Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30.04.2024 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Die 1988 geborene Klägerin stellte beim Landratsamt R1 am 11.11.2021 einen Erstantrag auf schwerbehinderungsrechtliche Feststellungen und machte an Gesundheitsstörungen einen Zustand nach Hirnblutung, diverse Arten von Kopfschmerzen (Migräne, Spannungs- und Clusterkopfschmerz), einen Tinnitus (seit 2021 akut), Schlafstörungen, eine Hormonersatztherapie, ein HWS-Syndrom, regelmäßige Schulter-, Rücken-, Knieschmerzen, eine sehr starke Kurzsichtigkeit, einen Hirsutismus (= Behaarung bei Frauen, die dem männlichen Verteilungsmuster der Behaarung ähnlich ist), einen Haarausfall, gastroenterologische Probleme, eine Laktoseunverträglichkeit sowie diverse Allergien geltend.
Im Antragsformular war u.a. eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht enthalten, zu welcher keine konkreten Einschränkungen angegeben wurden. Das Landratsamt holte dementsprechend schriftliche Auskünfte behandelnder Ärzte der Klägerin ein.
K1 gab in einer Auskunft vom 18.11.2021 an Diagnosen eine hohe Myopie, einen Astigmatismus und eine Exophorie an. Den korrigierten Visus für die Ferne befundete sie rechts mit 0,9-1,0 und links mit 1,0.
B1 teilte als Diagnosen eine Pollinose und Pollenallergie mit, unter „Befund“ nannte sie Gräser, Roggen und Hausstaubmilben Phase 2.
Die H1 gab in einer Auskunft vom 27.01.2022 eine ambulante Betreuung der Klägerin seit 2008 an. Diese sei nach langem Leidensweg 2008 im Rahmen einer operativen Geschlechtsangleichung bei Mann-zu-Frau Transsexualität behandelt worden. Im Nachgang seien etliche weitere Operationen erforderlich gewesen, um ein tolerierbares Ergebnis zu erhalten. Aufgrund des genetischen Geschlechts müsse die Klägerin dauerhaft Medikamente zur Supprimierung von Androgenisierungserscheinungen einnehmen, wobei die Einstellung und die ärztliche Betreuung schwierig seien. Die Klägerin leide unter multiplen körperlichen und psychosomatischen Schmerzen, klage etwa über Knochenschmerzen, Rückenbeschwerden und Kreislaufprobleme. Die Miktion sei aufgrund der Voroperationen ebenfalls nicht problemlos möglich. Die Klägerin berichte von Verdauungsbeschwerden und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, im psychosomatischen Bereich dominierten, soweit fachlich beurteilbar, eine soziale Angst, eine Schlafstörung und ein Tinnitus. Die Klägerin komme mit der Situation sehr schlecht zurecht und es bestehe ein sehr großer psychischer Leidensdruck. Eine Therapie sei angedacht.
N1 gab in einer Auskunft vom 11.01.2022 an Diagnosen einen Transsexualismus Mann-zu-Frau, einen Z.n. Exstirpation einer rechts hochfrontal gelegenen Hirnblutung 06/2003, einen Kombinationskopfschmerz (Migräne/Spannungskopfschmerz/zervikogener Kopfschmerz), eine mittelgradige depressive Episode, eine soziale Phobie mit Dysmorphophobie sowie eine Persönlichkeitsstörung mit paranoiden, sensitiven und dysthymen Anteilen an. Bei regelmäßiger Behandlung seit 2004 berichtete er über den Verlauf der geschlechtsangleichenden Behandlung bis 2007 mit fortbestehendem Hirsutismus und androgenetischer Alopezie. Die Operation der Hirnblutung sei komplikationslos verlaufen, in der Folge habe die Klägerin jedoch eine deutliche Zunahme ihrer Kopfschmerzsymptomatik (insbesondere der Migräne) beobachtet. Nach positiv verlaufenen genitalangleichenden Operationen einschließlich Korrektureingriffen bestehe eine anhaltende Unzufriedenheit der Klägerin hinsichtlich ästhetischer und funktionaler Gesichtspunkte des Ergebnisses. Die Klägerin berichte Schwierigkeiten beim Wasserlassen mit ungerichtetem Urinabgang, sie leide unter der OP-bedingten Sterilität und hierdurch begründeten Kinderlosigkeit sowie unter Nebenwirkungen der Hormonersatztherapie mit ausgeprägten Erschöpfungszuständen, Kraftlosigkeit, Energielosigkeit, Antriebslosigkeit und Kopfschmerzen, insbesondere Migränekopfschmerzen. Seit der Pubertät bestehe eine Migräne ohne Aura mit 4 und teilweise mehr migräneartigen Kopfschmerzattacken pro Monat. Zudem bestehe ein quälender Tinnitus aurium beidseits. Das Hauptproblem aus nervenfachärztlicher Sicht stelle die psychische Situation dar, wonach trotz letztlich adäquat verlaufener gegengeschlechtlicher therapeutischer Behandlungsmaßnahmen einschließlich der Hormonbehandlung und genitalangleichenden Operationen eine schwere und inzwischen chronifizierte depressive Verstimmung in Verbindung mit ausgeprägten Ängsten eingetreten sei. Im Vordergrund stünden v.a. phobische Ängste, eine soziale Phobie, eine Dysmorphophobie und ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. In diesem Zusammenhang sei eine deutliche Persönlichkeitsstörung festzustellen. Bisherige medikamentöse Behandlungsansätze seien aufgrund einer ausgeprägten Somatisierungsneigung nicht erfolgreich gewesen. Eine stationäre oder ambulante psychotherapeutische Behandlung sei aufgrund der sozialen Phobie nicht möglich gewesen. Angesichts traumatischer Erfahrungen bis in den engsten Familienkreis leide sie unter größten Ängsten, ihre Transidentität könne in der Öffentlichkeit auffallen. Der Leidensdruck sei extrem hoch und sie führe ein stark eingeschränktes, misstrauisches und zurückgezogenes Leben ohne Partnerschaft und Freunde.
Zu einer Anfrage an den F1 findet sich in der Verwaltungsakte ein Postrücklauf, da F1 unbekannt verzogen sei.
Die ärztlichen Unterlagen wurden in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Z1 vom 09.06.2022 ausgewertet. Dieser gelangte zu einem GdB von 30 aufgrund einer seelischen Störung und der Ohrgeräusche sowie zu einem GdB von 20 aufgrund der Hirnschädigung, der Migräne und des Kopfschmerzsyndroms. Der Gesamt-GdB sei mit 30 zu bemessen. Eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule sei nicht nachgewiesen. Sehminderung, Allergien und Androgenisierungserscheinungen rechtfertigten keinen GdB von mindestens 10.
