L 6 U 49/22

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 12 U 111/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 6 U 49/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 zur Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BK 2108).

Am 24. November 2017 zeigte der 1962 geborene Kläger als Unternehmer an, dass bei ihm der Verdacht auf das Vorliegen einer BK 2108 aufgrund seiner Tätigkeit als Fliesenleger bestehe. Er gab an, wegen seiner Beschwerden seit dem 1. Januar 2017 nur noch zeitweise im Geschäft (Beratung) zu arbeiten.

In einem von der Beklagten eingeholten Befundbericht vom 22. März 2018 gab der Orthopäde P. an, er habe den Kläger erstmals im Juni 2016 behandelt. Der Kläger habe Beschwerden über der gesamten Wirbelsäule und insbesondere lumbal angegeben. Dort beständen pseudoradikuläre Gefühlsstörungen im Bereich der seitlichen Oberschenkel. Er habe muskuläre Dysbalancen festgestellt. Kraft, Motorik, Sensibilität und Durchblutung seien ungestört gewesen.

Beigefügt war die Auswertung eines MRT vom 11. April 2016 durch den Radiologen H. vom selben Tage. Danach waren an der Lendenwirbelsäule keine Hinweise auf eine Gefügestörung erkennbar. Signifikante degenerative Anbauten im Bereich der Wirbelkörper bestanden nicht. Im Übrigen war das Bild von L1/L2 bis L3/L4 unauffällig ohne Protrusion oder Prolaps. Der Radiologe führte weiter aus, bei L4/L5 bestehe eine Chondrose der Bandscheibe mit Signalverlust und Tangierung der L4- und L5-Wurzel. Bei L5/S1 liege eine flache Protrusion mit Tangierung der L5-Wurzel vor. Die Bandscheibenveränderungen der beiden unteren Segmente seien schon in einer älteren Voruntersuchung von 2006 abgrenzbar gewesen. Die Befunde seien in beiden Segmenten dezent progredient, doch auch heute noch ohne wesentliche Kompressionseinwirkung auf die Nervenwurzel in beiden Segmenten. Insgesamt sei es vom knöchernen Befund her unauffällig.

In einem weiteren beigefügten Bericht des Facharztes für Nuklearmedizin und radiologische Diagnostik Dr. A. vom 10. Juli 2013 stellte dieser auf den MRT-Aufnahmen in Höhe von L2/L3 eine angedeutete Bandscheibenprotrusion, in Höhe von L3/L4 eine leichte diffuse Bandscheibenprotrusion mit geringer Tangierung des Duralsackes der Nervenwurzel, in Höhe von L4/L5 eine deutliche Bandscheibenprotrusion mit geringfügiger Tangierung des Duralsackes bei deutlicher Tangierung der Nervenwurzel L4 sowie in Höhe von L5/S1 eine angedeutete Bandscheibenprotrusion fest.

In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 6. Mai 2018 führte Dr. A. aus, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule sei nicht nachweisbar. Die Erkrankung dürfte durch eine Spondylarthrose bedingt sein. Nebenbefundlich hätten beide MRT-Serien degenerative Veränderungen der kleinen Zwischenwirbelgelenke mit Verdickung der sie bedeckenden Längsbänder (Spondylarthrosen) in den drei unteren Segmenten gezeigt. Altersvorauseilende degenerative Bandscheibenveränderungen ließen sich nicht nachweisen. Nach den Konsensempfehlungen müsse eine Einordnung in die Konstellation A1 erfolgen, soweit eine rückenbelastende Tätigkeit ausgeübt worden sei. Mit Bescheid vom 24. Mai 2018 lehnte die Beklagte die Feststellung einer BK 2108 und die Erbringung von Leistungen ab. Zur Begründung schloss sie sich den Ausführungen von Dr. A. an.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. In einer Stellungnahme kam die Präventionsabteilung der Beklagten zu dem Ergebnis, es liege eine Gesamtdosis für rückenbelastende Tätigkeit nach dem Mainz-Dortmunder-Dosis-Modell in Höhe von insgesamt 28,3 MNh vor.

