1. Eine falsche Auskunft über die geltenden Hinzuverdienstgrenzen in einer Rentenauskunft nach § 109 SGB VI aF stellt auch ohne konkrete Nachfrage des Versicherten und ohne Anlass zu einer Spontanberatung eine Pflichtverletzung dar, die einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auslösen kann.
2. Der durch eine falsche Auskunft des Rentenversicherungsträgers verursachte Nachteil des Versicherten liegt bereits in der Beeinträchtigung seiner freien Entscheidungsmöglichkeiten über Beginn und Ausgestaltung seines Renteneintritts. Ob ein früherer, aber mit (höheren) Abschlägen verbundener Renteneintritt wirtschaftlich günstiger wäre, ist nicht erheblich, zumal dies individuell kaum festzustellen ist.
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 13. April 2023 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet auch im Berufungsverfahren die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen ihre Verurteilung, dem Kläger im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wegen einer unrichtigen Auskunft eine Altersrente für langjährig Versicherte für weitere Zeiten vor der Antragstellung zu gewähren.
Der Kläger ist im November 1955 geboren. Er absolvierte ab August 1971 eine Ausbildung und war von Januar 1973 bis August 2021 mit Unterbrechungen versicherungspflichtig beschäftigt. Seine letzten versicherten Jahresgehälter lagen 2019 bei € 30.801, 2020 bei € 25.715 und für Januar bis August 2021 bei € 17.764.
Am 03.02.2021 ließ sich der Kläger von der Beklagten telefonisch über Fragen der Altersrente informieren. Der genaue Inhalt dieses Gesprächs ist streitig geblieben. Noch am selben Tage übersandte die Beklagte dem Kläger eine maschinelle Rentenauskunft mit Versicherungsverlauf.
Darin war ausgeführt, der Kläger könne eine Regelaltersrente (in Höhe von voraussichtlich € 738,85) ab dem 01.09.2021 beziehen (S. 1 f.). Ferner habe er die Wartezeit für eine Altersrente für langjährig Versicherte erfüllt (414 Monate Beitrags- und 8 Monate Anrechnungszeit bis Dezember 2019). Diese Rente könne er ab dem 01.09.2021 ohne und seit dem 01.12.2018 mit Abschlägen beziehen (S. 9). Ferner enthielt die Rentenauskunft u.a. folgende „Hinweise zum Hinzuverdienst“: „Nach Ablauf des Monats, in dem die Regelaltersgrenze erreicht wird, also ab dem 01.09.2021, dürfen Sie unbegrenzt hinzuverdienen. Bei einem vorherigen Bezug einer Altersrente gelten folgende Hinzuverdienstregelungen: (…) Ein kalenderjährlicher Hinzuverdienst bis zu 6.300 € ist ohne Auswirkung auf Ihre Rentenhöhe möglich. (…) Übersteigt Ihr kalenderjährlicher Hinzuverdienst die Hinzuverdienstgrenze von 6.300 €, wird (…). Damit aufgrund von Rente und Hinzuverdienst kein höheres Einkommen als vor dem Rentenbezug erzielt wird, gibt es eine Höchstgrenze: den Hinzuverdienstdeckel (…). Als Hinzuverdienst zählen folgende Arten von Einkommen: - Brutto-Arbeitsentgelt, - (…).“
Die Rentenauskunft enthielt den Hinweis, sie sei nicht rechtsverbindlich, sondern auf Grundlage des derzeitigen Rechts und der im Versicherungskonto gespeicherten Zeiten erstellt worden und stehe insoweit unter Vorbehalt. Der Kläger könne sich auch, falls er nähere Erläuterungen wünsche, kostenlos durch verschiedene (im Einzelnen genannte) Stellen beraten lassen.
Der Kläger stellte am 13.07.2021 über seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten Antrag auf Altersrente für langjährig Versicherte bereits ab dem 01.12.2020. Er fügte den Vordruck R0990 bei und führte darin aus, die rückwirkende Gewährung beantrage er im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Er habe sich Anfang 2021 intensiv mit dem Thema Rente beschäftigt. Hierzu habe er auch die Rentenauskunft vom 03.02.2021 bekommen. Allerdings sei die Angabe der Hinzuverdienstgrenze darin falsch gewesen. Zum Zeitpunkt der Rentenauskunft habe schon die erhöhte Grenze für das Jahr 2020 gegolten. Sofern ihm dies mitgeteilt worden wäre, hätte er den Rentenantrag bereits im Februar 2021 gestellt.
