- Die Klage auf Feststellung eines Einzel-GdB ist unzulässig. Der Einzel-GdB ist keiner eigenen Feststellung zugänglich. Denn er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts und ist nicht isoliert anfechtbar. Er erwächst auch nicht in Bindung (vgl. nur Bundessozialgericht, Beschluss vom 20. Februar 2019 - B 9 SB 67/18 B – juris).
- Dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin Statusentscheidungen der Versorgungsämter bei der Prüfung inhaltsgleicher Tatbestandsvoraussetzungen für in anderen Gesetzen geregelte Vergünstigungen oder Nachteilsausgleiche für die hierfür jeweils zuständigen anderen Verwaltungsbehörden bindend sind (vgl. Urteil vom 17. April 2024 - 18 K 233/23 – juris zum LPflGG), ändert daran nichts, weil es sich bei der Feststellung eines Einzel-GdB um keine Statusentscheidung handelt.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt die Feststellungen eines Einzel-Grades der Behinderung (GdB) von mehr als 90 für den Funktionsbereich Ohren und des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Die 1973 in der Türkei geborene Klägerin studierte nach dem Abschluss einer Regelschule Betriebswirtschaftslehre und zog anschließend 1997 nach Deutschland. Bereits mit Bescheid vom 8. April 1998 stellte der Beklagte zugunsten der Klägerin den GdB mit 60 fest wegen einer hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit beiderseits (Einzel-GdB 50) und einer Sehbehinderung (Einzel-GdB 20). Daneben stellte der Beklagte unter anderem die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ (Ermäßigung der Rundfunkgebühren) fest. Mit Bescheid vom 10. Oktober 2003 erhöhte der Beklagte den GdB auf 70 wegen einer Hör- (Einzel-GdB 70) und Sehbehinderung (Einzel-GdB 20) bei Bestätigung des Merkzeichens „RF“. Mit weiterem Bescheid vom 22. Oktober 2007 erhöhte der Beklagte den GdB auf 80 wegen einer Hör- (Einzel-GdB 70) und Sehbehinderung (Einzel-GdB 20) sowie einer Depression (Einzel-GdB 20) bei Bestätigung des Merkzeichens „RF“.
Einen Antrag der Klägerin vom 2. April 2014, mit dem unter anderem auch das eingangs genannte Merkzeichen geltend gemacht wurde, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 6. August 2014 ab, wobei er weiterhin eine Hörbehinderung mit einem Einzel-GdB von 70 und eine Depression mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete, während er die Sehbehinderung – ebenso wie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und eine Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beiderseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform – mit einem Einzel-GdB von 10 bewertete.
Am 27. Oktober 2014 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 6. August 2014. Ihre Schwerhörigkeit sei vor Vollendung des 7. Lebensjahres eingetreten, so dass der GdB mit 100 zu bewerten sei. Ein seelisches Leiden einschließlich einer Migräne sei mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Zudem sei ihr aufgrund beidseitiger Taubheit das Merkzeichen „Gl“ (Gehörlosigkeit) zu gewähren. Das Merkzeichen „G“ stehe ihr, die einen Rollator nutze, wegen einer auch mit Sehhilfen nicht vollständig auszugleichender Sehstörung in Verbindung mit ihrer Schwerhörigkeit sowie Gleichgewichtsstörungen zu. Auch das Merkzeichen „B“ (Berechtigung für eine ständige Begleitung) stehe ihr zu. Der Beklagte gab dem Antrag mit Bescheid vom 28. April 2015 insoweit statt, als er den Bescheid vom 6. August 2014 mit Wirkung ab dem 2. April 2014 teilweise zurücknahm und den GdB mit 90 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „Gl“ feststellte. Der Beklagte bewertete eine beidseitige Taubheit mit einem Einzel-GdB von 80, eine Depression mit einem Einzel-GdB von 30 sowie mit Einzel-GdB von je 10 Gleichgewichtsstörungen, eine Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beiderseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule sowie eine Sehbehinderung beidseitig. Ein GdB von 100 liege nicht vor, weil eine progrediente Hörstörung bestehe. Tonschwellenaudiogramme hätten im April 1997/September 2003 einen Hörverlust rechts von 81% und links von 90% und im Juli 2007 rechts von 100% und links von 94% ergeben. Eine beidseitige Taubheit habe sich erst in Auswertung der Tonschwellenaudiogramme vom 18. November 2011 und vom 15. Oktober 2013 ergeben. Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch holte der Beklagte ein ärztliches Gutachten bei der Neurologin und Psychiaterin F vom 23. September 2015 ein, die zwar von einem Einzel-GdB von 20 für die Gleichgewichtsstörungen ausging, den Gesamt-GdB von 90 aber bestätigte bei Nichtvorliegen des Merkzeichens „G“. Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2015 zurück. Auch der mit dem Widerspruch geltend gemachte Einzel-GdB von 90 für die beidseitige Taubheit liege nicht vor.