Bereits zuvor – am 03.06.2022 – waren beim Landratsamt ältere ärztliche Atteste des N1, der M1, der H1 und des F1 u.a. zu einem Zink- und Vitamin-D-Mangel sowie regelmäßigen Migräneattacken mit einer Dauer von wenigen Tagen bis zu 2 Wochen vorgelegt worden.
Mit Bescheid vom 20.06.2022 stellte das Landratsamt R1 bei der Klägerin entsprechend der Stellungnahme des Z1 einen GdB von 30 seit 11.11.2021 fest. Eine Feststellung gesundheitlicher Merkmale (Merkzeichen) wurde abgelehnt.
Hiergegen erhob die Klägerin am 29.06.2022 Widerspruch. Sie habe bereits seit der Schulzeit aufgrund der „trans“-Diagnose unter Diskriminierung gelitten. Sie sei jeden Tag krank, behindert, habe Beschwerden und müsse zahlreiche Medikamente einnehmen, weshalb ein GdB von 100 bestehe. Es bestünden mehrere psychische/seelische Leiden durch Schmerz-Herde, die Beeinträchtigungen durch Allergien, Tinnitus und Schlafstörung, sowie die „trans“-Diagnose. Über Wirbelsäulen- und Beinbeschwerden könne wie über die Schlafstörung K2 berichten. Einen Orthopäden könne die Klägerin u.a. aus Sorge um die Aufdeckung ihrer Transidentität nicht aufsuchen. 2021 habe eine Orthopädin lediglich Schmerzmittel mit wenig Linderungseffekt verschrieben. Die starke Sehbeeinträchtigung stelle mindestens einen „Leidenswert 10“ dar. Entsprechendes gelte für die Allergien. Zudem seien die Wechselwirkungen der Störungen bei einem durch die Medikamente geschwächten Immunsystem nicht beachtet worden. Die Androgenisierungserscheinungen mit Hirsutismus und Alopezie sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Schließlich sei insbesondere die Hormonersatztherapie mit den Nebenwirkungen erheblich beeinträchtigend.
Mit Schreiben vom 27.07.2022 nahm die Klägerin ergänzend Stellung und legte u.a. weitere Befundunterlagen vor.
K2 von der internistischen Praxis S1/B2 gab in einer schriftlichen Auskunft vom 20.07.2022 gegenüber dem Landratsamt eine hausärztliche Betreuung der Klägerin seit 2020 an. Zu Neurosen, Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen sowie Depressionen könne eine Diagnosestellung nicht erfolgen. Chronische Schmerzen bestünden als generalisierte Knochenschmerzen, Knieschmerzen beidseits und im Bereich der Wirbelsäule (insbesondere LWS-Bereich und Schultergürtel) sowie durch chronische Kopfschmerzen. Behandelt werde mit Schmerzmedikation und regelmäßiger Physiotherapie. Die Sehbehinderung könne per Brille und Kontaktlinsen auf Normwerte korrigiert werden. Bezüglich Tinnitus und Allergien wurde insbesondere auf die HNO- und hautärztliche Berichterstattung verwiesen. Insgesamt sei die Verzahnung der verschiedenen Gesundheitsstörungen sehr ausgeprägt. Zudem habe die notwendige Hormontherapie einen entscheidenden Anteil an den bestehenden Beschwerden.
Z1 hielt in einer neuerlichen versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 02.09.2022 an seiner vormaligen Einschätzung fest.
Mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 06.02.2023 wurde der Widerspruch entsprechend den Bewertungsvorschlägen des Z1 als unbegründet zurückgewiesen.
Am 27.02.2023 hat die Klägerin beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben und sinngemäß beantragt, den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 20.06.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2023 zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 festzustellen. Die Führung eines weiteren Prozesses stelle für die Klägerin eine erhebliche psychische Belastung dar und von den Behörden erhalte sie keine Hilfe. Es müsse stets die individuelle Situation einer Person betrachtet werden, wobei Vergleiche mit anderen Menschen unzulässig seien. Im Jahr 2022 sei sie sehr häufig krankgeschrieben gewesen, wohingegen der Beklagte ihre Leiden trivialisiere. Auch seien die bestehenden Gesundheitsstörungen nicht getrennt voneinander, sondern in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Bereits durch die „Hauptdiagnose“ und die anerkannten Gesundheitsstörungen sei ihr Nervenkostüm in einem Maße von 100 % strapaziert, an sehr vielen Tagen sei sie komplett handlungsunfähig. Die nicht berücksichtigten weiteren körperlichen Leiden würden ebenfalls die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Aufgrund der Hauptdiagnose leide sie besonders stark unter möglichen Anzeichen von Männlichkeit, etwa einem Gigantismus durch eine Körpergröße, die nicht der weiblichen Norm bzw. dem weiblichen Durchschnitt entspreche. Die Körperschmerzen, die Kurzsichtigkeit, die Nebenwirkungen von Medikamenten insbesondere der Hormonersatztherapie, der Tinnitus, die Allergien sowie das chirurgische Ergebnis der Operationen im Genitalbereich seien nicht hinreichend gewürdigt worden. Insgesamt liege eine sehr schwere Störung mit sehr schwerwiegenden Anpassungsschwierigkeiten vor.
Mit Schreiben vom 06.03.2023 hat die Klägerin u.a. mitgeteilt, eine seitens des SG übersandte Erklärung zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht nicht unterschreiben zu wollen. Mit Schreiben vom 30.04.2023 hat sie mitgeteilt, dass eine Offenlegung all ihrer Akten mehr schaden als helfen würde, weshalb sie ihre Ärzte nicht vollständig von der Schweigepflicht entbinden könne. Nach Hinweis durch das SG auf die Bedeutung der Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht für die Ermittlung objektiver medizinischer Befunde zur Beweiserhebung für das Vorliegen eines mit höherem GdB zu bewertenden Gesundheitszustandes hat die Klägerin mit Schreiben vom 14.06.2023 u.a. ausgeführt, dass vom Versorgungsamt bereits ärztliche Unterlagen beigezogen worden seien. Eine weitere Entbindung ihrer Ärzte von der Schweigepflicht oder eine Teilnahme an einer Begutachtung sei nicht möglich.
Nach Anhörung mit Schreiben vom 19.06.2023 hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 30.04.2024 die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für eine höhere Bewertung des bei der Klägerin festzustellenden GdB seien nicht nachgewiesen. Aus den vorliegenden Befundangaben seien GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigungen des Sehvermögens, durch die Allergien und durch die orthopädischen Beschwerden nicht abzuleiten. Für das Kopfschmerzsyndrom bzw. die Migräne sei ein höherer GdB als 20 nicht feststellbar. Auch für einen höheren GdB als 30 aufgrund der seelischen Störung und des Tinnitus fehle es an objektiven Befunden. Dies gelte insbesondere auch für die von der Klägerin ausführlich geltend gemachten Folgen der Hormontherapie.