Mit Bescheid vom 26.11.2021 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 01.05.2021 (Nettozahlbetrag € 706,48; Bruttorente € 793,79 monatlich) unter Verweis auf den im Juli 2021 gestellten Antrag. Eine rückwirkende Gewährung der Rente bereits zum 01.12.2020 sei nicht möglich, da es keine generellen Aufklärungspflichten seitens der Rentenversicherung im Hinblick auf die erhöhte Hinzuverdienstgrenze gebe.
Im Vorverfahren ließ der Kläger ergänzend ausführen, bei Erteilung der Rentenauskunft habe sogar schon die nochmals erhöhe Hinzuverdienstgrenze für 2021 gegolten. Ferner trug er unter Vorlage eines (anonymisierten) Rentenbescheids eines anderen Versicherten vor, die Beklagte habe in vergleichbaren Fällen einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch anerkannt.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.2022 zurück. Sie führte aus, der Kläger hätte sich auf Grund der Informationen in der Presse zur Erhöhung der Hinzuverdienstgrenzen im Rahmen der Corona-Pandemie noch einmal individuell bei den Beratungsstellen der Beklagten zu informieren und gegebenenfalls früher einen Rentenantrag zu stellen. Er habe auch in der telefonischen Kurzberatung am 03.02.2021 keine Nachfragen zur Hinzuverdienstgrenze gestellt. Eine Pflicht zur Beratung durch die Beklagte habe nicht bestanden.
Der Kläger hat am 26.09.2022 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erheben lassen. Er hat ergänzend vorgetragen, die Beklagte habe ihre aus § 115 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) und § 14 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) folgenden Beratungspflichten verletzt, indem sie eine falsche Hinzuverdienstgrenze genannt habe. Bei korrekter Mitteilung hätte er - der Kläger - die Rente bereits im Februar 2021 beantragt.
Die Beklagte hat in ihrer Klageerwiderung vom 09.01.2023 eingeräumt, dass die in der Rentenauskunft dargestellten Hinzuverdienstgrenzen falsch gewesen seien. 2021 habe bereits die Hinzuverdienstgrenze von € 46.060 gegolten. Jedoch sei sie - die Beklagte - auch auf Grund der falschen Auskunft nicht verpflichtet gewesen, den Kläger auf einen möglichen früheren Rentenbeginn (bei gleichzeitiger Weiterbeschäftigung) hinzuweisen. Im Rahmen einer Spontanberatung müsse nur auf naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten hingewiesen werden. Hierzu gehöre unter anderem der Bezug einer höheren Rente. Ob dies bei einem früheren Bezug einer mit Abschlägen verbundenen Rente der Fall sei, könne nur durch eine Optimierungsberechnung geklärt werden, die nicht spontan, sondern nur auf Antrag vorzunehmen sei.
Die Beklagte hat eine Probeberechnung einer Altersrente für langjährig Versicherte bereits ab dem 01.12.2020 vorgelegt. Danach hätten die Nettozahlbeträge der Rente ab Dezember 2020 (und weiter bis Juni 2022) bei € 686,11 (brutto € 769,61) monatlich gelegen.
In einem Erörterungstermin vor dem SG am 14.02.2023 hat der Kläger vorgetragen, er habe sich am 03.02.2021 telefonisch allgemein über den Rentenbeginn informieren wollen. Mit wem er gesprochen habe, wisse er nicht mehr. Sein Gesprächspartner habe ihm gesagt, dass er, während er arbeite, gar keine Rente beziehen könne. Die Beklagte hat darauf erwidert, die Gesprächspartnerin sei eine sehr erfahrene Beraterin gewesen, die, wenn sich ein entsprechender Anlass ergeben hätte, sicherlich auf die korrekten Hinzuverdienstgrenzen hingewiesen hätte. Im Übrigen habe der Kläger die angehobenen Grenzen der Presse entnehmen können.