Im Weiteren reichte der Kläger einen Reha-Entlassungsbericht einer Klinik in B. L. vom 23. November 2018 ein. Danach bestand bei ihm unter anderem eine rezidivierende Lumboischialgie beidseits. Es konnte ein Finger-Boden-Abstand von 10 cm festgestellt werden. Das Zeichen nach Schober betrug 10/16 cm. Die Seitneigung war beidseits mit 20 Grad und die Rotation mit 30 Grad möglich. Es bestand ein deutlicher paravertebraler Hartspann. Bei der Entlassungsuntersuchung konnte endgradig ein leichtes Ziehen im mittleren Bereich der Brust- bzw. Lendenwirbelsäule festgestellt werden. Wesentliche Schmerzen bei der Bewegung bestanden in der Lendenwirbelsäule nicht.

Auf ausdrücklichen Wunsch des Klägers holte die Beklagte sodann ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. B. ein. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 11. März 2019 in einer Auswertung von Röntgenbildern vom Begutachtungstag am 8. März 2019 an allen Segmenten der Lendenwirbelsäule keine Chondrose fest. Es bestehe eine multisegmentale Spondylose mit Maximum bei L2/L3 sowie eine bisegmentale Protrusion mit Nervenwurzelkontakt. Dies sei eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Angesichts der Betroffenheit von zwei Segmenten, dem plausiblen zeitlichen Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit und Entwicklung der Erkrankung bestehe ein belastungskonformes Krankheitsbild im Sinne der Konsensempfehlungen. Zwar liege keine Chondrose Grad 2 oder höher und auch kein Vorfall vor. Jedoch seien die Protrusionen ähnlich ausgeprägt wie bei einem Prolaps. Seiner Auffassung nach lag die Konstellation B1 der Konsensempfehlungen vor. Es bestehe eine erhebliche Begleitspondylose. In Betracht komme aber auch die Konstellation B2, da die kumulative Lebenszeitdosis überwiegend durch hohe Einzelexpositionen erreicht worden sei.

In einer beratungsärztlichen Stellungnahme widersprach Dr. A. und führte aus, es lägen keine altersvorauseilenden Befunde im Sinne der Konsensempfehlungen vor. Im vorliegenden Fall erfülle weder der radiologische noch der klinische Befund die Kriterien zur Anerkennung einer BK 2108, auch wenn es sich um Grenzbefunde handele. Ein Nervenwurzelreizsyndrom in den Beinen werde weder von dem Gutachter noch von den Ärzten im Reha-Bericht beschrieben. Eine chronisch-rezidivierende bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule liege nicht vor. Der Kläger rügte, die Stellungnahme von Dr. A. verstoße gegen § 200 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und schloss sich im Ergebnis den Ausführungen von Dr. A. an.

Hiergegen hat der Kläger am 20. September 2019 Klage erhoben und erneut auf das Gutachten von Dr. B. hingewiesen. Mit Urteil vom 20. Mai 2022 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung dargelegt, nach den Konsensempfehlungen liege keine BK 2108 vor. Dies gelte auch, wenn man die Feststellungen von Dr. B. bezüglich des vorliegenden Krankheitsbildes zu Grunde lege.

Gegen das ihm am 4. August 2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am Montag, den 5. September 2022 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, die ausgeprägten Protrusionen seien nicht altersentsprechend. Der Kläger hat die Auswertung eines MRTs der Lendenwirbelsäule vom 15. Dezember 2023 zu den Akten gereicht. Danach hat Dr. R. Bandscheibenprotrusionen in den Segmenten L1/L2 - L3/L4 sowie L5/S1 festgestellt. Darüber hinaus hat er eine Spondylose, eine Spondylarthrose, eine Spondylolisthesis sowie eine Bandscheibenprotrusion im Segment L4/L5 festgestellt.