Hiergegen hat die Klägerin am 29. Oktober 2015 Klage erhoben. Ihre an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit bestehe seit frühester Kindheit, sei aber in jedem Fall vor dem 7. Lebensjahr eingetreten. Dem stehe die Progredienz der Schwerhörigkeit nicht zwingend entgegen. Bei ihr bestünden erhebliche Sprachstörungen mit kaum verständlicher Lautsprache. Da sie die Gewährung von Gehörlosengeld nach dem Landespflegegeldgesetz (LPflGG) begehre, sei ein Einzel-GdB von mehr als 90 für den Funktionsbereich Ohren erforderlich. Aufgrund des ihr zuerkannten Merkzeichens „Gl“ sei von einer erheblichen Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit auszugehen. Aufgrund der bestehenden Gleichgewichtsstörungen und der Angewiesenheit auf einen Rollator lägen auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ vor.
Das Sozialgericht hat Befundberichte bei dem Chirurgen Dr. T, bei der Psychiaterin und Neurologin Y, dem HNO-Arzt L, dem Augenarzt Dr. K und dem Allgemeinmediziner Dr. M eingeholt.
Das Sozialgericht hat bei dem HNO-Arzt Prof. Dr. J ein Gutachten vom 25. Januar 2018 eingeholt, das dieser nach ambulanten Untersuchungen der Klägerin am 4. September und 4. Dezember 2017 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB sei mit 90 zu bewerten. Dabei sei eine an Taubheit grenzende Hörminderung beidseits einschließlich Tinnitus aurium mit einem Einzel-GdB von 80 zu bewerten. Rechts bestehe eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit, links Taubheit; diese Hörminderung sei nach dem Spracherwerb eingetreten. Eine Sehbehinderung, ein Wirbelsäulenleiden sowie ein Leiden der unteren Extremitäten seien je mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, Gleichgewichtsstörungen könnten mit keinem Einzel-GdB bewertet werden. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ lägen nicht vor. Ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten werde angeregt.
Die Klägerin hat gegen das Gutachten unter anderem eingewendet, tatsächlich sei ihre Hörminderung vor Abschluss des Spracherwerbs – möglicherweise im Zuge einer im 3. Lebensjahr eingetretenen Erkrankung – eingetreten. Der Sachverständige hat in einer ergänzenden Stellungnahme vom 24. April 2018 hierzu ausgeführt, die Klägerin habe selbst erklärt, erst vor 18 Jahren – also mit 23 Jahren – mit einem Hörgerät versorgt worden zu sein. Trotz der Hörminderung sei ein regelrechter Spracherwerb möglich gewesen.
Die Klägerin hat schriftliche Erklärungen von Bekannten zu den Gerichtsakten gereicht. Ihre Mutter hat erklärt, die Klägerin sei mit 3 Jahren infolge der Nebenwirkung einer Impfung akut erkrankt. Sie habe dann langsam angefangen, die Hörfähigkeit zu verlieren, in der Familie habe keiner bis zum Abschluss der Grundschule bemerkt, dass die Klägerin nicht hören könne.
Das Sozialgericht hat anschließend einen weiteren Befundbericht bei der Psychiaterin und Neurologin Y eingeholt.
Das Sozialgericht hat bei der Psychiaterin Prof. Dr. S- ein psychiatrisches Gutachten vom 13. Juni 2022 eingeholt, das diese nach ambulanten Untersuchungen am 11. und 13. Januar 2022 erstellt hat und in dem sie zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB sei mit 90 zu bewerten. Die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit sei mit einem Einzel-GdB von 80 zu bewerten, daneben seien eine Migräne mit Aura mit einem Einzel-GdB von 30 und eine somatoforme, anhaltende Schmerzstörung mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ lägen nicht vor.
