L 4 AS 24/23

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 4 AS 550/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 4 AS 24/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Soweit ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II an ein Verhalten anknüpft, das bereits mit einer Minderung nach den §§ 31a und 31b SGB II sanktioniert worden ist, kommt (nur) in einem besonderen Ausnahmefall zusätzlich ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II in Betracht, wenn die in den Tatbeständen des § 31 SGB II ausgedrückten Verhaltenserwartungen aus Sicht der Solidargemeinschaft in einem besonders hohen Maß verletzt worden sind. 2. Im Fall des grob fahrlässigen Herbeiführens von Hilfebedürftigkeit muss für die Annahme von Sozialwidrigkeit hinzukommen, dass das zur Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen führende Verhalten in vergleichbarer Weise zu missbilligen ist wie eines, das auf die Inanspruchnahme von Leistungen ausdrücklich angelegt ist. 3. Die vollständige Ermittlung der Umstände des Einzelfalls ist nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 20 SGB X Aufgabe des Jobcenters im Verwaltungsverfah-ren. Fehlt es daran, sind die notwendigen Ermittlungen ungeachtet des Untersuchungsgrundsatzes im gerichtlichen Verfahren (§ 103 SGG) einer reinen Anfech-tungsklage nur eingeschränkt - bis zu Grenze der Wesensveränderung des angegriffenen Bescheids - nachholbar (vgl BSG, Urt v 29. August 2019, B 14 AS 49/18 R, juris RN 29; BSG, Urt v 25. Juni 2015, B 14 AS 30/14 R, juris RN 23). 4. Fehlen im angegriffenen Bescheid die erforderlichen Feststellungen zum Fehlverhalten und zu der Motivation, darf das Gericht die Ermittlung der Umstände des Einzelfalls nicht vollständig nachholen und erstmals die Grundlagen für eine Rechtmäßigkeit des Bescheids legen, weil dies zu einer Wesensänderung des Verwaltungsakts führte, die mit dem Gewaltenteilungsprinzip nicht zu vereinbaren ist.

Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 14. Dezember 2022 und der Bescheid des Beklagten vom 17. Januar 2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 31. Mai 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Juni 2019 werden aufgehoben.

Der Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge und das Vorverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger und Berufungskläger (im Weiteren: Kläger) wendet sich gegen die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 Zweites Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) durch den Beklagten und Berufungsbeklagten (im Weiteren: Beklagter).

Der 1976 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger. Nach dem Erwerb der Mittleren Reife studierte er im Studiengang Fachtierarzt an der Landwirtschaftlichen Akademie K. Der Kläger ist verheiratet und hat drei Kinder. Der Abschluss wurde in Deutschland nicht als gleichwertig anerkannt. Seine 1978 geborene Ehefrau stammt ebenfalls aus K. und ist – wie die gemeinsamen 1998, 2000 und 2005 geborenen Kinder – deutsche Staatsangehörige. Zwischen 2000 und 2005 siedelte die damals vierköpfige Familie nach Deutschland über und bezog bis Januar 2010 SGB II-Leistungen. Seit Dezember 2012 bewohnte die Familie ein Eigenheim in J., für das monatliche Raten von 300 € für ein Annuitätendarlehen über 50.000 € zu zahlen waren.

Von Dezember 2009 bis Ende Juni 2016 stand der Kläger in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis als Mitarbeiter der Tierproduktion/Besamer bei der Firma S. Bio und Agrotechnik GmbH (im Weiteren: Arbeitgeber) in J. Daraus erzielte er ein wechselndes Einkommen, das von Mai 2015 bis April 2016 zwischen 1.100 und 1.500 € (durchschnittlich 1.302 €) lag.

Am 30. Juni 2016 stellte der Kläger beim Beklagten einen SGB II-Leistungsantrag für die Zeit ab dem 1. Juli 2016 für sich und seine Familie. Er gab an, seine Ehefrau und er seien arbeitslos, die beiden älteren Kinder arbeitsuchend und die jüngere Tochter sei Schülerin. Zu den Gründen der Antragstellung führte er schriftlich aus: „um Sperrzeit von Arbeitslosengeld I überleben, brauchen wir Leistung, weiter sicher zu leben, damit Unterkunft von meiner Familie gesichert wird.“ Aktuell bezögen sie Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld (Lastenzuschuss). Er legte einen Bewilligungsbescheid der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit M. (im Weiteren: BA) vor. Danach wurde für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 22. September 2016 wegen einer Sperrzeit kein Arbeitslosengeld I (Alg I) bewilligt. Für den Zeitraum vom 23. September 2016 bis zum 22. Juni 2017 betrug der tägliche Leistungsbetrag 27,11 € (813,30 € monatlich). Die Familienkasse Sachsen-Anhalt-Thüringen bewilligte der Ehefrau des Klägers mit Bescheid vom 22. Juni 2016 Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz (BKGG) von 415 € monatlich für die Zeit von März bis Juni 2016 sowie von 475 € monatlich für Juli bis August 2016.

Bei seiner Vorsprache beim Beklagten am 19. Juli 2016 erklärte der Kläger, er wolle sich über die Gründe, die zur Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses geführt hätten, ausdrücklich nicht äußern, da ihm dies äußerst unangenehm sei. Es bestünden Vermittlungshemmnisse in Form von gesundheitlichen Einschränkungen. Er müsse sich um seine Ehefrau kümmern, die seit zwei Jahren erkrankt sei.

Auf Nachfrage teilte die Lohnbuchhaltung des Arbeitgebers dem Beklagten am 4. August 2016 mit, der Lohn für Mai und Juni 2016 sei aufgrund eines Vorfalls nicht an den Kläger ausgezahlt worden.