Der Kläger beantragt wörtlich,

unter Abänderung/Aufhebung des am 4. August 2022 zugestellten Urteils des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. Mai 2022, S 12 U 111/19, wird die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 24. Mai 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2019 abzuändern und eine Berufskrankheit nach Nummer 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen und in Form von Verletztenrente und Übergangsleistungen zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Dr. B. nach Aktenlage. Dieser hat am 20. Januar 2024 seine bisherigen Ausführungen bekräftigt. Lediglich auf der MRT-Aufnahme vom 15. Dezember 2023 sei bei L5/S1 eine Chondrose Grad 1 festzustellen. Nach den Konsensempfehlungen handele es sich um einen Grenzbefund. Weiterhin liege bei L4/L5 eine Chondrose Grad 1 vor. Er hat darauf hingewiesen, dass die Gesamtbelastung des Klägers den hälftigen Orientierungswert von 12,5 MNh deutlich überschreite. Unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums spreche mehr dafür, den radiologischen Grenzbefund als Prolaps Grad 2 zu interpretieren. Auch die Spondylolisthesis sei Ausdruck einer überlastungsbedingten Zermürbung von Bandscheibengewebe. Die bildgebend dargestellten Bandscheibenschäden mehrerer Segmente sprächen ebenfalls für eine altersatypische Degeneration. In der Auswertung der vorliegenden MRT-Aufnahmen stelle er an verschiedenen Segmenten Protrusionen fest. Seiner Auffassung nach handele es sich um die Konstellation B1 der Konsensempfehlungen. Falls man vom Fehlen einer Begleitspondylose ausgehe, bejahe er die Konstellation B2.

Die Beklage hat eine ergänzende Stellungnahme von Dr. A. vom 28. März 2024 vorgelegt, in der er erneut den Feststellungen von Dr. B. widersprochen hat. Er hat seine bisherigen Darlegungen ausführlich bekräftigt.

In einer ergänzenden Stellungnahme hat Dr. B. seine bisherigen Feststellungen wiederholt. Dr. A. sehe keine andere Erklärung für die nachgewiesenen degenerativen Veränderungen. Es sei angesichts des Ausmaßes der Beschwerden erforderlich, nach alternativen Ursachen zu suchen. Eine berufliche Ursache liege nach der erheblichen Exposition des Klägers nahe. Auch die klinische Symptomatik lasse eine Unterscheidung zwischen Beschwerden durch Veränderung der kleinen Wirbelgelenke einerseits und der Bandscheiben andererseits nicht zu.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 28. November 2024 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtige, nach § 153 Abs. 4 SGG zu verfahren.

Der Kläger hat daraufhin aufgrund seiner Taubheitsgefühle in den Beinen, Füßen und Zehen die Einholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens nach § 106 SGG, hilfsweise nach § 109 SGG beantragt, dass durch Prof. Dr. A., B. Str. 21, 1XXXX B. eingeholt werden sollte. Der Berichterstatter hat mit Schreiben vom 9. Januar 2025 auf Bedenken gegen die Zulässigkeit dieses Antrags und erneut auf die beabsichtigte Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG hingewiesen. Die Beteiligten erhielten eine weitere Frist zur Stellungnahme von zwei Wochen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der Beratung und der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

Der Senat konnte durch Beschluss über die Berufung entscheiden und diese zurückweisen, weil sie nach der Beurteilung aller beteiligten Richter unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist sowie die Beteiligten vorher gehört worden sind (§ 153 Abs. 4 Satz 1 SGG). Der Senat berücksichtigt hierbei insbesondere, dass über die Berufung ohne Schwierigkeiten nach Aktenlage unter Würdigung des medizinischen Beweisergebnisses entschieden werden kann. Der Anwendungsbereich des § 153  Abs. 4 SGG ist nicht auf Rechtsfragen beschränkt (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., 2023, § 153 Rn. 13a).