Gegen den am 03.05.2024 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 29.05.2024 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Sie sei eine Frau mit einem Geburtsfehler, indem ihr bei Geburt das falsche Geschlecht zugewiesen worden sei. Zur Begründung hat sie ihre vor dem SG und im Widerspruchsverfahren vorgetragenen Ausführungen nochmals bekräftigt. Zudem habe sie am 10.06.2024 einen Termin bei einem Lungenarzt. Eine Begutachtung erachte sie als nicht zumutbar. Die behandelnden Ärzte könnten auch keine vollständigen Atteste ausstellen, da sie jeweils nicht über alles Bescheid wüssten. Regelmäßig verschweige sie wichtige Informationen, um die „Hauptdiagnose“ nicht offenbaren zu müssen. Das SG habe sämtliche Leiden zu gering bewertet und zudem das Zusammenwirken nicht hinreichend berücksichtigt. Vorgelegt worden sind ein Attest von K2, ein Befundbericht der Pneumologischen Praxis im Zentrum in S2 über eine Vorstellung vom 25.09.2023 sowie Gebrauchsinformationen zu diversen Medikamenten teils mit handschriftlichen Markierungen bei den Angaben über mögliche Nebenwirkungen.
Die Klägerin beantragt sachdienlich gefasst,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Reutlingen vom 30.04.2024 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 20.06.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2023 zu verurteilen, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von mindestens 50 seit dem 11.11.2021 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Berufung im Wesentlichen unter Hinweis auf die Entscheidungsgründe des SG entgegengetreten.
Am 23.09.2024 hat der Berichterstatter das Verfahren mit den Beteiligten erörtert. Dabei ist darauf hingewiesen worden, dass eine Befragung der behandelnden Ärzte zu den vorliegenden Gesundheitsstörungen, sämtlichen erhobenen Befunden und den Fremdbefundberichten erforderlich sein dürfte, sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens in Betracht komme. Die Klägerin hat nochmals klargestellt, ihre Ärzte nicht von der Schweigepflicht zu entbinden, da sie nicht wolle, dass ihre gesamte Patientenakte vorgelegt werde. Auch zu einem Gutachter werde sie nicht gehen.
In der Folge hat die Klägerin neben umfassenden Stellungnahmen noch einen Kopfschmerzkalender für August und September 2024, einen Ausschnitt eines endokrinologischen Befundberichts vom 03.09.2024, eine Aufstellung der AOK über Arbeitsunfähigkeitszeiten, ein Attest der H1 vom 11.10.2024, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 12.09.2024 sowie ein Attest der F2 vom 02.10.2024 vorgelegt.
Die Klägerin hat wiederholt – zuletzt mit Schreiben vom 19.11.2024 – erklärt, dass sie um eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung bittet. Auch der Beklagte hat sich hiermit – zuletzt mit Schreiben vom 22.11.2024 – einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die sozialgerichtlichen Verfahrensakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Landratsamtes R1 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die nach § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist gemäß § 143 SGG statthaft und zulässig.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die – als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, § 56 SGG) statthafte – zulässige Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Der Bescheid vom 20.06.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.02.2023 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Diese hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30 seit dem 11.11.2021. Maßgebender Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hier der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats am 06.12.2024 (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 08.12.1988 – 2 RU 83/87 – juris Rn. 17; BSG, Beschluss vom 09.12.2018 – B 9 SB 48/19 B – juris Rn. 8).
Der Anspruch auf Feststellung des GdB richtet sich für den Zeitraum vom 11.11.2021 bis 31.12.2023 nach § 152 und § 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der vom 01.01.2018 bis 31.12.2023 geltenden Normfassung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234 <3238, 3280>) und für die Zeit seit dem 01.01.2024 nach § 152 SGB IX in der seit dem 01.01.2024 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vom 06.06.2023 (BGBl. I, Nr. 146, S. 2) i.V.m. § 2 SGB IX. Nach den Grundsätzen des intertemporalen Rechts ist die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche oder Rechtsverhältnisse grundsätzlich – soweit wie hier Übergangsregelungen fehlen – nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat (vgl. BSG, Beschluss vom 12.08.2021 – B 9 SB 20/21 B – juris Rn. 6).
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (bis 31.12.2023) bzw. des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch (seit 01.01.2024) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB oder gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben, wenn dafür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis 31.12.2023 geltenden Normfassung bzw. § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX in der seit 01.01.2024 geltenden Normfassung). Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX in der bis 31.12.2023 geltenden Normfassung bzw. § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der seit 01.01.2024 geltenden Normfassung). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Da noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX in der seit 01.01.2018 geltenden Normfassung). Hierbei handelt es sich um die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) in der vom 20.12.2019 bis 31.12.2023 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom 12.12.2019 (BGBl. I S. 2652, 2702) und der seit 01.01.2024 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vom 06.06.2023 (BGBl. I, Nr. 146, S. 6). Die Grundsätze zur Feststellung des GdB sind in der Anlage zu § 2 VersMedV als Bestandteil dieser Verordnung festgelegt (vgl. § 2 VersMedV). Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) werden teilhabeorientiert auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft und der Medizintechnik unter Berücksichtigung versorgungsmedizinischer Erfordernisse fortentwickelt (§ 153a Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IX in der seit 14.06.2023 geltenden Normfassung des Gesetzes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vom 06.06.2023 <BGBl. I, Nr. 146, S. 2>).
Allgemein gilt, dass der GdB nach den gleichen Grundsätzen wie der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) bemessen wird, aber auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache, also final bezogen ist (Teil A Nr. 2 lit. a VG). Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens (Teil A Nr. 2 lit. a VG). Der GdB ist unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen (Teil A Nr. 2 lit. b VG). Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus (Teil A Nr. 2 lit. c VG). Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“) bezeichnet werden (Teil A Nr. 2 lit. c VG).