Mit Bescheid vom 4. August 2016 minderte der Beklagte für die Monate von Juli bis September 2016 den SGB II-Leistungsanspruch des Klägers um monatlich 30% des maßgeblichen Regelbedarfs (109,20 €). Zur Begründung führte er aus, die BA habe eine Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe festgestellt. Es liege eine Pflichtverletzung vor.

Mit Bescheid vom selben Tag bewilligte der Beklagte den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft SGB II-Leistungen in Höhe von monatlich insgesamt 665,00 € für Juni 2016, 555,80 € für Juli und August 2016, 875,05 € für September 2016, 311,82 € für Oktober und November 2016, 355,03 € für Dezember 2016 und 359,83 € für Januar bis Mai 2017.

Im November 2016 nahm der Kläger eine Beschäftigung als Lagerarbeiter mit einer monatlichen Arbeitszeit zwischen 10 und 15 Stunden auf, mit der bis Januar 2017 Nettolöhne von unter 100 € erzielte. Daraufhin erlies der Beklagte Änderungsbescheide vom 5. Dezember 2016, 9. und 29. Mai 2017. Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 26. Juni 2017 hob der Beklagte seine Leistungsgewährung für Dezember 2016 aufgrund der Erzielung von Einkommen teilweise gegenüber dem Kläger und den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft teilweise auf und forderte eine Erstattung.

Nach Ablauf des Bewilligungszeitraums stellte der Kläger keinen Leistungsantrag mehr.

Bereits mit Schreiben vom 8. Dezember 2016 hatte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Geltendmachung eines Ersatzanspruchs bei sozialwidrigem Verhalten nach § 34 SGB II angehört und ausgeführt, der Kläger habe seine Hilfebedürftigkeit möglicherweise vorsätzlich oder grob fahrlässig und ohne wichtigen Grund herbeigeführt. Er habe durch eine besonders schwerwiegende Verletzung seiner Sorgfaltspflichten den Arbeitsplatz verloren und sei durch den Einkommensverlust hilfebedürftig geworden. Bislang seien im Zeitraum von Juni bis Dezember 2016 insgesamt 6.658,96 € an Leistungen für den Kläger und seine Familie aufgewandt worden, die dann zu erstatten seien. Durch den weiteren Leistungsbezug könne sich der Ersatzanspruch noch erhöhen. Von dessen Geltendmachung könne abgesehen werden, wenn dies eine Härte für den Kläger bedeute. Eine solche liege beispielsweise dann vor, wenn bereits eine geringe Ratenzahlung die Existenz des Klägers unabhängig von SGB II-Leistungen ernsthaft gefährde. Der Kläger erhalte Gelegenheit, sich bis zum 10. Januar 2017 zum Sachverhalt zu äußern. Er werde gebeten, ausführlich die Umstände darzulegen, die ihn zu seinem Verhalten bewegt hätten.

Daraufhin meldete sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers und führte aus, dem Kläger sei nicht klar, welches Vorkommnis der Beklagte anspreche. Nach dem Kündigungsschreiben des Arbeitgebers vom 28. April 2016 sei das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß und fristgerecht zum Ablauf des 30. Juni 2016 beendet worden. Der Kläger sei beim Beklagten bereits vorstellig geworden und habe den Sachverhalt dargelegt. Dieser habe ihn von Juli bis September 2016 sanktioniert. Auch die durch die BA verhängte Sperrfrist sei dem Beklagten bekannt.

Am 21. Februar 2017 gingen beim Beklagten Unterlagen aus den Verwaltungsakten der BA, u.a. die Verdienstbescheinigung für den Zeitraum von Mai 2015 bis April 2016 und der Sperrzeitbescheid, ein. Aus der Arbeitsbescheinigung nach § 312 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III) ergab sich eine Kündigung durch den Arbeitgeber vom 30. April 2016 zum 30. Juni 2016. Es habe sich nicht um eine betriebsbedingte Kündigung gehandelt. Es sei nach der Kündigung ein Abwicklungsvertrag geschlossen worden. Die Frage, ob ein vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers Anlass der Kündigung gewesen sei, hatte der Arbeitgeber im Formular nicht beantwortet.

Daraufhin richtete der Beklagte am 23. Februar 2017 ein schriftliches Auskunftsersuchen an den Arbeitgeber und bat um detaillierte Angabe der Gründe für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses und um Überlassung von Kopien von Arbeitsvertrag, Kündigung und Abwicklungsvertrag. Es werde um Mitteilung gebeten, ob für die Monate Mai und Juni 2016 tatsächlich kein Arbeitsentgelt gezahlt worden sei. Letzteres bestätigte der Arbeitgeber unter dem 17. März 2017 und erklärte, die Kündigungsgründe ergäben sich aus den beigefügten Unterlagen.

Die vom Kläger und dem Arbeitgeber unterschriebene „Außergerichtliche Abwicklungsvereinbarung“ vom 28. April 2016 hat folgenden Inhalt:

„1.   Die Parteien sind sich einig darüber, dass das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund der am 28.04.2016 übergebenen Kündigung des Arbeitgebers vom 28.04.2016 mit Ablauf des 30.06.2016 enden wird.

 2.  Der Arbeitnehmer wird bis zum 30.06.2016 von seinen arbeitsvertraglichen Pflichten freigestellt und ordnungsgemäß abgerechnet. Der Arbeitnehmer erklärt, dass er keine weiteren Urlaubsansprüche hat, da diese in natura abgegolten sind.

Der Arbeitnehmer verzichtet auf die Auszahlung der Nettolohnentgelte für die Monate Mai und Juni 2016, insbesondere im Zusammenhang mit dem von ihm verursachten Schaden.