Die nach den §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Die Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der BK 2108 ist zulässig. Soweit der Antrag des Klägers aber allgemein auf Entschädigung in Form der Verletztenrente und Übergangsleistungen gerichtet ist, ist die Klage bereits unzulässig. Denn zum einen ist der Antrag insoweit weder auf konkrete Leistungen gerichtet noch hat die Beklagte in ihrem Bescheid über entsprechende Leistungen entschieden. Im Entscheidungszeitpunkt stand somit nicht fest, welche der in Frage kommenden Leistungen (Verletztengeld, Rente u.a.) im konkreten Fall tatsächlich beansprucht werden können und für welchen Zeitraum sie ggf. zu erbringen sind. Auch bezüglich der Verletztenrente fehlt die Angabe, auf welcher Basis (Minderung der Erwerbsfähigkeit) sie berechnet werden soll. Über diese Leistungen kann durch das Gericht auch nicht durch Grundurteil (§ 130 Abs. 1 SGG) entschieden werden. Denn die in § 130 SGG vorgesehene Möglichkeit zum Erlass eines Grundurteils ist auf Fälle beschränkt, in denen der Kläger eine oder mehrere ihrer Art nach feststehende Geldleistungen begehrt, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Nicht die Leistung als solche, sondern nur ihre Höhe kann in diesem Fall vom Gericht offengelassen und der Berechnung durch den Sozialleistungsträger überlassen werden (vgl. BSG, 7.9.2004, B 2 U 35/03 R, juris; BSG, 30.1.2007, B 2 U 6/06, juris). Der Antrag hat insoweit keinen vollstreckbaren Inhalt, was dem anwaltlich vertretenen Kläger bekannt ist.

Der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides bezüglich der Ablehnung der BK 2108 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK 2108.

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz SGB VII).

Rechtsgrundlage für die Anerkennung der erstmals im Jahre 2017 geltend gemachten BK 2108 ist § 9 Abs. 1 SGB VII i.V.m. Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Berufskrankheiten nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog. Listen-Berufskrankheit) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist für die Feststellung einer Listen-Berufskrankheit erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie, dass eine Krankheit vorliegt, welche durch die Einwirkungen verursacht worden ist (haftungsbegründende Kausalität).

Die BK 2108 hatte in der hier zunächst anwendbaren, bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung folgenden Wortlaut: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“.

Die seitdem geltende, anschließend hier anwendbare Fassung lautet: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugenhaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben.“ (Siebtes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020, BGBl. 2020 Teil I S. 1248).

Grundsätzlich müssen zur Anerkennung einer Berufskrankheit die „versicherte Tätigkeit“, die „Verrichtung“, die „Einwirkungen“ und die „Krankheit“ im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen.

Eine Krankheit kann festgestellt werden (dazu bei 2.). Diese ist aber nicht durch die beruflichen Einwirkungen (dazu bei 1.) verursacht worden (haftungsbegründende Kausalität; dazu bei 3.).

1. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 im Rahmen der Beschäftigung sind erfüllt, wie die Präventionsabteilung der Beklagten festgestellt hat. Die erforderliche Gesamtdosis ist mit 28,3 MNh überschritten.

2. Eine bandscheibenbedingte Erkrankung kann der Senat bei dem Kläger grundsätzlich zu seinen Gunsten unterstellen, so dass kein Anlass besteht, sich insoweit mit der (zumindest ursprünglich) abweichenden Ansicht von Dr. A. auseinanderzusetzen. Die von ihm angenommene Konstellation A1 der „Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung“ (vgl. B.-A., Trauma und Berufskrankheit 2005, S. 211 ff.) führt grundsätzlich nicht zur Anerkennung der BK 2108. Dasselbe würde für die (hier fernliegende) Konstellation A2 gelten.

3. Für die Anerkennung einer Berufskrankheit ist weiter ein Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Hier genügt nach der Theorie der wesentlichen Bedingung die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. z.B. BSG, 4.7.2013, B 2 U 11/12 R, juris Rn. 12; BSG, 27.6.2006, B 2 U 20/04 R, juris Rn. 15). Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zu bejahen, muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung deutlich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, 6.5.2021, B 2 U 15/19 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 77, Rn. 20 m.w.N.).

In der medizinischen Wissenschaft ist anerkannt, dass Bandscheibenschäden und Bandscheibenvorfälle insbesondere der unteren Lendenwirbelsäule in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vorkommen. Sie sind von multifaktorieller Ätiologie und kommen ebenso in Berufsgruppen vor, die während ihres Arbeitslebens keiner schweren körperlichen Belastung ausgesetzt waren, wie in solchen, die schwere körperliche Arbeiten geleistet haben. Allein aus dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen kann angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule nicht automatisch auf das Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen der BK 2108 geschlossen werden; vielmehr müssen medizinische Kriterien hinzukommen (BSG, 23.4.2015, B 2 U 10/14 R, juris Rn. 18; vgl. auch Merkblatt zu der BK 2108, BArbBl. 2006, S. 30 ff.). Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine BK 2108 nicht vor (vgl. BSG, 18.11.2008, B 2 U 14/07 R, juris Rn. 23; BSG, 30.10.2007, B 2 U 4/06 R, juris Rn. 16 f.).