Das Sozialgericht hat die auf Feststellungen eines Einzel-GdB von 90 für den Funktionsbereich Ohren und des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ gerichtete Klage durch Urteil vom 1. Dezember 2022 abgewiesen. Allerdings sei die auf Feststellung eines Einzel-GdB von 90 gerichtete Klage ausnahmsweise zulässig, weil es zumindest nicht ausgeschlossen sei, dass die Klägerin im Fall der begehrten Feststellung im Antragsverfahren auf Pflegegeld eine vorteilhafte Rechtsstellung habe. Rechtsgrundlage sei § 44 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Dessen Voraussetzungen lägen hier nicht vor, weil die Klägerin keinen Anspruch auf die begehrten Feststellungen habe. Der Einzel-GdB für das Funktionssystem Hör- und Gleichgewichtsorgan sei mit 80 zu bemessen, was sich aus den Gutachten von Prof. Dr. J und Prof. Dr. S- ergebe. Dabei gehe Teil B Nr. 5.1 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) davon aus, dass der GdB nicht nur von der Hörfähigkeit, sondern auch vom Sprech- und Sprachvermögen des Betroffenen abhängig sei. Die Sachverständige Prof. Dr. S- habe ausgeführt, dass die Kommunikation überraschend gut gewesen sei, insbesondere spreche die Klägerin sehr gut und klar türkisch. Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ lägen nicht vor. Die Voraussetzungen von Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 VersMedV lägen nicht vor, auch habe die Sachverständige Prof. Dr. S- ausgeführt, es bestünden keine durchgreifenden Zweifel an einem ausreichenden Gehvermögen der Klägerin. Nichts anderes ergebe sich aus der hier nur mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden somatoformen Schmerzstörung.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 9. Dezember 2022 zugestellte Urteil am 5. Januar 2023 Berufung eingelegt. Die auf Feststellung eines Einzel-GdB gerichtete Klage müsse zulässig sein, wenn sich daraus weitere Konsequenzen ergäben wie dies beispielsweise beim Antrag auf Gehörlosengeld nach dem LPflGG der Fall sei. Ein alleiniger Antrag auf Leistungen nach dem LPflGG sei nicht ausreichend, da die Behörde keine eigenständige Prüfung vornehme, sondern sich den Feststellungen des Beklagten ohne weitere Ermittlungen anschließe. Ihre Schwerhörigkeit sei in jedem Fall vor ihrem 7. Lebensjahr eingetreten. Zudem lägen erhebliche Sprachstörungen mit kaum verständlicher Lautsprache in deutscher Sprache vor, so dass bereits deshalb ein Einzel-GdB von 100 vorliege. Maßgeblich sei das Sprachvermögen in deutscher, nicht türkischer Sprache, da sie sich in Deutschland aufhalte. Auch lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ vor, da ihr das Merkzeichen „Gl“ zuerkannt worden und damit von einer erheblichen Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit auszugehen sei. Neben den Gleichgewichtsstörungen bestünden auch erhebliche psychische Erkrankungen wie eine Depression und eine Migräne. Sie bestünden neben der an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit und führten zu einer erheblichen Störung der Ausgleichsfunktion. Zudem sei sie auf einen Rollator angewiesen.
Die Klägerin beantragt zuletzt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2022 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 28. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2015 zu verurteilen, den Bescheid vom 6. August 2014 zurückzunehmen und zu ihren Gunsten mit Wirkung ab dem 2. April 2014 für den Funktionsbereich Ohren einen Einzel-GdB von mehr als 90 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
II.