Mit der Unterzeichnung dieser Vereinbarung verzichtet der Arbeitnehmer auf Erhebung einer Kündigungsschutzklage.

Die Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass der Arbeitgeber auf das Erheben einer Anzeige, wegen Diebstahl von Diesel, im Gegenzug verzichtet.

Mit der Erfüllung dieser Vereinbarung sind alle gegenseitigen Ansprüche der Parteien abgegolten.“

Mit Bescheid vom 17. Januar 2019 stellt der Beklagte fest, der Kläger sei gemäß § 34 SGB II zum Ersatz der ihm und den Mitgliedern seiner Bedarfsgemeinschaft im Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis zum 31. Mai 2017 erbrachten SGB II-Leistungen in Höhe von insgesamt 9.654,71 € verpflichtet. Denn er habe seine Hilfebedürftigkeit und die seiner Familie herbeigeführt, indem er seine beruflichen Pflichten besonders schwer verletzt und dadurch seinen Arbeitsplatz und das existenzsichernde Einkommen verloren habe. Zuvor habe er mit dem Erwerbseinkommen von durchschnittlich 1.300 € netto, dem Kinderzuschlag und dem Kindergeld den Gesamtbedarf seiner Familie selbst bestreiten können und sei seit Februar 2010 nicht auf SGB II-Leistungen angewiesen gewesen. Die BA habe eine Sperrzeit wegen der Arbeitsaufgabe verhängt und im Sperrzeitbescheid ausgeführt, dass zwar formal eine Kündigung durch den Arbeitgeber ausgesprochen worden sei, tatsächlich aber ein Abwicklungsvertrag geschlossen worden sei. Grund für die Kündigung sei ein vertragswidriges Verhalten des Klägers gewesen, das dieser im Abwicklungsvertrag eingeräumt habe. Denn nach dessen Inhalt habe er wegen des von ihm verursachten Schadens auf die Auszahlung des Lohns für Mai und Juni 2016 verzichtet. Im Gegenzug habe der Arbeitgeber von einer Strafanzeige wegen des Diebstahls von Diesel abgesehen. Dem Kläger sei vom Arbeitgeber ein – angesichts des Lohnverzichts – nicht nur geringfügiger Diebstahl nachgewiesen worden, der eine erhebliche Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten darstelle und das Vertrauensverhältnis zerstört habe. Der Kläger habe gewusst, dass ein Diebstahl widerrechtlich sei und zur Kündigung führen könne. Diese Konsequenz habe er zumindest grob fahrlässig billigend in Kauf genommen. Er habe die Hilfebedürftigkeit und den Bezug von SGB II-Leistungen verschuldet. Das strafbare Verhalten, für das er keinen wichtigen Grund gehabt habe, sei als sozialwidrig anzusehen. Daher sei er gemäß § 34 SGB II zum Ersatz sämtlicher SGB II-Leistungen sowie der erbrachten Beiträge zur Sozialversicherung für sich und seine Familienangehörigen verpflichtet. Der Kausalzusammenhang für den Ersatzanspruch ende am 31. Mai 2016, denn danach hätten der Kläger und seine Familie keine SGB II-Leistungen mehr bezogen. Im Bescheid sind die monatlich gewährten Einzelleistungen differenziert nach Regelbedarf, KdUH und Beiträgen zur Kranken- sowie zur Pflegeversicherung für jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft aufgelistet. Der Gesamtbetrag von 9.654,71 € sei bis zum 8. Februar 2019 zu zahlen.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 25. Januar 2019 Widerspruch ein und wies darauf hin, er habe den Leistungsantrag erst für die Zeit ab dem 1. Juli 2016 gestellt. Im Übrigen habe er die Gründe für den Leistungsantrag mitgeteilt. Er sei bereits sanktioniert worden. Zum einen habe die BA eine Sperrzeit verhängt und zum anderen habe der Beklagte die Leistungen für drei Monate um 30% seines Regelbedarfs gemindert. Aufgrund seiner dem Beklagten bekannten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse stelle die Inanspruchnahme eine unbillige außerordentliche Härte dar. Er verstehe nicht, weshalb nun noch Leistungen für ein ganzes Jahr zurückgefordert würden.

Mit Änderungsbescheid vom 31. Mai 2019 begrenzte der Beklagte den Ersatzzeitraum auf den Zeitraum von Juli 2016 bis Mai 2017 und reduzierte den zu ersetzenden Betrag auf 8.779,33 €. Er wiederholte die Begründung des Ausgangsbescheids und ergänzte, für Juni 2016 werde kein Ersatzanspruch mehr geltend gemacht, weil der Kläger Leistungen erst ab dem 1. Juli 2016 beantragt habe. Eine besondere Härte sei nicht feststellbar. Da der Kläger im Juni 2017 eine neue Erwerbstätigkeit aufgenommen habe und keinen Weiterbewilligungsantrag gestellt habe, sei davon auszugehen, dass er den Lebensunterhalt seiner Familie seither vollständig aus eigenen Kräften und Mitteln habe bestreiten können.

Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Juni 2019 wies der Beklagte den Widerspruch im Übrigen zurück. Er führte aus, ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Ersatzanspruchs sei ein objektiv sozialwidriges Verhalten, das vorliege, wenn ein Tun oder Unterlassen, das nicht notwendigerweise rechtswidrig sein müsse, aus Sicht der Solidargemeinschaft der Steuerzahler zu missbilligen sei, den Lebenssachverhalt so verändere, dass SGB II-Leistungen zu gewähren seien. Der Kläger habe durch den Diebstahl seine Pflichten als Arbeitnehmer aus dem Arbeitsvertrag verletzt und das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber zerstört. Die Kündigung und der Wegfall des Erwerbseinkommens seien die Konsequenz des sozialwidrigen Verhaltens und ursächlich für den SGB II-Leistungsbezug gewesen. Das Verhalten des Klägers sei schuldhaft gewesen, denn ihm habe bewusst sein müssen, dass mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses neben dem Lohn auch der Kinderzuschlag entfalle. Ohne diese Einnahmen könne er seinen Lebensunterhalt und seine Wohnung nicht mehr finanzieren. Daher habe er bei seinem arbeitsvertragswidrigen Verhalten einen nachfolgenden SGB II-Leistungsbezug zumindest billigend und damit grob fahrlässig in Kauf genommen. Ein wichtiger Grund für das Fehlverhalten sei nicht vorgetragen oder ersichtlich. Die Geltendmachung des Ersatzanspruchs stelle keine Härte dar. Seit der Arbeitsaufnahme im Juni 2017 decke der Kläger den Bedarf seiner Familie wieder selbst.

Am 24. Juni 2019 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat er sein Vorbringen wiederholt.

Im Erörterungstermin des SG am 21. Juli 2021 sind keine weiteren Angaben des anwesenden Klägers protokolliert worden. Das SG hat darauf hingewiesen, ein Diebstahl sei regelmäßig als sozialwidriges Verhalten zu bewerten. Mangels Sachvortrags des Klägers ergäben sich keine Anhaltspunkte für einen atypischen Fall oder eine Härte.

In der Folge hat der Kläger ausgeführt, nach seiner Vorsprache im Juli 2016 habe ihn der Beklagte zu den Hintergründen des „Vorfalls“ nicht weiter befragt und ihm ein sozialwidriges Verhalten nicht vorgehalten. Er habe ihn insbesondere nicht darüber informiert, dass er mit weiteren Sanktionen zu rechnen habe, wenn er den tatsächlichen Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht angebe. Dadurch habe der Beklagte gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen. Er selbst habe sich seit dem Beginn des Leistungsbezugs um eine neue Arbeitsstelle bemüht, habe jedoch nur ortsnah suchen können, weil er sich um seine damals schwer erkrankte Ehefrau habe kümmern müssen, was dem Beklagten bekannt gewesen sei.

An der mündlichen Verhandlung des SG hat der Kläger nicht teilgenommen. Mit Urteil vom 14. Dezember 2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger habe die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB II-Leistungen grob fahrlässig herbeigeführt, indem er durch strafbares Verhalten einen Grund für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber und den Abschluss der Abwicklungsvereinbarung mit der Folge des Wegfalls seines Erwerbseinkommens gegeben habe. Zwar sei sein Fehlverhalten der Handlungstendenz nach nicht auf den Wegfall der Erwerbsmöglichkeit gerichtet gewesen. Gleichwohl widerspreche es den Wertungen des SGB II und sei als sozialwidrig anzusehen. Letztlich habe der Kläger den Verlust des Arbeitsplatzes grob fahrlässig herbeigeführt, denn er habe das nicht beachtet, was jedem hätte einleuchten müssen. Es hätte ihm klar sein müssen, dass sein Arbeitgeber einen Diebstahl nicht dulden und als Konsequenz das Arbeitsverhältnisses beenden würde. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nach seiner persönlichen Einsichts- und Urteilsfähigkeit nicht in der Lage gewesen sei, die Konsequenzen seines Handels zu überblicken. Er habe daher die im streitbefangenen Zeitraum gewährten Leistungen sowie die für die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft entrichteten Sozialversicherungsbeiträge zu erstatten. Die Berechnung des Beklagten sei nachvollziehbar und Rechenfehler seien nicht gerügt worden. Eine Härte im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II liege nicht vor. Bereits bei Erlass des Widerspruchsbescheids habe der Kläger keine SGB II-Leistungen mehr bezogen. Es sei daher nicht zu erwarten gewesen, dass er durch die Geltendmachung des Ersatzanspruchs wieder von SGB II-Leistungen abhängig werden würde. Entgegen seiner Auffassung bestehe auch keine „Mitverantwortung“ des Beklagten, denn dieser habe erst am 16. März 2017 nach Eingang der Unterlagen der BA und des Arbeitgebers vollständige Kenntnis vom Sachverhalt gehabt.

Gegen das ihm am 29. Dezember 2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. Januar 2023 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er sein Vorbringen wiederholt. Die Bewertung des SG, sein Verhalten sei sozialwidrig gewesen, sei zu überprüfen. Zudem bedeute die Inanspruchnahme aufgrund seiner dem Beklagten bekannten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse für ihn eine außerordentliche Härte.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 14. Dezember 2022 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17. Januar 2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 31. Mai 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Juni 2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seinen Bescheid für rechtmäßig und verweist auf die ihn überzeugenden Ausführungen des SG.

An der mündlichen Verhandlung des Senats hat der Kläger nicht teilgenommen und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Der notwendige Beschwerdewert von 750 € gemäß § 144 Abs. Satz 1 Nr. 1 SGG ist mit dem geltend gemachten Erstattungsbetrag überschritten.

Die Berufung ist auch begründet. Dem Beklagten steht der geltend gemachte Ersatzanspruch nicht zu, denn der Senat kann ein sozialwidriges Verhalten des Klägers nicht feststellen.

Streitgegenstand im Berufungsverfahren ist neben dem Urteil des SG vom 14. Dezember 2022 der Bescheid des Beklagten vom 17. Januar 2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 31. Mai 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Juni 2019, mit dem er den Kläger für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 31. Mai 2017 zum Ersatz erbrachter Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 8.779,33 € herangezogen hat. Dagegen wendet sich der Kläger zutreffend mit der Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG), denn mit einer Aufhebung des angegriffenen Bescheids ist sein Rechtsschutzziel erreicht.

