § 43 Abs. 2 SGB VI ist und dass und warum diese Erwerbsminderung dauerhaft, mithin eine Besserung i.S.d. der Behebung der Erwerbsminderung unwahrscheinlich ist.
Die Einschätzung von E1 wird im Übrigen auch von dem Sonderschullehrer S2 in seiner Stellungnahme vom 13.11.2023 geteilt, wonach eine Erwerbsfähigkeit des Klägers auf dem ersten Arbeitsmarkt aufgrund der kognitiven Defizite nicht gesehen wird.
Nach alledem gehört der Kläger zum Personenkreis, der Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) beanspruchen kann, weshalb der Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen war, dem Kläger diese Leistungen zu gewähren. Der Beklagte wird daher nach Rechtskraft des Urteils den Leistungsanspruch des Klägers der Höhe nach zu prüfen und den Antrag des Klägers zu verbescheiden haben.
Nach alledem war die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.