Der Senat kann nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheiden, denn er hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind auch nach § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG über die Absicht des Senats angehört worden.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist im Wesentlichen zutreffend. Die Klage ist in Bezug auf die Feststellung eines Einzel-GdB von - zuletzt mit Schriftsatz vom 2. Januar 2025 - mehr als 90 für den Funktionsbereich Hören allerdings bereits unzulässig. Hinsichtlich des Merkzeichens „G“ ist die zulässige Klage nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 28. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat im Zugunstenverfahren keinen Anspruch auf das Merkzeichen „G“. Denn insoweit ist der Bescheid vom 6. August 2014 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die Klage auf Feststellung eines Einzel-GdB von – zuletzt – mehr als 90 für den Funktionsbereich Hören ist unzulässig. Der Einzel-GdB ist keiner eigenen Feststellung zugänglich. Denn er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts und ist nicht isoliert anfechtbar. Er erwächst auch nicht in Bindung (vgl. nur Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 20. Februar 2019 - B 9 SB 67/18 B – juris, m. w. N.). Wird die Festlegung eines Einzel-GdB angegriffen, muss zugleich dargetan werden, dass sich hierdurch der Gesamt-GdB ändern muss. Dass hat die anwaltlich vertretene Klägerin aber nicht getan, sondern zuletzt ausdrücklich die Feststellung eines Einzel-GdB von mehr 90 beantragt und diesen Antrag auch nicht nach dem Hinweis des Berichterstatters im gerichtlichen Schreiben vom 11. Juli 2024 geändert, in dem die Klägerin auch darauf hingewiesen worden ist, dass ein Einzel-GdB keiner eigenen Feststellung zugänglich sei. Dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin Statusentscheidungen der Versorgungsämter bei der Prüfung inhaltsgleicher Tatbestandsvoraussetzungen für in anderen Gesetzen geregelte Vergünstigungen oder Nachteilsausgleiche für die hierfür jeweils zuständigen anderen Verwaltungsbehörden bindend sind (vgl. Urteil vom 17. April 2024 - 18 K 233/23 – juris zum LPflGG), ändert daran nichts, weil es sich bei der Feststellung eines Einzel-GdB nach dem Gesagten um keine Statusentscheidung handelt. Deshalb ist es auch unerheblich, soweit die Klägerin vorträgt, die für das LPflGG zuständige Behörde nehme keine eigenständige Prüfung vor, sondern schließe sich den Feststellungen des Beklagten ohne weitere Ermittlungen an. Denn der Beklagte stellt keinen Einzel-GdB fest. Die Klage ist im Übrigen auch deshalb unzulässig, weil der zur Überprüfung gestellte Bescheid vom 6. August 2014 keine Regelung zu einem Einzel-GdB getroffen hat.
Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ liegen nicht vor. Rechtsgrundlage insoweit ist § 44 Abs. 2 SGB X (vgl. nur BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 - B 9 SB 2/11 R – juris). § 44 Abs. 2 Satz 1 iVm Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides – hier in Ermangelung eines solchen des Bescheides vom 6. August 2014 -, wobei neuere rechtliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind.
Anspruchsgrundlage für die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ sind die §§ 69 Abs. 4, 145 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung. Danach hat die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständige Behörde das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ festzustellen, wenn ein schwerbehinderter Mensch infolge seiner Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Mit diesen Bestimmungen fordert das Gesetz eine doppelte Kausalität. Denn Ursache der beeinträchtigenden Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken.
Die nähere Präzisierung des Personenkreises schwerbehinderter Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ergibt sich wiederum aus der Anlage zu § 2 VersMedV, die auch insoweit Verwaltung und Gerichte bindet. Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ ergeben sich aus Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 VersMedV. Darin werden die bereits aus § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX folgenden Grundsätze zunächst wiederholt. Darüber hinaus wird geregelt, dass es bei der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ vorliegen, nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles ankommt, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d. h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa 2 km, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. insbesondere Teil D Nr. 1 b) der Anlage zu § 2 VersMedV).
Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen, bei denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind, enthalten die Bestimmungen in Teil D Nr. 1 d) bis f) der Anlage zu § 2 VersMedV. Dort sind Regelfälle umschrieben, die angeben, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein behinderter Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist“. Sie tragen damit dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die in Teil D Nr. 1 d) bis f) der Anlage zu § 2 VersMedV getroffenen Bestimmungen all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen, erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9 a SB 7/06 R, juris).
Nach Teil D Nr. 1 d) der Anlage zu § 2 VersMedV sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens in erster Linie dann als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- und Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Soweit innere Leiden zur Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen können, kommt es ebenfalls entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden und bei Lungenschäden mit einem Einzel-GdB von mindestens 50 anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, wie z. B. bei einer chronischen Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen.
Nach Teil D Nr. 1 e) der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei hirnorganischen Anfällen die Beurteilung von der Art und der Häufigkeit der Anfälle sowie von der Tageszeit abhängig. Im Allgemeinen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit (siehe Nr. 26.3) zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten. Analoges gilt beim Diabetes mellitus mit häufigen hypoglykämischen Schocks.
Nach Teil D Nr. 1 f) der Anlage zu § 2 VersMedV sind Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, anzunehmen
- bei allen Sehbehinderungen mit einem GdB von wenigstens 70
- bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit beiderseits, geistige Behinderung)
- bei Hörbehinderungen bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) oder
- im Erwachsenenalter bei diesen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung).