Die der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Beurteilungskriterien sind in den sogenannten „Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung“ niedergelegt (vgl. Bolm-Audorff, a.a.O.). Die Konsensempfehlungen stellen nach wie vor den aktuellen Stand der nationalen und internationalen Diskussion zur Verursachung von Lendenwirbelsäulen-Erkrankungen durch körperliche und berufliche Belastungen dar (vgl. zur Anwendung der Konsensempfehlungen auch BSG, 27.10.2009, B 2 U 16/08 R, juris; siehe auch BSG, 17.5.2019, B 2 U 131/18 B, juris Rn. 7).

Wenngleich es sich bei diesen nicht um einen normativen Text oder ein antizipiertes Sachverständigengutachten handelt und diese damit nicht unmittelbar verbindlich sind, dienen die Konsensempfehlungen dennoch dazu, die Beurteilung im Einzelfall zu erleichtern (BSG, 23.4.2015, B 2 U 10/14 R, juris Rn. 23). Ein neuerer, von den Konsensempfehlungen abweichender Stand der wissenschaftlichen Diskussion, d.h. eine neuere wissenschaftlich geprägte Mehrheitsmeinung zu den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule ist weder von Dr. B. benannt worden noch dem Senat aus anderen Verfahren bekannt. Auch die Beteiligten haben eine solche nicht behauptet.

Danach liegen die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK 2108 nicht vor.

Für alle B-Konstellationen gilt, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung L5/S1  und/oder L4/L5 betrifft, was hier unterstellt werden kann. Weiter muss die Ausprägung des Bandscheibenschadens einer Chondrose Grad II oder höher und/oder einem Vorfall entsprechen. Eine solche Erkrankung wird im Übrigen auch in allen C-Konstellationen vorausgesetzt. Solche Anknüpfungstatsachen innerhalb der Kausalkette müssen zur vollen Überzeugung nachgewiesen werden (BSG, 23.9.1997, 2 BU 194/97; Hessisches LSG, 4.5.2021, L 3 U 70/19, juris Rn. 36).

Nach dem Gutachten von Dr. B. im Verwaltungsverfahren vom 11. März 2019 konnte dieser in einer Auswertung von Röntgenbildern am 8. März 2019 an allen Segmenten keine Chondrose feststellen. Dies entspricht nicht dem Befund, wie es die Konsensempfehlungen für die B- und C-Konstellationen fordern.

Aus der Auswertung des MRT vom 11. April 2016 durch den Radiologen Henkelmann sowie der Auswertung des MRT vom 10. Juni 2013 durch Dr. A. ergibt sich nichts Anderes. Auch dort wird keine Chondrose Grad 2 beschrieben. Auf die Aufnahmen aus dem Jahr 2016 ist insoweit maßgeblich abzustellen, weil sie der Aufgabe der belastenden Beschäftigung durch den Kläger zeitlich am nächsten liegen (vgl. Konsensempfehlungen, a.a.O., S. 214: Urteil des Senats vom 8.11.2024, L 6 U 1/23, juris Rn. 38).

Auch in der Beurteilung eines MRTs der Lendenwirbelsäule vom 15. Dezember 2023 durch Rogits waren Bandscheibenprotrusionen in den Segmenten L1/L2, L3/L4 sowie L5/S1, eine Spondylose sowie eine Spondylarthrose, eine Spondylolisthesis sowie eine Bandscheibenprotrusion im Segment L4/L5 festzustellen. Eine Chondrose wird nicht beschrieben.