In formeller Hinsicht ist der angegriffene Bescheid nicht zu beanstanden. Der Kläger ist mit Schreiben vom 18. Dezember 2016 – unter Bezifferung der bis dahin erbrachten SGB II-Leistungen – angehört worden (§ 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz [SGB X]).

Materiell ist die Anwendbarkeit des § 34 SGB II nicht deshalb gesperrt, weil der Beklagte wegen des dem Ersatzanspruch zugrundeliegenden Lebenssachverhalts und wegen der Verhängung einer Sperrzeit durch die BA bereits eine Pflichtverletzung des Klägers festgestellt und dessen SGB II-Leistungen für drei Monate gemindert hatte (Bescheid vom 4. August 2016). Denn weder die Verhängung einer Sperrzeit nach SGB III noch ein „Sanktionsbescheid" nach § 31a SGB II schließt eine an dasselbe Verhalten anknüpfende Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II aus. Eine solche Anwendungssperre lässt sich dem Wortlaut und der Systematik der gesetzlichen Regelungen nicht entnehmen.

Rechtsgrundlage für den Leistungsbescheid ist § 34 Abs. 1 SGB II in der seit dem 1. August 2016 geltenden Fassung durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016 (BGBl I 1824). Die Regelung findet Anwendung, obwohl das als sozialwidrig erachtete Verhalten des Klägers spätestens mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses am 30. Juni 2016 beendet war. Denn maßgeblich geht es um den Ersatz der für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 31. Mai 2017 erbrachten SGB II-Leistungen. Die Übergangsregelungen in § 80 SGB II enthalten keine abweichende Regelung. Unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2017, B 14 AS 3/16 R, juris RN 13 f.). Soweit man einer Rückanknüpfung darin sähe, dass es auch es um den Ersatz der Leistungen für Juli 2016 geht, ergäbe sich aus einer Anwendung von § 34 Abs.1 SGB II in der Vorgängerfassung keine Änderung für den vorliegenden Sachverhalt.

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist derjenige, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB II-Leistungen an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet. Als Herbeiführung gilt auch, wenn die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Sozialversicherung (§ 34 Abs. 1 Satz 5 SGB II). Von der Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde (§ 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II).

Nach der amtlichen Überschrift des § 34 SGB II ("bei sozialwidrigem Verhalten") setzt der Ersatzanspruch dem Grunde nach voraus, dass eine volljährige Person durch ein als sozialwidrig zu bewertendes Verhalten die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB II-Leistungen an sich und ggf. in Bedarfsgemeinschaft lebende weitere Personen vorsätzlich oder grob fahrlässig erstmals verursacht oder aufrechterhalten hat (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2017, a.a.O. RN 20 ff.). Mit der Formulierung in der Überschrift wird Bezug genommen auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu der bei der Einführung des SGB II übernommenen Regelung des früheren § 92a Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), die nahezu gleichlautend zu § 34 SGB II einen Kostenersatz vorsah, wenn ein schuldhaftes Verhalten zu Sozialhilfebezug führte. Nach der Auffassung des BVerwG (vgl. Urteil vom 10. April 2003, 5 C 4.02, juris RN 16 mit weiteren Nachweisen) war der Anwendungsbereich der Ersatzpflicht wegen der Herbeiführung der Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe auf einen "engen deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand" beschränkt. Danach war nicht entscheidend, ob ein im Sinne des Rechts der unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) rechtswidriges oder ein strafbares Verhalten vorlag. Der spezifisch sozialleistungsrechtliche Vorwurf der Sozialwidrigkeit liege nicht im Begehen einer Straftat, sondern sei darin begründet, dass der Betreffende in – im Sinne eines objektiven Unwerturteils – zu missbilligender Weise sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht habe, Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Ein Tun oder Unterlassen begründe einen Ersatzanspruch nach § 92a BSHG, wenn es aus der Sicht der Gesellschaft, die – was die Sicherstellung der Sozialhilfe angehe – eine Solidargemeinschaft darstelle, zu missbilligen sei.

Diese Auffassung hat das BSG in seine Rechtsprechung zu § 34 SGB II übernommen und erläuternd ausgeführt: Verwende der Betreffende etwa erzielte Einnahmen nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts und führe dadurch Hilfebedürftigkeit herbei, könne das einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II auslösen, wenn ihm grundsicherungsrechtlich ein anderes Ausgabeverhalten abverlangt werde. Einzubeziehen seien die im SGB II festgeschriebenen Wertmaßstäbe, die vorgäben, welches Verhalten als dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung zuwiderlaufend angesehen werde (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2020, B 14 AS 43/19 R, juris RN 13). Denn die Tatbestände des § 31 SGB II drückten aus Sicht des SGB II nicht zu billigende Verhaltensweisen aus, deren Verletzung Ersatzansprüche nach § 34 SGB II begründen könnten. Daraus folge jedoch nicht, dass jede Verwirklichung eines nach § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestands zugleich einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II begründe. Vielmehr stünden die Vorschriften in einem Stufenverhältnis: Soweit ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II an ein Verhalten anknüpfen solle, das schon Anlass für eine Leistungsminderung nach den §§ 31 ff SGB II gegeben habe, sei regelhaft mit einer Minderung nach den §§ 31a und 31b SGB II zu reagieren und (nur) in einem besonderen Ausnahmefall zusätzlich ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II geltend zu machen. Diesen kennzeichne, dass (deliktsähnlich) die in den Tatbeständen des § 31 SGB II ausgedrückten Verhaltenserwartungen in einem besonders hohen Maß verletzt worden seien (BSG, Urteil vom 3. September 2020, a.a.O. RN 14; BSG, Urteil vom 29. August 2019, B 14 AS 49/18 R, juris RN 27f. mit weiteren Nachweisen).