Mit Gerichtsbescheid vom 13.04.2023 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Rentenbescheids verurteilt, dem Kläger Altersrente für langjährig Versicherte bereits ab dem 01.12.2020 zu gewähren. Der Kläger sei nach dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch so zu stellen, als hätte er den Antrag noch im Februar 2021 gestellt. Die Beklagte habe eine Pflichtverletzung begangen. Dabei könne offenbleiben, ob bei dem Telefonat am 03.02.2021 Anlass für eine Spontanberatung bestanden habe. Jedenfalls seien die Hinzuverdienstgrenze in der Rentenauskunft falsch angegeben worden. Die Pflicht zu richtigen Informationen sei nicht deswegen weggefallen, weil sich der Kläger in der Presse hätte informieren können. Die falsche Auskunft sei auch die Ursache dafür, dass der Kläger nicht schon im Februar 2021 einen Rentenantrag gestellt habe. Diese Überzeugung gründe sich auf eine Gesamtwürdigung aller Umstände und der glaubhaften Angaben des Klägers am 14.02.2023, er hätte bei korrekter Information sofort Rente beantragt.
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 12.05.2023 Berufung erhoben. Sie hat klargestellt, dass die Rentenauskunft vom 03.02.2021 erst auf Grund des Telefonats mit dem Kläger vom selben Tage erstellt worden sei. Sie meint, das SG gehe zu Unrecht davon aus, dass die unstreitig fehlerhafte Hinzuverdienstgrenze in der Rentenauskunft vom 03.02.2021 losgelöst von einem konkreten Beratungsfehler im Rahmen der telefonischen Kurzberatung gleichsam automatisch zu einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch führe. Dem Empfänger einer Rentenauskunft sei - zwar - nicht anzulasten, dass ihm die für 2021 auf vorübergehend € 46.060 angehobene Hinzuverdienstgrenze nicht aus den Medien bekannt gewesen sei. Der Hinweis, dass eine Hinzuverdienstgrenze für den Bezug einer Vollrente einzuhalten ist, treffe jedoch weiterhin zu und sei erfolgt. Ferner, so die Beklagte, sei im konkreten Falle zu bezweifeln, dass die falsche Auskunft der Grund dafür gewesen sei, nicht schon früher eine - dann aber mit Abschlägen verbundene - Rente zu beantragen.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 13. April 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er macht Ausführungen zu den rechtlichen Anforderungen an eine Rentenauskunft und die Pflicht zu zutreffenden Auskünften und verweist auf weitere stattgebende Bescheide bzw. Anerkenntnisse der Beklagten bzw. anderer Rentenversicherungsträger in ähnlichen Fällen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Insbesondere ist sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig. Zwar wendet sich die Beklagte nicht gegen eine Verurteilung zur Gewährung laufender Sozialleistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie ist jedoch aus dem angefochtenen Gerichtsbescheid um mehr als € 750,- beschwert, nämlich um die Gewährung der Rente in Höhe von je € 769,61 für fünf Monate. Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 151 SGG). Sie ist aber nicht begründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht zur Gewährung einer Altersrente für langjährig Versicherte schon ab dem 01.12.2020 verurteilt. Die Ablehnung einer Rentengewährung für die Zeit vor Mai 2021 war rechtswidrig.
Der im November 1955 geborene Kläger erfüllte bereits zum beantragten Zeitpunkt 01.12.2020 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 36 SGB VI. Er hatte die für ihn maßgebliche Altersgrenze erreicht. Zwar war er noch nicht 65 Jahre und 9 Monate alt, was für einen abschlagfreien Bezug der Rente nötig gewesen wäre (§§ 36, 236 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, Jahrgang 1955). Aber er konnte die Rente gemäß § 36 Satz 2, § 236 Abs. 1 Satz 2 SGB VI schon seit seinem 63. Geburtstag (also ab Dezember 2018) vorzeitig in Anspruch nehmen. Ferner hatte er bereits im Oktober 2019 die erforderliche Wartezeit von 35 Jahren (420 Kalendermonaten) zurückgelegt (gemäß der Rentenauskunft vom 03.02.2021 waren bis Dezember 2019 bereits 422 Monate belegt), sodass ein Rentenbeginn ab November 2019 möglich war. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Dem Kläger steht die bewilligte Altersrente auch ab Dezember 2020 zu.
Dieser Rentenbeginn ergibt sich allerdings nicht direkt aus den rentenrechtlichen Vorschriften. Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI wird eine Rente aus eigener Versicherung nur dann von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird die Rente aus eigener Versicherung demgegenüber erst von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird (§ 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Nach diesen Vorgaben ist die Beklagte zutreffend davon ausgegangen, dass die Altersrente des Klägers frühestens mit dem 01.05.2021 hat beginnen können, nachdem der Kläger den Rentenantrag erst am 13.07.2021 gestellt hat.