Gemessen an diesen Vorgaben lagen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ bei Erlass des Bescheides vom 6. August 2014 nicht vor. Die Voraussetzungen von Teil D Nr. 1 d) der Anlage zu § 2 VersMedV lagen offenkundig nicht vor, weil die Einzel-GdB für die Teilhabebeeinträchtigungen der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten weit von den in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten GdB entfernt waren und zwar unabhängig davon, ob man mit Prof. Dr. J von Einzel-GdB von je 10, oder ob man mit Prof. Dr. S von einem Einzel-GdB von 20 für eine somatoforme Schmerzstörung ausgeht. Innere Leiden, die sich auf die Gehfähigkeit auswirken, liegen nicht vor. Die Voraussetzungen von Teil D Nr. 1 e) der Anlage zu § 2 VersMedV liegen auch dann nicht vor, wenn man mit Prof. Dr. S eine Migräne mit Aura berücksichtigen wollte. Denn die in Teil D Nr. 1 e) der Anlage zu § 2 VersMedV vorausgesetzte mittlere Anfallshäufigkeit mit einem GdB von wenigstens 70 liegt auch nach Prof. Dr. S, die die Migräne mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet hat, bei weitem nicht vor. Entsprechendes gilt für Gleichgewichtsstörungen, die von Prof. Dr. J und von Prof. Dr. S jeweils mit keinem Einzel-GdB bewertet worden sind.
Auch die Voraussetzungen von Teil D Nr. 1 f) der Anlage zu § 2 VersMedV lagen nicht vor. Eine Sehbehinderung mit den darin genannten Einzel-GdB bestand nicht, vielmehr lag hier bei einem Visus von rechts 0,6 und links 0,5 (Befundbericht des Augenarztes Dr. K für das Sozialgericht) nach Teil B Nr. 4.3 der Anlage zu § 2 VersMedV nur ein Einzel-GdB von 10 vor. Schließlich war die Klägerin ausweislich eines Tonschwellenaudiogramms vom 15. Oktober 2013 zwar taub, es lagen aber daneben keine erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion vor. Denn zwar bestand eine Sehbehinderung, doch war diese – wie dargelegt – nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, so dass insoweit von keiner erheblichen Störung der Ausgleichsfunktion auszugehen ist. Auch eine erhebliche geistige Behinderung lag nicht vor. Prof. Dr. S hat die gegenwärtige remittierte depressive Störung wie auch die Panikattacken mit keinem Einzel-GdB bewertet. Auch wenn man mit dem Beklagten zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 6. August 2014 von einer Depression mit einem Einzel-GdB von 30 ausgeht, folgt daraus keine erhebliche Störung der Ausgleichsfunktion. Der Hinweis der Klägerin, die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ lägen vor, da ihr das Merkzeichen „Gl“ zuerkannt worden und damit von einer erheblichen Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit auszugehen sei, trifft nicht zu, da die versorgungsmedizinischen Grundsätze eine derartige Verknüpfung der Merkzeichen „G“ und „Gl“ nicht vorsehen.
Es liegt auch keine Fallkonstellation vor, bei der von einer Vergleichbarkeit der bei ihr bestehenden Beeinträchtigungen mit den von Teil D Nr. 1 d) bis f) der Anlage zu § 2 VersMedV regelhaft erfassten Beeinträchtigungen ausgegangen werden müsste. Eine solche Fallkonstellation ergibt sich weder aus der mit einem Einzel-GdB von maximal 30 zu bewertenden Depression, aber auch nicht aus einer mit einem Einzel-GdB von allenfalls 20 zu bewertenden somatoformen Schmerzstörung, weil beide Werte unter den in Teil D Nr. 1 d) bis f) der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Werten liegen und damit von vornherein nicht geeignet sind, eine Vergleichbarkeit mit den Regelfällen zu begründen (vgl. Urteil des Senats vom 19. Januar 2017 – L 11 SB 144/14 – juris).
Eine Fallgestaltung, bei der sich aus dem Zusammenwirken aller sich auf die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr auswirkenden Beeinträchtigungen das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ herleiten ließe (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9 a SB 7/06 R – juris), liegt hier ersichtlich ebenfalls nicht vor, weil die zu berücksichtigenden Beeinträchtigungen nicht so gravierend sind, dass sie in der Gesamtschau den Regelfällen gleichgestellt werden könnten. Schließlich lässt sich der Anspruch auf das Merkzeichen „G“ auch nicht aus der Nutzung eines Rollators herleiten (vgl. Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. Mai 2017 - L 13 SB 261/14 – juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.