Bei der nach Zehnergraden abgestuften Feststellung des GdB (vgl. § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX in der seit 01.01.2024 geltenden Normfassung) sollen im Allgemeinen die folgenden Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden: Gehirn einschließlich Psyche, Augen, Ohren, Atmung, Herz und Kreislauf, Verdauung, Harnorgane, Geschlechtsapparat, Haut, Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem, innere Sekretion und Stoffwechsel, Arme, Beine, Rumpf (Teil A Nr. 2 lit. e VG). Die in der GdB-Tabelle niedergelegten Sätze berücksichtigen bereits die üblichen seelischen Begleiterscheinungen (Teil A Nr. 2 lit. i VG). Sind die seelischen Begleiterscheinungen erheblich höher als aufgrund der organischen Veränderungen zu erwarten wäre, so ist ein höherer GdB gerechtfertigt. Vergleichsmaßstab ist dabei nicht der behinderte Mensch, der überhaupt nicht oder kaum unter seinem Körperschaden leidet, sondern die allgemeine ärztliche Erfahrung hinsichtlich der regelhaften Auswirkungen. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen sind anzunehmen, wenn anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, dass eine spezielle ärztliche Behandlung dieser Störungen – z.B. eine Psychotherapie – erforderlich ist (Teil A Nr. 2 lit. i VG). Die in der GdB-Tabelle angegebenen Werte schließen die üblicherweise vorhandenen Schmerzen mit ein und berücksichtigen auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände (Teil A Nr. 2 lit. j VG). Ist nach Ort und Ausmaß der pathologischen Veränderungen eine über das übliche Maß hinausgehende Schmerzhaftigkeit nachgewiesen, die eine ärztliche Behandlung erfordert, können höhere Werte angesetzt werden (Teil A Nr. 2 lit. j VG). Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden (Teil A Nr. 3 lit. a VG). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktions-beeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (Teil A Nr. 3 lit. c VG). Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein (Teil A Nr. 3 lit. d VG): Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken. Die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Die Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung werden durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (Teil A Nr. 3 lit. d sublit. ee Satz 1 VG). Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 lit. d sublit. ee Satz 2 VG).
Die auf diese Weise vorzunehmende Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe, die in freier Beweiswürdigung nach Maßgabe der VG vorzunehmen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 27.10.2022 – B 9 SB 4/21 R – juris Rn. 21 m.w.N.; BSG, Urteil vom 16.12.2021 – B 9 SB 6/19 R – juris Rn. 38 m.w.N.). Bei der rechtlichen Bewertung der Auswirkungen einer Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (vgl. BSG, Beschluss vom 04.05.2020 – B 9 SB 84/19 B – juris Rn. 6 m.w.N.).
Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsakts (vgl. BSG, Urteil vom 24.06.1998 – B 9 SB 17/97 R – juris Rn. 23). Der Einzel- bzw. Teil-GdB ist keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts, ist nicht isoliert anfechtbar und erwächst auch nicht in Bindung (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RVs 2/92 – juris Rn. 20; BSG, Beschluss vom 20.02.2019 – B 9 SB 67/18 B – juris Rn. 9).
Das Vorliegen von Gesundheitsstörungen, die mit einem bestimmten GdB zu bewerten sind, unterliegt dem Vollbeweis. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG, Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R – juris, Rn. 26, dazu auch im Folgenden). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Dies bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, a.a.O., m.w.N.). Kann sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass Gesundheitsstörungen vorliegen, die eine abweichende GdB-Bewertung rechtfertigen, so hat derjenige, der daraus Ansprüche ableitet, das Risiko der Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsache im Sinne einer objektiven Beweislast zu tragen. Wird – wie vorliegend – im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage eine höhere als die bisher festgestellte GdB-Bewertung begehrt, geht die Nichterweislichkeit entsprechender Funktionseinschränkungen zu Lasten des Betroffenen, vorliegend also der Klägerin.
Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßgaben und in Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30 im beantragten Zeitraum seit dem 11.11.2021.
Für eine höhere GdB-Bewertung fehlt es an aussagekräftigen Befunden, durch die der Vollbeweis entsprechender, eine Höherbewertung des GdB rechtfertigender Funktionsbeeinträchtigungen erbracht werden könnte. Nach § 103 Satz 1 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen, wobei die Beteiligten heranzuziehen sind. Bei der Erhebung von Daten hat das Gericht insbesondere Grenzen für Geheimnisträger zu beachten. Gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB macht sich u.a. strafbar, wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als Arzt anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist. Aus diesem Grund erfordert eine gerichtliche Beiziehung umfassender Behandlungsunterlagen und Befunddokumentationen von behandelnden Ärzten grundsätzlich eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht durch die Klägerin als Patientin (vgl. B. Schmidt in: Meyer-Ladewig u.a., SGG-Kommentar, 14. Aufl., § 106 Rn. 10 und § 103 Rn. 2b; Müller in: BeckOGK-SGG, Stand 01.11.2024, § 103 Rn. 42). Diese hat sich vorliegend trotz Hinweises auf die Bedeutung für die Beweisführung sowohl im Klage- als auch im Berufungsverfahren geweigert, ihre behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Der Senat war daher für die Beurteilung des Nachweises GdB-relevanter Funktionsbeeinträchtigungen auf die bereits im Verwaltungsverfahren beigezogenen sowie auf die im gerichtlichen Verfahren von der Klägerin selbst vorgelegten medizinischen Unterlagen beschränkt. Auch die Erstellung eines aktuellen umfassenden Befundes im Rahmen einer von Amts wegen zu veranlassenden Begutachtung durch einen medizinischen Sachverständigen war nicht geboten, nachdem die Klägerin bereits mitgeteilt hat, eine entsprechende gutachterliche Untersuchung zu verweigern. Auch die Einholung eines Gutachtens nach Aktenlage stellt keine geeignete Ermittlungsalternative dar, da die Begutachtung gerade auf Schließung von Lücken und Validierung der bereits aktenkundigen Befunddokumentationen durch Erhebung eines umfassenden Befundes im Rahmen einer gutachterlichen Untersuchung gerichtet gewesen wäre. Die Klägerin ist somit ihrer in § 103 Satz 1 SGG zum Ausdruck kommenden Mitwirkungslast bei den gerichtlichen Amtsermittlungen nicht nachgekommen, indem sie weder zur Entbindung ihrer behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht noch zur Mitwirkung an einer ärztlichen Begutachtung bereit war.
Bei der Klägerin besteht keine GdB-relevante Behinderung im Funktionssystem weibliche bzw. männliche Geschlechtsorgane (Geschlechtsapparat). Bei der Klägerin wurde im Jahr 2008 eine geschlechtsangleichende Operation Mann-zu-Frau mit weiteren Folgeoperationen durchgeführt. Der Senat entnimmt dies dem Bericht der H1 vom 27.01.2022 und dem Bericht des N1 vom 11.01.2022. Die hieraus resultierenden körperlichen Auswirkungen in Bezug auf die Geschlechtsorgane rechtfertigen nicht die Feststellung eines GdB.