Der Kläger ist von der Beklagten jedoch nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte er den Antrag auf Altersrente spätestens Ende Februar 2021 gestellt. Ausgehend hiervon konnte die Rente nach der Fristenregelung in § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI rückwirkend ab dem 01.12.2020 bezogen werden.
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist eine besondere, sozialrechtlich geprägte Form des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs, der den Staat aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 20 Abs. 3 GG, vgl. auch Art. 34 GG) verpflichtet, Schädigungen der Rechte einzelner durch staatliches Fehlverhalten soweit wie möglich auszugleichen (vgl. zu dieser und anderen Herleitungen des Anspruchs Öndül in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., § 14 SGB I, Rn. 72). Der Anspruch ist richterrechtlich entwickelt worden (BSG, Urteil vom 12.10.1979 - 12 RK 47/77 -, juris Rn. 15) und allgemein als Werkzeug zur Herstellung recht- und insbesondere verfassungsmäßiger Zustände akzeptiert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.12.2019 - 1 BvL 6/16 -, juris Rn. 27). Voraussetzung des Anspruchs ist, dass ein Sozialleistungs- bzw. Sozialversicherungsträgers eine ihm gegenüber einem Leistungsberechtigten obliegende Pflicht verletzt hat (oder ihm eine Pflichtverletzung durch einen Dritten zurechenbar ist), wodurch beim Betroffenen kausal ein Nachteil eingetreten ist und der Zustand, der ohne die Pflichtverletzung bestünde, durch eine zulässige Amtshandlung des Verpflichteten herstellbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 30.08.2023 - B 3 P 4/22 R -, juris Rn. 19; BSG, Urteil vom 23.06.2020 - B 2 U 5/19 R - juris, Rn. 20; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 01.07.2014 - L 2 R 437/13 - juris, Rn. 26).
Gemäß der Natur des Sozialrechts liegen die Pflichtverletzungen, die einen Herstellungsanspruch auslösen können, oft in Beratungsfehlern. In diesem Rahmen greift der Anspruch ein, wenn eine speziellere Rechtsgrundlage zur Beseitigung der Folgen einer etwaigen Beratungspflichtverletzung fehlt. Konkret im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung mit ihren antragsabhängigen Rentenansprüchen kann in diesem Rahmen bei verspäteter Antragstellung ein Anspruch auf rückwirkende Zulassung eines Rentenantrags bzw. rückwirkende Gewährung der Rente für (längere) Zeiten vor der Antragstellung folgen (BSG, Urteil vom 26.01.2020 - B 13 RJ 37/98 R - juris, Rn. 33 ff; BSG, Urteil vom 24.04.2014 - B 13 R23/13 R - juris, Rn. 13; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2014 - L 10 RA 4887/03 - juris, Rn. 38 ff.).
Diese Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs liegen hier vor. Ebenso wie schon das SG geht der Senat davon aus, dass die Beklagte eine Beratungspflicht gegenüber dem Kläger verletzt hat, und dass dem Kläger daraus - durch den Beratungsfehler kausal verursacht und ihm unter wertender Betrachtung auch zurechenbar - ein Nachteil entstanden ist, der durch die rückwirkende Antragszulassung und eine dadurch ermöglichte Rentengewährung ab Dezember 2020 in rechtmäßiger Weise beseitigt werden kann.
Sozialleistungsträger sind nicht nur dann zu - zutreffenden - Beratungen verpflichtet, wenn sie ein Gesetz ausdrücklich dazu verpflichtet (Pflichtberatung), wenn ein Bürger konkret fragt (Anlassberatung) oder wenn sich auf Grund sonstiger Umstände für den Leistungsträger ein konkreter Beratungsbedarf aufdrängt (Spontanberatung). Dies sind typische Fälle, in denen bereits das Unterlassen einer Beratung einen Pflichtenverstoß bedeutet. Eine gesetzlich geregelte Pflicht zu konkreten Auskünften im Sinne einer Beratung ist z.B. die Übersendung von Renteninformationen und Rentenauskünften nach § 109 Abs. 1 SGB VI. Grundsätzlich finden die Pflichten zu Anlass- und Spontanberatung ihre Grundlage in § 14 SGB I. Eine spezielle Regelung mit einem Sonderfall der Spontanberatung im Rentenversicherungsrecht ist § 115 Abs. 6 SGB VI (Kador, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, Stand: Dezember 2022, § 99, Rn. 50 ff., 51). Ein Rentenversicherungsträger ist danach unter Umständen verpflichtet, von sich aus einem Versicherten mitzuteilen, dass inzwischen die Voraussetzungen für eine Rente vorliegen.