Dies gelte auch für ein arbeitsvertragswidriges Verhalten, das Anlass für die Lösung eines Beschäftigungsverhältnisses gegeben und damit den Minderungstatbestand von § 31 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 SGB II in Verbindung mit § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr.1 SGB III erfüllt habe. Angesichts der schwerwiegenden Rechtsfolge mit dem Zugriff auf an sich zur Existenzsicherung benötigte Mittel grundsätzlich über die gesamte Dauer des pflichtwidrig verursachten bzw. pflichtwidrig erhöhten Leistungsbezugs und der dafür geltenden verfassungsrechtlichen Maßgaben müsse es sich um ein besonderes Fehlverhalten und nicht nur um einen durchschnittlichen Sanktionsfall handeln (BSG, Urteil vom 3. September 2020, a.a.O. RN 15). Maßgeblich gehe es nicht um den sperrzeitbegründenden Pflichtenverstoß im Beschäftigungsverhältnis, sondern um das Maß der Pflichtverletzung im Verhältnis zur Allgemeinheit, die als Solidargemeinschaft die Mittel der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufzubringen habe. Das von § 34 Abs. 1 SGB II erfasste Fehlverhalten müsse im Verhältnis zur Allgemeinheit als sozialwidrig zu bewerten ist. Es müsse in seiner Handlungstendenz auf die Einschränkung oder den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder der Erwerbsmöglichkeit oder die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit bzw. der Leistungserbringung gerichtet sein, bzw. hiermit in einem „innerem Zusammenhang" stehen oder einen spezifischen Bezug zu anderen nach den Wertungen des SGB II zu missbilligenden Verhaltensweisen aufweisen (BSG, Urteil vom 3. September 2019, a.a.O. RN 16; Urteil vom 16. April 2013, B 14 AS 55/12 R, juris RN 20).

Da diese Umschreibungen primär an das im „Herbeiführen" angelegte Verständnis eines zielgerichteten und damit vorsätzlichen Bewirkens von Hilfebedürftigkeit anknüpfen, lassen sie sich nicht unmittelbar auf das grob fahrlässige Herbeiführen von Hilfebedürftigkeit übertragen. Daher verhalte sich nach Auffassung des BSG im Sinne eines Wissenselements nur derjenige vorsätzlich oder grob fahrlässig, der sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst sei. Hinzutreten müsse – weil der Vorwurf des sozialwidrigen Verhaltens jedenfalls nicht primär aus dem Maß der Sorgfaltswidrigkeit Dritten (wie hier dem Arbeitgeber) gegenüber abzuleiten sei, sondern es vorrangig aus Sicht der in Anspruch genommenen Allgemeinheit einzuschätzen sei – auf der Wertungsebene, dass das zur Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen führende Verhalten in vergleichbarer Weise zu missbilligen ist wie ein solches, das auf die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen ausdrücklich angelegt sei. Das grob fahrlässige Verhalten müsse der vorsätzlichen Herbeiführung wertungsmäßig gleichstehen.

Diese Einschätzung sei grundsätzlich auf die Feststellungen zu stützen, die das Jobcenter nach seiner vollständigen Ermittlung der Umstände des Einzelfalls im Verwaltungsverfahren (vgl. BSG, Urteil vom 29. September 2019, a.a.O. RN 28) bei der Geltendmachung des Ersatzanspruchs im angegriffenen Bescheid zugrunde gelegt hat.

Übertragen auf den hier streitigen Sachverhalt ergibt sich aus der Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, Folgendes: Selbst wenn man unterstellt, der Kläger habe als volljähriger Erwachsener wohl durch ein Fehlverhalten im Arbeitsverhältnis, das Anlass war für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung des Arbeitgebers bzw. die nachfolgende Vereinbarung eines Aufhebungsvertrags, den Wegfall seines Erwerbseinkommens und damit seine Hilfebedürftigkeit und die seiner Familienangehörigen sowie den nachfolgenden Bezug von SGB II-Leistungen verursacht, lässt sich nach der Auffassung des Senats auf der Wertungsebene die Sozialwidrigkeit seines Verhaltens nicht feststellen. Ursache dafür ist, dass der Sachverhalt und die Motivationslage des Klägers nicht aufgeklärt worden sind.

Der Beklagte hat nicht festgestellt, welches konkrete Fehlverhalten des Klägers der Grund oder Anlass für die (ordentliche) Arbeitgeberkündigung war. Nach den angegriffenen Bescheiden liegt für den Beklagten der Grund für die Bewertung des Verhalten als sozialwidrig darin, dass sich der Kläger durch ein strafbares Verhalten einer besonders schweren Pflichtverletzung im Arbeitsverhältnis schuldig gemacht habe, die zum Verlust des Arbeitsplatzes und des Einkommens und nachfolgend zum SGB II-Leistungsbezug geführt habe. Maßgeblich stellt er auf einen – aufgrund des vereinbarten Schadensersatzes von zwei Nettogehältern – „nicht nur geringfügigen“ „Diebstahl von Diesel“ ab, mit dem der Kläger zugleich die mögliche Konsequenz des Arbeitsplatzverlusts und des SGB II-Leistungsbezugs „zumindest grob fahrlässig in Kauf genommen“ habe. Dies sei aus Sicht der Solidargemeinschaft der Steuerzahler zu missbilligen und daher sozialwidrig, auch wenn dem Kläger möglicherweise die Sozialwidrigkeit seines Fehlverhaltens grob fahrlässig nicht bewusst gewesen sei. Letztlich unterstellt der Beklagte ein erhebliches strafbares Fehlverhalten des Klägers zum Nachteil des Arbeitgebers und bewertet dieses als sozialwidrig.