Nach Teil B Nr. 13.1 VG rechtfertigt der Verlust des Penis einen GdB von 50. Unterentwicklung, Verlust oder vollständiger Schwund beider Hoden vor dem 8. Lebensjahrzehnt rechtfertigen je nach Ausgleichbarkeit des Hormonhaushalts durch Substitution einen GdB von 20-30. Ein Verlust der Gebärmutter bzw. eine Sterilität der Frau in jüngerem Lebensalter bei noch bestehendem Kinderwunsch rechtfertigt nach Teil B Nr. 14.2 VG einen GdB von 20. Unterentwicklung, Verlust oder Ausfall beider Eierstöcke rechtfertigen nach Teil B Nr. 14.3 VG im jüngeren Lebensalter bei noch bestehendem Kinderwunsch oder unzureichender Ausgleichbarkeit des Hormonausfalls durch Substitution einen GdB von 20-30. Kommt nach einem Verlust der weiblichen Brust beidseits eine Aufbauplastik zur Wiederherstellung der Brust mit Prothese zur Anwendung, so kann hierfür nach Teil B Nr. 14.1 VG je nach Ergebnis (z.B. Kapselfibrose, Dislokation der Prothese, Symmetrie) und je nach Art der Mastektomie ein GdB von 20-30 bzw. 20-40 angesetzt werden.
Ein Zustand nach medizinisch erfolgreich und komplikationslos durchgeführter geschlechtsangleichender Operation stellt demgegenüber für sich genommen keine Gesundheitsstörung dar, die nach Teil B Nr. 13 oder 14 VG mit einem GdB zu bewerten wäre (vgl. bereits LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.07.2010 - L 8 SB 3543/09 – juris Rn. 27 f.). Eine Behinderung setzt nach § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen voraus, die in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können, wobei entscheidend auf eine Abweichung vom für das jeweilige Lebensalter typischen Körper- und Gesundheitszustand abzustellen ist. In den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen wird die Bestimmung und Bewertung entsprechender Beeinträchtigungen unter Ausdifferenzierung nach Funktionssystemen und dort jeweils möglichen Funktionsbeeinträchtigungen umgesetzt. Die GdB-Bewertung knüpft daher an Funktionsbeeinträchtigungen an, sie knüpft hingegen nicht an Identitäten an. Dementsprechend stellt das Auseinanderfallen von Geschlechtsidentität (= Selbstidentifikation mit einem Geschlecht) und genetisch-biologischem Geschlecht ohne konkrete Beeinträchtigungen in einem oder mehreren Funktionssystemen für sich genommen noch keine Behinderung dar. Zwar findet sich in der ICD-10 unter F64.- ein Abschnitt zu Störungen der Geschlechtsidentität. Allerdings werden Konzept und Begrifflichkeit der Geschlechtsidentitätsstörung als schlichte Abweichung der Geschlechtsidentität von dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht kontrovers diskutiert: Das DSM-5 etwa spricht in Kategorie Nr. 14 von Geschlechtsdysphorie und legt damit den Fokus stärker auf den Leidensdruck durch die Abweichung, während in der ICD-11 eine Ersetzung der „Störungen der Geschlechtsidentität“ durch „Geschlechtsinkongruenz“ vorgesehen ist, wodurch u.a. Transsexualität entstigmatisiert wird (Pschyrembel-Online, Stichwort Geschlechtsidentität, Aktualisierungsstand 10/2022). Für die GdB-Bewertung kann die Frage der korrekten Bezeichnung letztlich dahinstehen, da es in erster Linie nicht auf gestellte Diagnosen, sondern auf Funktionsbeeinträchtigungen ankommt.
Die Differenzierung nach Funktionssystemen bedingt zunächst, dass bei einer Person mit genetisch-biologisch männlichem Geschlecht und zugleich weiblicher Geschlechtsidentität das Fehlen weiblicher Geschlechtsorgane für sich genommen keine Behinderung darstellt. Bei der betreffenden Person existiert kein Funktionssystem „weibliche Geschlechtsorgane“, dessen Funktion beeinträchtigt sein könnte, zumal solange bei den vorhandenen männlichen Geschlechtsorganen gerade keine Funktionsbeeinträchtigung vorliegt. In den VG kommt die Anknüpfung an tatsächlich vorhandene Funktionssysteme u.a. darin zum Ausdruck, dass etwa bei Penis, weiblicher Brust und Gebärmutter nicht an das Fehlen, sondern an den Verlust angeknüpft wird, wodurch ein vorheriges Vorhandensein impliziert wird. Für die unabhängig von der Geschlechtsidentität als solcher zu betrachtenden Funktionsbeeinträchtigungen in den jeweiligen tatsächlich angelegten Funktionssystemen spricht nicht zuletzt die Existenz nichtbinärer Geschlechtsidentitäten (rechtlich sog. „divers“) und die Schwierigkeit, für diese ein identitätskongruentes Funktionssystem Geschlechtsapparat abzugrenzen. Soweit die Abweichung der Geschlechtsidentität vom genetisch-biologischen Geschlecht mit einem hohen seelischen Leidensdruck einhergeht, der zu psychischen Funktionsbeeinträchtigungen führt, so sind diese entsprechend der funktionssystembezogenen Bewertung im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ und daselbst insbesondere in Teil B Nr. 3.7 VG zu berücksichtigen. Hierfür spricht nicht zuletzt die Einordnung der Störungen der Geschlechtsidentität in der ICD-10 bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen bzw. der Geschlechtsdysphorie im DSM-5 als psychische Störung.
Entsprechendes hat nach Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation zu gelten. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die erfolgreich durchgeführte geschlechtsangleichende Operation gerade einem Abbau der durch die Geschlechtsidentitätsstörung bzw. Geschlechtsinkongruenz bedingten Teilhabebeeinträchtigungen dient. Es würde daher dem Sinn und Zweck der GdB-Bewertung zuwiderlaufen, wenn der Verlust der männlichen Geschlechtsorgane (insbesondere Penis und Hoden) bei gleichzeitiger Nichtherstellbarkeit von Teilen der weiblichen Geschlechtsorgane (insbesondere Gebärmutter und Eierstöcke) zu einem höheren GdB als vor Durchführung der Operation führen würde. Nach einer medizinisch erfolgreich und komplikationslos durchgeführten geschlechtsangleichenden Operation Mann-zu-Frau sind daher weder das Fehlen von Gebärmutter und Eierstöcken (dazu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.07.2010 – L 8 SB 3543/09 – juris Rn. 27 f.) noch – aufgrund einer teleologischen Reduktion von Teil B Nr. 13.1 und 13.2 VG – der Verlust von Penis und Hoden (dazu auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.05.2022 – L 11 SB 125/18 – juris Rn. 38, wenngleich unzutreffend auf den typischen Zustand einer durchschnittlichen Frau abstellend) mit einem gesonderten GdB zu bewerten. Anderes mag gelten, wenn die geschlechtsangleichende Operation nicht gelingt oder Komplikationen auftreten. Der nach erfolgreicher und komplikationsloser Angleichungsoperation verbleibende seelische Leidensdruck angesichts der fortbestehenden – wenngleich verringerten – Inkongruenz zwischen Geschlechtsidentität und genetisch-biologischem bzw. anatomischem Geschlecht ist weiterhin lediglich im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu bewerten (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.03.2015 – L 13 SB 372/14 – juris Rn. 22). Entsprechendes hat für die Folgewirkungen einer postoperativen Hormonersatztherapie zum Ausgleich (von vornherein) nicht hinreichend vorhandener weiblicher Hormonbildungsstrukturen zur Unterdrückung von Androgenisierungserscheinungen zu gelten.