Ohne dass es darauf ankäme, ergibt sich aus dem Gutachten von Dr. B. vom  20. Januar 2024 nichts Anderes. Im Gegenteil hat er seine bisherigen Ausführungen bekräftigt. Lediglich auf der MRT-Aufnahme vom 15. Dezember 2023 sei bei L5/S1 und L4/L5 eine Chondrose Grad 1 festzustellen. Dies genügt nicht.

Außerdem ist sogar dieser Chondrosegrad selbst auf diesen jüngsten (und nicht maßgeblichen) Bildern anhand der Ausführungen von Dr. B. nicht nachvollziehbar. Er hat für die Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule von 2019 relative Bandscheibenhöhen von 93 bis 100 % festgestellt. Bei dem MRT von 2023 lagen die Werte zwischen 69 und 100 %. Der Chondrosegrad I entspricht nach den Konsensempfehlungen im Alter von über 50 Jahren (wie beim Kläger) einer Höhenminderung zwischen den Bandscheibenkörpern von einem Drittel, so dass der Kläger über dem Wert für den Chondrosegrad I von 66 % liegt. Diese kann damit nach den Ausführungen von Dr. B. unter Berücksichtigung der Konsensempfehlungen nicht festgestellt werden.

Ein Chondrosegrad I gilt nach den Konsensempfehlungen bei einem über 50-Jährigen zudem ausdrücklich als nicht altersvorauseilend. Nach den Konsensempfehlungen wird hier daher bei den B- und C-Konstellationen ein Chondrosegrad II verlangt. Schlüssig und nachvollziehbar wird daher auch in der Konstellation E 1 ein ursächlicher Zusammenhang von Chondrosen im Schweregrad 1 mit schwerer Arbeit bei Personen im Alter von mehr als 50 Jahren ausdrücklich ausgeschlossen.

Die an verschiedenen Segmenten festgestellten Protrusionen genügen ebenfalls nicht. Diese sind nur im Rahmen der D-Konstellationen entscheidungserheblich, wenn zusätzlich ein enger Spinalkanal vorliegt. Dies ist nicht ersichtlich. Ausdrücklich wird in der Auswertung eines MRT vom 11. April 2016 durch den Radiologen H. ausgeführt, es bestehe eine „normale Weite des Spinalkanals“ (vgl. auch MRT vom 11. Juni 2013). Einen gegenteiligen Befund behauptet der Kläger auch nicht.

Die Auffassung Dr. B.s, wonach sich die Protrusionen - zumindest bei L4/5 - durch einzelfallbezogene Zuordnung als Prolaps darstellen, überzeugt nicht, weil sie nicht mit den Konsensempfehlungen in Einklang steht. Denn Dr. B. stellt in seiner Begründung nicht auf die Voraussetzungen ab, unter denen bei der Vorwölbung einer Bandscheibe von mehr als drei Millimetern eine Einordnung als Prolaps in Betracht kommt. Er gibt nämlich keine Einordnung der Bandscheibenverlagerung selbst ab, die nach den Konsensempfehlungen, Abschnitt 1.2B, Unterpunkt „Verlagerung von Bandscheibengewebe“ zur Bewertung als Prolaps führen kann. Mit der dort angeführten Möglichkeit, besonders punktbezogene, „fokale“ Durchbrüche der Bandscheibe, etwa auch mit einem geringen Verhältnis zum rückwärtigen Bandscheibenumfang, darin einzubeziehen, setzt er sich nicht auseinander. Mit seiner alleinigen Einschätzung im Gutachten vom 11. März 2019, durch die Vorwölbung von vier Millimetern werde normale Konkavität der Bandscheibenbegrenzung im senkrechten Verlauf (Koronarebene) aufgehoben, stellt er auf Besonderheiten eines Bandscheibendurchbruchs nicht ab. Dieser Überlegung begegnet Dr. A. in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 23. April 2019 überzeugend mit der Beurteilung, Zeichen für eine Durchdringung des Bindegewebsrahmens durch den Gallertkern seien nicht erkennbar. Denn damit nimmt er auf die dargestellten Maßstäbe Bezug, die Inhalt der Konsensempfehlungen sind.