Dagegen ist zunächst einzuwenden, dass nach der Rechtsprechung nicht jedes strafbare Verhalten, das beispielsweise absehbar zu einer Inhaftierung und damit regelmäßig zum Wegfall von Erwerbsmöglichkeiten führt, sozialwidrig ist. Wenn ein strafbares Verhalten nicht zugleich auch den Wertungen des SGB II zuwiderläuft, besteht neben der Strafe als solcher für eine zeitlich und betragsmäßig unbegrenzte Haftung nach § 34 Abs. 1 SGB II im Hinblick auf den dadurch verursachten Wegfall der finanziellen Lebensgrundlage keine Rechtfertigung. Eine andere Sichtweise widerspricht der vorbehaltlosen Hilfegewährung als Regelfall (vgl. BSG, Urteil vom 16. April 2013, a.a.O. RN 21).

Entscheidend ist vorliegend jedoch, dass die Annahmen des Beklagten zum strafbaren Verhalten des Klägers keine feststehenden Tatsachen sind. Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten keine konkreten Angaben zu Art und Umfang eines Fehlverhaltens gemacht. Aus der Abwicklungsvereinbarung ergibt sich lediglich, dass der Arbeitgeber der Auffassung war, der Kläger habe einen Schaden verursacht und er (der Arbeitgeber) könne ihn wegen eines Diebstahls von Diesel anzeigen. Der Beklagte hat im angegriffenen Bescheid ausgeführt, der Kläger habe durch den Abschluss der Abwicklungsvereinbarung die vom Arbeitgeber erhobenen Vorwürfe eingeräumt. Dieser Schluss erscheint dem Senat aufgrund der unzureichenden Tatsachenfeststellung zumindest nicht zwingend und sogar fraglich.

Denn bei der – vom Beklagten unterstellten – Verursachung eines erheblichen Schadens durch einen strafbaren Diebstahl zum Nachteil des Arbeitgebers wäre dieser zu einer fristlosen Kündigung berechtigt gewesen. Hier hat der Arbeitgeber nur eine ordentliche Kündigung ausgesprochen. Zwar sieht die Abwicklungsvereinbarung den Verzicht des Klägers auf die Auszahlung des Nettolohns für die Monate Mai und Juni 2016 – „insbesondere im Zusammenhang mit wegen dem von ihm verursachten Schaden“ – vor. Bei der Bewertung dieser Regelung im Abwicklungsvertrag ist jedoch auch einzubeziehen, dass zum Schaden des Arbeitgebers auch die Lohnaufwendungen gehört hätten, denn er hatte den Kläger für die beiden Monate von der Arbeitsleistung freigestellt hatte, sodass dieser den Lohn nicht erwirtschaftet hat. Stellt man dies in Rechnung, erscheint die Annahme eines erheblichen Schadens durch einen Diebstahl von Diesel zweifelhaft. Zudem ist in Betracht zu ziehen, dass es für den Kläger andere Gründe gab, die Abwicklungsvereinbarung in der angebotenen Form zu akzeptieren, ohne dass dies als Schuldeingeständnis gewertet werden könnte. Denkbar sind befürchtete aufenthaltsrechtliche Konsequenzen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens oder das Bemühen des Klägers, von seiner erkrankten Ehefrau diesen Stress fernzuhalten. Insoweit ergibt sich aus den bekannten Umständen des „Vorfalls“, der zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses führte, für den Senat kein (schlüssiges) Bild des tatsächlichen Geschehens.

Daneben ist auch zu berücksichtigen, dass kleinere Diebstähle im Arbeitsverhältnis nicht so außergewöhnlich sind, dass sie generell oder grundsätzlich als sozialwidrig angesehen werden können. Um dies im Einzelfall beurteilen zu können, bedarf es genauerer Kenntnisse der Gepflogenheiten im konkreten Betrieb, u.a. des „üblichen“ Fehlverhaltens der Belegschaft. Dazu fehlen Feststellungen. Der Senat kann daher nicht nachvollziehen, dass es hier um mehr als einen „üblichen“ Sperrzeitfall handelte, oder aus welchem Grund der Beklagte meinte, das Fehlverhalten des Klägers sei aus Sicht der Solidargemeinschaft als sozialwidrig einzuschätzen.

Ein zielgerichtetes, vorsätzliches Bewirken der Hilfebedürftigkeit im Sinne eines „Herbeiführen“ des SGB II-Leistungsbezugs durch den Kläger lässt sich ebenfalls nicht feststellen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser den Verlust des Arbeitsplatzes und den Leistungsbezug bewusst provoziert hat. Bei Unterstellung eines strafbaren Verhaltens liegt nahe, dass sich der Kläger zwar vorsätzlich arbeitsvertragswidrig verhielt, aber davon ausging, dass sein Fehlverhalten keine negativen Folgen für das Arbeitsverhältnis haben würde, weil es nicht aufgedeckt werden würde oder gar „betriebsüblich“ war. Dann war das Herbeiführen des Leistungsbezugs fahrlässig. Es gibt jedoch aus Sicht des Senats keine Indizien darauf, dass sich der Kläger im Sinne eines Wissenselements der (möglichen) Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst war oder er diese grob fahrlässig nicht erkannt hat. Für eine solche Beurteilung sind ebenfalls zu wenige Tatsachen zum objektiven Sachverhalt, d.h. dem konkret vorgeworfenen Fehlverhalten, und zum subjektiven Tatbestand, d.h. der Motivation und der Einstellung des Klägers, bekannt.