Unter Beachtung dieser Maßstäbe ist bei der Klägerin im Funktionssystem Geschlechtsapparat kein GdB anzusetzen. H1 gibt in ihrem Bericht vom 27.01.2022 an, dass etliche weitere Operationen erforderlich waren, um ein tolerierbares plastisches Ergebnis zu erhalten. Dadurch wird aber auch zum Ausdruck gebracht, dass ein tolerierbares plastisches Ergebnis letztlich erreicht worden ist. Zudem betont H1 besonders einen sehr großen psychischen Leidensdruck. N1 teilt in seiner Auskunft vom 11.01.2022 mit, dass die genitalangleichenden Operationen einschließlich Korrektureingriffen positiv verlaufen sind. Als Hauptproblem beschreibt er dementsprechend die psychische Situation der Klägerin mit anhaltender Unzufriedenheit in ästhetischer und funktionaler Hinsicht mit dem Operationsergebnis trotz letztlich adäquat verlaufener gegengeschlechtlicher therapeutischer Behandlungsmaßnahmen (einschließlich Hormonbehandlung und Operationen). Angesichts dieser ärztlichen Angaben können ein Misserfolg oder Komplikationen der geschlechtsangleichenden Behandlung, die mit einem eigenständigen GdB im Funktionssystem Geschlechtsapparat zu bewerten wären, nicht festgestellt werden. Der seelische Leidensdruck durch die fortbestehende Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der erfolgreichen Behandlungsmaßnahmen als anhaltende Auswirkungen der Geschlechtsinkongruenz ist lediglich im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche zu bewerten.
Aus entsprechenden Gründen liegt auch keine GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigung im Funktionssystem Haut einschließlich Kopf und Gesicht vor. Soweit die Klägerin einen dem typischen männlichen Verteilungsmuster entsprechenden Haarwuchs (Hirsutismus) und einen Haarausfall (Alopezie) geltend macht, handelt es sich dabei nicht um GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigungen. Vielmehr handelt es sich angesichts der genetisch männlichen Prägung um eine durchaus typische Funktionsentwicklung. Ein nach Teil B Nr. 17.11 VG GdB-relevanter totaler Haarausfall (mit Fehlen von Augenbrauen und Wimpern) ist nicht ärztlich beschrieben. Soweit das funktionsgerechte Behaarungsmuster in Inkongruenz zur Geschlechtsidentität der Klägerin steht, sind daraus resultierende etwaige psychische Funktionsbeeinträchtigungen wiederum im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche zu bewerten. Auch bei der Frage etwa einer Entstellung des Gesichts nach Teil B Nr. 2.1 VG kommt es auf objektivierbare Funktionsbeeinträchtigungen an. Unerheblich ist hingegen in diesem Funktionssystem, ob die betroffene Person sich wegen Inkongruenz der äußeren Erscheinung mit ihrer Selbstidentifikation als entstellt empfindet. Soweit dies mit eigenständigen psychischen Funktionsbeeinträchtigungen einhergeht, sind diese ggf. im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche zu bewerten. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass die Hormonersatztherapie zur Unterdrückung der Androgenisierungserscheinungen erfolgreich ist. Bereits N1 gab in seinem Bericht vom 11.01.2022 einen adäquaten Behandlungsverlauf auch der Hormonbehandlung an. K2 hat in ihrem Attest vom 22.04.2024 angegeben, dass es bei einer Reduzierung der Medikation sofort zu einer Androgenisierung mit Haarausfall und männlichem Haarwuchsmuster kommt. Auch dies impliziert, dass unter Medikation diese Erscheinungen erfolgreich unterdrückt werden. Etwaige objektivierbare Nebenwirkungen der Hormonbehandlung sind wegen des Zusammenhangs des Behandlungserfordernisses mit der Geschlechtsinkongruenz wiederum ggf. im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche zu bewerten.
Im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche können jedenfalls keine Gesundheitsstörungen festgestellt werden, deren Ausmaß die Bewertung mit einem höheren GdB als 30 rechtfertigen könnte.
Nach Teil B Nr. 3.7 VG sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdB von 0-20 zu bewerten, wohingegen ein GdB von 30-40 eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) voraussetzt. Ein GdB von 50 oder mehr kommt erst bei einer schweren Störung (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit zumindest mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht. Ohrgeräusche (Tinnitus) werden nach Teil B Nr. 5.3 VG ähnlich bewertet: Ohne nennenswerte Begleiterscheinungen besteht ein GdB von 0-10, mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen besteht ein GdB von 20, wohingegen ein GdB von 30-40 wiederum eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und ein GdB ab 50 eine schwere psychische Störung mit sozialen Anpassungsschwierigkeiten voraussetzt. Liegt eine eigenständige Hörstörung nicht vor, ist es daher sachgerecht, den Tinnitus im Funktionssystem Gehirn und Psyche mitzubewerten.
Im vorliegenden Fall gab N1 in seinem Bericht vom 11.01.2022 an Diagnosen bei der Klägerin einen Transsexualismus Mann-zu-Frau, einen Z.n. Exstirpation einer rechts hochfrontal gelegenen Hirnblutung 06/2003, einen Kombinationskopfschmerz (Migräne/Spannungskopfschmerz/zervikogener Kopfschmerz), eine mittelgradige depressive Episode, eine soziale Phobie mit Dysmorphophobie sowie eine Persönlichkeitsstörung mit paranoiden, sensitiven und dysthymen Anteilen an. Ein umfassender und von den anamnestischen Angaben der Klägerin eindeutig getrennter psychopathologischer Befund kann dem Bericht jedoch nicht entnommen werden. Daher ist unklar, inwiefern die von N1 angegebenen Beeinträchtigungen etwa zu den Nebenwirkungen der Hormonersatztherapie (angegeben wurden Erschöpfungszustände, Kraftlosigkeit, Energielosigkeit und Antriebslosigkeit) auf seinerseits objektivierbar erhobenen Befunden oder auf subjektiven Angaben der Klägerin beruhen. Auch hinsichtlich der angegebenen Diagnosen einer depressiven Erkrankung, einer Angsterkrankung und einer Persönlichkeitsstörung kann das betreffende Ausmaß nicht befundgestützt objektiviert werden, zumal neben der fehlenden Abgrenzung von subjektiven anamnestischen Beschwerden und objektivierbaren Befundfeststellungen auch eine hinreichende Validierung der geklagten Beschwerden nicht ersichtlich ist. Hinzu kommt, dass K2 aus der hausärztlichen Praxis S1 und B2 in ihrem Bericht vom 20.07.2022 angab, eine Depression nicht diagnostizieren zu können. Im Auszug der Patientenkartei der betreffenden Praxis findet sich vielmehr wiederholt die Diagnose einer Dysthymie, wobei es sich nach ICD-10 F34.1 definitionsgemäß um eine chronische, wenigstens mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung handelt, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder selbst leichten rezidivierenden depressiven Störung zu erfüllen. Auch hinsichtlich eines von K2 angegebenen chronischen Schmerzsyndroms und der darauf zurückgeführten Folge einer Konzentrationsstörung finden sich keine umfassenden und von der Anamnese getrennten objektivierbaren Befundfeststellungen.