Auch mit seinem Gutachten nach Aktenlage vom 20. Januar 2024 kann Dr. B. mit seiner Einschätzung nicht überzeugen. Zunächst stellt er nicht mehr auf das der Belastungsaufgabe zeitnächste MRT von 2017, sondern auf ein solches vom 15. Dezember 2023 ab. Sodann verlässt er die Maßstäbe der Konsensempfehlungen für die einzelfallbezogene Zuordnung von Bandscheibenübertretungen über die Wirbelkörperlinie, indem er auf die nach seiner Auffassung hohe Belastung des Klägers abstellt, auf die Betroffenheit mehrerer Segmente und die Begrenzung von Abbauerscheinungen auf die Wirbelsäule gegenüber Gelenken. Denn damit verkehrt er die Bewertungsreihenfolge der Konsensempfehlungen in ihr Gegenteil, die einen Einfluss besonders hoher Belastungen in näher bestimmter Hinsicht erst in die Beurteilung einbeziehen, wenn die maßgeblichen Befunde anatomisch eindeutig eingeordnet sind. Liegt nämlich danach eine Konstellation der B-Gruppen (auch) mangels Vorfalls nicht vor, kommt es auf - so auch nicht festgestellte - besondere Belastungsspitzen als weiteren Maßstab der Konstellation B 2 nicht mehr an. Entsprechend ist die Unterscheidung nach einer Betroffenheit mehrerer Bandscheibenabschnitte in den Konsensempfehlungen bereits durch die Unterscheidungen der B-Konstellationen selbst eingearbeitet, die insbesondere bei B 2 die Anforderungen nach der Betroffenheit eines Segments oder nach derjenigen zweier Segmente oder mehr unterscheidet. Auch dies ist nicht folgerichtig vorwegzunehmen, wenn die anatomischen Voraussetzungen der B-Konstellationen überhaupt nicht vorliegen. Schließlich kann auch aus dem Vergleich der Wirbelsäule mit den Gelenken hinsichtlich von Abbauerscheinungen kein begünstigender Schluss gezogen werden. Denn wären Skelettbereiche außerhalb der Wirbelsäule ebenfalls durch die in den Konsensempfehlungen für die Wirbelsäule vorausgesetzten altersvorauseilenden Veränderungen betroffen, wäre allenfalls zu fragen, ob besondere Belastungen der Wirbelsäule auch dann die typische Erklärung für solche Veränderungen abgeben.

Unerheblich ist, ob es eine andere Erklärung für die (minimalen) nachgewiesenen degenerativen Veränderungen gibt. Es ist nicht zu ermitteln, worauf bestimmte Befunde bei dem Kläger beruhen, sondern es ist lediglich eine Berufskrankheit zu bejahen oder zu verneinen (vgl. BSG, 9.5.2006, B 2 U 1/05 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 Rn. 20). Das Fehlen von Alternativursachen reicht nicht aus, um die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zu begründen; es genügt also nicht, dass die berufliche Tätigkeit mangels weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse als mögliche Erklärung der Krankheitsentwicklung „übrig“ bleibt (BSG, a.a.O.). Wie oben ausgeführt, sind Abnutzungserscheinungen in Form einer Chondrose Grad I altersentsprechend und können somit auf die normale Entwicklung im Alter zurückgeführt werden. Die Beschwerden des Klägers können auf der mehrfach diagnostizierten Spondylarthrose beruhen, wie Dr. A. ausgeführt hat. Dies kann offenbleiben.

Der Antrag auf Einholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. A. nach § 106 SGG, hilfsweise nach § 109 SGG aufgrund der Taubheitsgefühle in den Beinen, Füßen und Zehen wird abgelehnt. Wie dargelegt fehlen entsprechende radiologische Schadensbilder bei dem Kläger. Insoweit kann der Senat entsprechende Taubheitsgefühle bei dem Kläger unterstellen. Dies ändert nichts an der Zuordnung zur Konstellation E 1. Das Gutachten ist damit nicht entscheidungserheblich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor, weil die Entscheidung auf gesicherter Rechtslage und tatsächlicher Einzelfallbewertung beruht, ohne dass der Senat von einem der in dieser Norm bezeichneten Gerichte abweicht.

Rechtskraft
Aus
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