Daher reicht das Ergebnis der vom Beklagten angestellten Ermittlungen nicht aus, um das dem Kläger vorgeworfene arbeitsvertragswidrige Verhalten als sozialwidrig zu bewerten. Es erscheint zweifelhaft, ob der Beklagte hinreichende Anstrengungen unternommen hat, um den Sachverhalt – das letztlich als sozialwidrig erachtete Verhalten einschließlich der Motivation des Klägers – zu ermitteln. Denn er hat es unterlassen nachzufragen, obwohl der Arbeitgeber die angeforderte detaillierte Angabe der Gründe für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im März 2017 nicht beibrachte und nur auf die vorgelegten Unterlagen verwies. Zudem wäre es angesichts der fehlenden Angaben des Klägers zum konkreten Sachverhalt sinnvoll und wohl auch geboten gewesen, ihn – und ggf. auch seine Ehefrau – zur Vorsprache einzuladen und zu den Umständen des „strafbaren“ Verhaltens zu befragen. Im persönlichen Gespräch hätte man dem Kläger, der kein Muttersprachler ist, wahrscheinlich besser als durch ein zweiseitiges Behördenschreiben vermitteln können, weshalb für den Beklagten die Kenntnis der konkreten Umstände der Geschehnisse, die zum Arbeitsplatzverlust führten, bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 Abs. 1 SGB II von Relevanz waren.

Der Senat war vorliegend nicht verpflichtet, selbst zu ermitteln. Denn die Bewertung, ob ein grob fahrlässige Verhalten der vorsätzlichen Herbeiführung wertungsmäßig gleichsteht, bzw. ob der Fall mit der auf die Verwirklichung eines nach § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestands gesetzlich regelmäßig vorgesehenen Minderung nach den §§ 31a und 31b SGB II als „normaler Sperrzeitfall“ erledigt ist oder ob ein besonderer Ausnahmefall vorliegt, in dem zusätzlich ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II geltend zu machen ist, ist vom Gericht auf der Grundlage der vom Jobcenter bereits im Verwaltungsverfahren zu ermittelnden Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (vgl. BSG, Urteil vom 29. September 2019, a.a.O. RN 28; BSG, Urteil vom 2. November 2012, B 4 AS 39/12 R, juris RN 21; BSG, Urteil vom 3. September 2020, B 14 AS 43/19 R, juris RN 17). Die vollständige Ermittlung der Umstände des Einzelfalls ist nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 20 SGB X Aufgabe des Jobcenters im Verwaltungsverfahren. Fehlt es daran wie vorliegend, sind die notwendigen Ermittlungen ungeachtet des Untersuchungsgrundsatzes auch im gerichtlichen Verfahren (§ 103 SGG) in der in solchen Streitigkeiten gegebenen Prozesslage der reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) nur in Grenzen nachholbar (vgl. BSG, Urteil vom 29. August 2019, B 14 AS 49/18 R, juris RN 29; BSG, Urteil vom 25. Juni 2015, B 14 AS 30/14 R, juris RN 23).

Zwar sind die Gerichte grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Verwaltungsakt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 1, § 103 SGG); die beklagte Behörde kann deshalbnach allgemeiner Ansicht in der Rechtsprechung während des gerichtlichen Verfahren neue Tatsachen und Rechtsgründe „nachschieben" (vgl. zuletzt: BSG, Urteil vom 24. Februar 2011, B 14 AS 87/09 R, juris RN 16; BSG, Urteil vom 21. September 2000, B 11 AL 7/00 R, juris RN 23ff.).

Hinsichtlich eines solchen Nachschiebens von Gründen gibt es jedoch bei belastenden Verwaltungsakten, die – wie hier – mit einer reinen Anfechtungsklage angegriffen werden, Einschränkungen, wenn die Verwaltungsakte dadurch in ihrem Wesen verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann. Denn wenn die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts mit einer völlig neuen tatsächlichen Begründung dem Erlass eines neuen Verwaltungsakts gleichkommt, würde das Gericht andernfalls entgegen dem Grundsatz der Gewaltentrennung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz [GG]) selbst aktiv in das Verwaltungshandeln eingreifen.

Da im Fall des Klägers – wie ausgeführt – die erforderlichen Feststellungen zu den konkreten Umständen des Einzelfalls fehlen, würde das Nachholen der (vom Beklagten) unterlassenen, aber erforderlichen Ermittlungen bedeuten, dass der Senat erstmalig – anstelle des Beklagten – das konkrete Fehlverhalten des Klägers und seine Motivation feststellt. Der Bescheid würde dadurch einen anderen Wesenskern erhalten, da bislang das zu beurteilende konkrete Geschehen unbekannt und offengeblieben ist. Die hier erforderliche vollständige Nachholung der Ermittlung der Umstände des Einzelfalls (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 2015, a.a.O. RN 23), mit der der Senat erst die Grundlagen für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts legen würde, wäre nach den obigen Ausführungen mit dem Gewaltenteilungsprinzip nicht zu vereinbaren.

Nach alledem kann der Senat auf der Grundlage der Ausführungen des Beklagten im Bescheid und der vorliegenden Unterlagen nicht feststellen, dass die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führenden konkreten Geschehnisse auf einem Verhalten des Klägers beruhen, das als sozialwidrig im Sinne von § 34 Abs. 1 SGB II anzusehen ist, Der angegriffene Bescheid war bereits daher aufzuheben. Auf das Vorliegen einer (besonderen) Härte im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II kommt es mithin nicht mehr entscheidend an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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