Der Z1 bewertete die psychischen Funktionseinschränkungen der Klägerin mit einem GdB von 30 und somit als stärker behindernde Störung. Ein höherer GdB nach Teil B Nr. 3.7 VG lässt sich in Ermangelung aussagekräftiger Befunde nicht feststellen. Hierin ist auch ein geklagter Tinnitus der Klägerin bereits berücksichtigt. Ein solcher wurde zwar in den Berichten etwa von N1 und K2 berichtet, eine umfassende Diagnostik insbesondere auch zum Ausmaß psychovegetativer Begleiterscheinungen ist hingegen nicht festzustellen. Ebenfalls darin enthalten sind die als Folgen der Hormonersatztherapie angegebenen Erschöpfungszustände, Kraftlosigkeit, Energielosigkeit und Antriebslosigkeit. Auch diesbezüglich fehlt es für eine höhere GdB-Bewertung an aussagekräftigen und objektivierbaren psychopathologischen Befunden. Im Attest von K2 vom 22.04.2024 wird nicht deutlich, inwiefern bei der Klägerin konkrete Befunde erhoben und mitgeteilt oder nur allgemein mögliche Folgen einer Östrogenisierung beschrieben wurden. Auch im abgeschnittenen Befundbericht der endokrinologischen Praxis in S2 vom 03.09.2024 sind zwar die Diagnosen einer Geschlechtsinkongruenz, einer Alopezie, chronischer Kopfschmerzen sowie einer Hyperprolaktinämie angegeben worden, neben anamnestischen Angaben der Klägerin enthält der Bericht an objektivierbaren Befunden jedoch lediglich Angaben zu Größe, Gewicht, BMI, Blutdruck und Puls, die noch mit handschriftlichen Ergänzungen der Klägerin versehen sind. Die Ausstellung eines von der Klägerin vorformulierten Attestes wurde seitens der in der Praxis tätigen M1 abgelehnt. Schließlich sind auch im ärztlichen Attest der F2 vom 02.10.2024 zu konkreten Nebenwirkungen der Hormonersatztherapie lediglich die eigenen Angaben der Klägerin ohne objektivierbare Befundfeststellungen wiedergegeben worden.
Keine höhere Bewertung im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche rechtfertigen die von N1 angegebenen Diagnosen eines Z.n. Exstirpation einer rechts hochfrontal gelegenen Hirnblutung 06/2003, eines Kombinationskopfschmerzes (Migräne/Spannungskopfschmerz/zervikogener Kopfschmerz). Gemäß Teil B Nr. 3.1 VG beträgt nach Hirnschäden auch unter Einschluss geringer z.B. vegetativer Beschwerden der GdB 20, wenn bei späteren Untersuchungen keine hirnorganischen Funktionsstörungen und Leistungsbeeinträchtigungen mehr zu erkennen sind. Die echte Migräne wird nach Teil B Nr. 2.3 VG in Abhängigkeit von Häufigkeit und Dauer der Anfälle sowie Ausprägung der Begleiterscheinungen bewertet. Dabei begründet eine leichte Verlaufsform mit Anfällen durchschnittlich 1-mal monatlich einen GdB von 0-10, eine mittelgradige Verlaufsform (häufigere Anfälle, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend) einen GdB von 20-40 und eine schwere Verlaufsform (lang andauernde Anfälle mit stark ausgeprägten Begleiterscheinungen, Anfallspausen von nur wenigen Tagen) einen GdB von 50-60.
Bei der Klägerin berichtete N1 am 11.01.2022 einen komplikationslosen Verlauf der operativen Entfernung der atypischen rechtsfrontal gelegenen Blutung am 23.06.2003, die auf ein Mikroangiom zurückgeführt wurde. Objektivierbar fortbestehende Hirnschäden sind nicht berichtet, sodass ohne anhaltende hirnorganische Funktionsstörung kein höherer GdB als 20 berücksichtigt werden kann. N1 hat lediglich die subjektive Einschätzung der Klägerin wiedergegeben, wonach diese in der Folge eine Zunahme der Kopfschmerzsymptomatik beobachtet habe. Hinsichtlich der Kopfschmerzen wurden u.a. mehrere ältere Atteste vorgelegt. Daraus wird jedoch jeweils nicht ersichtlich, welche Angaben auf anamnestischen Beschwerden der Klägerin beruhen und was wann konkret und objektivierbar ärztlicherseits untersucht und befundet wurde. Insofern kann auch unter Mitberücksichtigung der Kopfschmerzsymptomatik kein höherer GdB als 20 für den Z.n. Hirnblutung, die Migräne und das Kopfschmerzsyndrom festgestellt werden. Soweit die Klägerin zuletzt noch einen Kopfschmerzkalender für die Monate August und September 2024 vorgelegt hat, ergibt sich bereits aus dem zugehörigen Schriftsatz vom 01.10.2024, dass der Kalender erst im Nachhinein ausgefüllt worden ist. Zudem reicht die vorgelegte Dokumentation im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch nicht mindestens 6 Monate zurück, und auch die Einbindung der Dokumentation in die laufende Behandlung ist daraus nicht nachvollziehbar. Das nachträgliche Ausfüllen eines Kopfschmerzkalenders vermag letztlich das Fehlen aussagekräftiger ärztlicher Befunde nicht zu ersetzen.
Unter integrativer Betrachtung des seelischen Leidens samt Tinnitus und Nebenwirkungen der Hormonersatztherapie sowie der Hirnblutung, der Migräne und des Kopfschmerzsyndroms kann im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche kein höherer GdB als 30 festgestellt werden. Letztlich mangelt es hierfür an aussagekräftigen und objektivierbaren (fach-) ärztlichen Befundfeststellungen, denen ein Gesamtausmaß der betreffenden Funktionsbeeinträchtigungen vergleichbar zu mit einem GdB von 40 bewerteten Störungsbildern entnommen werden könnte.