Über das bloße Unterlassen einer geschuldeten Beratung hinaus ist auch eine gegebene, aber falsche Auskunft eine Pflichtverletzung. Dies gilt nicht nur bei den gesetzlich geregelten Beratungs- und Auskunftspflichten. Vielmehr sind staatliche Stellen generell verpflichtet, jegliche Auskunft sachgerecht, vollständig und richtig zu erteilen. Im Rechtsstaat hat der Empfänger staatlicher Auskünfte grundsätzlich einen Anspruch, in seinem Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskünfte geschützt zu werden (BSG, Urteil vom 23.06.1977 - 8 RU 36/77 -, juris Rn. 31 m.w.N.), notfalls amtshaftungsrechtlich (§ 839 BGB, Art 34 GG), wenn keine speziellen öffentlich-rechtlichen (sozialrechtlichen) Ausgleichsansprüche zur Verfügung stehen (BGH, Urteil vom 10.07.2003 - III ZR 155/02 - juris Rn. 4 ff., 17; vgl. BSG, Urteil vom 12.11.1980 - 1 RA 65/79 -, juris Rn. 30: „Vertrauensschaden“). Im Sozialrecht spiegelt sich diese allgemeine Pflicht ebenfalls in § 14 SGB I wider, ein Stück weit aber auch in § 13 SGB I. So ist es anerkannt, dass ein Pflichtenverstoß vorliegt, wenn ein Rentenversicherungsträger unzutreffend Allgemeininformationen erteilt, z.B. in Merkblättern (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.1983 - 12 RK 6/83 - juris, Rn. 14; BSG, Urteil vom 22.10.1996 - 13 RJ 23/95 - juris, Rn. 35; Öndül, a.a.O., § 13 SGB I, Rn. 30).
Zu einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kann eine solche pflichtwidrige, falsche Auskunft dann führen, wenn sie nicht nur allgemein an die Bevölkerung gerichtet war, sondern innerhalb eines individuellen Sozialrechtsverhältnisses an einen konkreten Leistungsberechtigten, also ein subjektives Recht eines Einzelnen auf zutreffende Auskünfte verletzt hat (Öndül, a.a.O., § 13 SGB I, Rn. 50). Dazu gehören z.B. unzutreffende Hinweise in einer Rentenauskunft an einen Versicherten (so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 30.06.2009 - L 14 R 771/08 - juris Rn. 25; SG Karlsruhe, Urteil vom 26.01.2023 - S 19 R 1790/22 - unveröffentlicht). Denn Rentenauskünfte dienen trotz ihrer fehlenden Rechtsverbindlichkeit (vgl. § 109 Abs. 2 SGB VI) gerade dazu, den Versicherten eine gesicherte Informationsgrundlage für eigenverantwortliche Dispositionen über ihre Rentenansprüche zu verschaffen und müssen schon deshalb vollständig und inhaltlich zutreffend sein (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 25.01.2005 - L 2 RA 1211/03 - juris, Rn. 17).
Eine solche Fehlberatung liegt hier vor.
Auch der Senat hält es allerdings nicht für bewiesen, dass bereits bei dem Telefonat am 03.02.2021 eine falsche Auskunft gegeben wurde. Die Angabe des Klägers, ihm sei gesagt worden, er könne überhaupt keine Rente beziehen, solange er im Erwerbsleben stehe bzw. solange er Erwerbseinkünfte habe, ist nicht bewiesen. Die Beklagte hat eine solche Auskunft bestritten, Zeugenbeweis ist nicht angetreten worden.