Im Funktionssystem Rumpf, zu welchem auch die Wirbelsäule zählt, kann kein GdB von wenigstens 10 festgestellt werden. Bei Wirbelsäulenschäden ergibt sich der GdB nach Teil B Nr. 18.9 VG primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der einzige vorliegende orthopädische Bericht mit aussagekräftigen Befunden datiert vom 24.03.2021 von G1 aus der orthopädisch-unfallchirurgischen Praxis L1. Darin wurden an Diagnosen ein BWS-Syndrom, eine Lumbago, ein Spreizfuß beidseitig und ein Plattfuß beidseitig angegeben. An auffälligen Befunden wurden dabei neben der Fußdeformität lediglich ein diskreter Druckschmerz paravertebral der unteren LWS beidseits und ein Druckschmerz über den Facetten der oberen LWS angegeben. Der Finger-Boden-Abstand betrug 0 cm, das Zeichen nach Lasègue war beidseits negativ und ein sensomotorisches Defizit wurde verneint. Ebenso wurden bei Gang- und Standproben keine Einschränkungen beschrieben. In einem Bericht der Kreiskliniken R1 über eine ambulante Notfallbehandlung der Klägerin am 27.09.2020 wegen thorakaler Schmerzen wurde zwar angesichts unauffälliger Herz-Kreislauf-Befunde differentialdiagnostisch eine muskuloskelettale Genese erwogen, ein betreffender orthopädischer Befund wurde jedoch nicht erhoben. Hiernach können keine überdauernden zumindest geringen funktionellen Auswirkungen der Wirbelsäule, die einen GdB von 10 rechtfertigen würden, abgeleitet werden. Vielmehr ist ohne objektivierbare Bewegungseinschränkung oder Instabilität nach Teil B Nr. 18.9 VG ein GdB von 0 anzusetzen. Dies gilt nach Teil B Nr. 18.14 VG auch für die angegebenen Fußdeformitäten ohne objektivierbare wesentliche statische Auswirkungen.
Im Funktionssystem Atmung kann ebenfalls eine nicht nur vorübergehende GdB-relevante Funktionseinschränkung nicht festgestellt werden. Die Bewertung eines Bronchialasthmas ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion richtet sich nach Teil B Nr. 8.5 VG. Danach rechtfertigt eine Hyperreagibilität mit seltenen (saisonalen) und/oder leichten Anfällen einen GdB von 0-20, eine Hyperreagibilität mit häufigeren (mehrmals pro Monat) und/oder schweren Anfällen einen GdB von 30-40. Im Fall der Klägerin beschrieb bereits die B1 in ihrem Bericht gegenüber dem Landratsamt R1 eine Pollinosis und Pollenallergie in Bezug auf Gräser, Roggen und Hausstaubmilben. Lungenärztlich findet sich lediglich ein Bericht der Pneumologischen Praxis im Zentrum in S2 über eine Erstvorstellung am 23.09.2023. Darin sind an objektivierbaren Befunden eine unauffällige körperliche Untersuchung und Sauerstoffsättigung angegeben worden. Hinsichtlich der Lungenfunktion haben sich ohne bekannte Vorbefunde lediglich eine leichtgradige periphere Obstruktion und eine leichtgradige Überblähung gezeigt, während eine zentrale Obstruktion, eine Restriktion und eine Erhöhung des Atemwegswiderstandes verneint worden sind. Der Peak-Flow ist normal gewesen und die Vitalkapazität hat bei 131 % gelegen. Insbesondere in Zusammenschau mit den anamnestischen Angaben u.a. zu täglichen rhinitischen und teilweise konjunktivalen Beschwerden bei Bewegung im Freien während der Pollensaison ist eine asthmatische Komponente der Beschwerdesymptomatik angenommen und mit inhalativer Therapie anbehandelt worden. Ein mehr als 6 Monate überdauerndes Ausmaß einer bronchialen Hyperreagibilität, die einen GdB von mindestens 10 begründet, kann daraus nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden.
Im Funktionssystem Harnorgane ist kein GdB festzustellen. H1 gab in ihrem Bericht vom 27.01.2022 lediglich an, die Miktion sei nicht problemlos, ohne konkrete Befunde zu beschreiben oder auch nur klarzustellen, ob es sich dabei um objektive Befundbeobachtungen oder Schilderungen der Klägerin handelt. N1 gab in seinem Bericht vom 11.01.2022 lediglich Schilderungen der Klägerin zu Schwierigkeiten beim Wasserlassen wieder. Hiernach ist weder eine Entleerungsstörung der Blase i.S.v. Teil B Nr. 12.2.2 VG (z.B. geringe Restharnbildung, längeres Nachträufeln) noch eine Harninkontinenz nach Teil B Nr. 12.2.4 VG von GdB-Relevanz festzustellen.
Im Funktionssystem Augen schließlich ist ebenfalls kein GdB anzusetzen. Maßgeblich ist nach Teil B Nr. 4 VG die korrigierte Sehschärfe. K1 beschrieb in ihrem Befund mit Korrektur einen Visus von 0,9-1,0 auf dem rechten Auge und 1,0 auf dem linken Auge. Dies begründet nach Teil B Nr. 4.3 VG einen GdB von 0.
Zusammenfassend ist bei der Klägerin aufgrund der objektivierbaren Funktionsbeeinträchtigungen in anderen Funktionssystemen als dem Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche kein GdB festzustellen. Auch in diesem Funktionssystem kann kein höherer GdB als 30 festgestellt werden, sodass zugleich auch kein höherer Gesamt-GdB als 30 festgestellt werden kann. Für eine höhere GdB-Bewertung fehlt es an entsprechenden aussagekräftigen Befunden. Die Angaben zu möglichen Nebenwirkungen in den vorgelegten Gebrauchsinformationen zu diversen Medikamenten vermögen ärztliche Befundfeststellungen über das Ausmaß von Funktionsbeeinträchtigungen im konkreten Fall nicht zu ersetzen. Da die Klägerin sich auch nach wiederholtem Hinweis auf die Bedeutung für die Beweisführung geweigert hat, ihre behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden, ist es dem Senat nicht möglich gewesen, durch Beiziehung umfassender Behandlungsunterlagen und Befunddokumentationen von behandelnden Ärzten entsprechende aussagekräftige Befunde zu ermitteln. Auch bezüglich der Möglichkeit einer gutachterlichen Untersuchung durch einen Sachverständigen hat die Klägerin erklärt, dass sie nicht bereit ist, an einer solchen Begutachtung mitzuwirken. Somit ist dem Senat eine weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich gewesen.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 355/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1657/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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