Jedoch lag ein Beratungsfehler in der Angabe der falschen Hinzuverdienstgrenze in der Rentenauskunft vom 03.02.2021, die nach dem Telefonat übersandt wurde. Dass die Angabe fehlerhaft war, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Angegeben waren noch die Hinzuverdienstgrenze von € 6.300 kalenderjährlich und der „Hinzuverdienstdeckel“ nach § 34 Abs. 2 Satz 2 und § 34 Abs. 3 Sätze 3 und 4 SGB VI i.d.F. des „Flexirentengesetzes“ vom 08.12.2016, BGBl I S. 2838). Diese Regelungen hatten aber nur bis Ende 2019 gegolten. Bereits im März 2020 war - rückwirkend auf den 01.01.2020 - für vorgezogene Renten wegen Alters die Hinzuverdienstgrenze auf € 44.590 kalenderjährlich erhöht und die Anwendung des Hinzuverdienstdeckels ausgesetzt worden (§ 302 Abs. 8 SGB VI idF des „Sozialschutz-Pakets“ vom 27.03.2020, BGBl I S. 575); ab dem 01.01.2021 wurde dann die Hinzuverdienstgrenze weiter auf € 46.060 erhöht. Wie ausgeführt, war diese Auskunft schon deshalb pflichtwidrig, weil sie falsch war; ferner verstieß sie sogar gegen eine ausdrückliche gesetzliche Beratungspflicht, denn nach § 109 Abs. 4 Nr. 5 SGB VI aF (aufgehoben zum 01.01.2023 durch das Achte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 20.12.2022, BGBl I S. 2759) hatten Rentenauskünfte auch - zutreffend - über die Hinzuverdienstgrenzen zu unterrichten.
Dem Kläger ist ein Nachteil entstanden.
Ein solcher Nachteil liegt schon darin, dass dem betroffenen Versicherten wegen des Beratungsfehlers die Wahlmöglichkeit verlorengegangen ist, eine Rente ab dem frühestmöglichen oder erst ab einem späteren Zeitpunkt zu beziehen (Bayerisches LSG, Urteil vom 13.03.2014 - L 19 R 226/12 -, Rn. 25, juris), also auf der Grundlage vollständiger und zutreffender Informationen frei über die Gestaltung seines Renteneintritts entscheiden zu können. Diese Entscheidungsfreiheit ist Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG.
Nicht relevant ist es dagegen, ob die Folgen derjenigen Entscheidung, die der Betroffene wegen der Falschberatung nicht getroffen hat, wirtschaftlich gesehen objektiv „günstiger“ gewesen wären. Es kommt nicht auf eine „Gesamtsaldierung“ der finanziellen Folgen des alternativen Verhaltens an. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass hierfür umfassende Berechnungen nötig wären. Ob sich ein früherer, aber mit höheren Abschlägen verbundener (§ 77 Abs. 2 Nr. 2 lit. b SGB VI) Rentenbezug „lohnt“, hängt zunächst von der voraussichtlichen Rentenbezugsdauer, konkret der Restlebenserwartung des Versicherten, ab. Diese wiederum kann sich aber nicht nur nach statistischen Mittelwerten berechnen. Denn es kann zum Beispiel sein, dass ein Versicherter krankheitsbedingt von einer kürzeren Restlebenserwartung ausgeht. Außerdem kann die Höhe der Rente Auswirkungen auf eine Hinterbliebenenrente im Anschluss an die eigene Altersrente haben. Ferner sind neben der mutmaßlichen Bezugsdauer und sonstigen rentenrechtlichen Auswirkungen steuerrechtliche Fragen relevant, weil z.B. der steuerfreie Anteil der Rente von dem jeweiligen Rentenbeginn abhängt. Auf diesen Punkt hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zutreffend (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa Einkommensteuergesetz [EStG]) hingewiesen. Ein wichtiges Entscheidungskriterium dürfte auch sein, ob ein Versicherter mit Beginn der - vorgezogenen - Altersrente aus dem Erwerbsleben ausscheiden oder wie der Kläger noch eine Zeitlang weiterarbeiten möchte. Bei einem früheren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sehen viele Versicherte einen Gewinn an Freizeit und Lebensqualität („den Ruhestand genießen“), bei einem Weiterarbeiten erhöhten sich die laufenden Gesamteinkünfte. All dies sind individuelle Umstände, deren Bedeutung für die Entscheidung nur der Betroffene selbst beurteilen kann. Dies zeigt, dass es berechtigt ist, den relevanten Nachteil schon darin zu sehen, dass die Entscheidung wegen der fehlerhaften Information nicht frei getroffen werden konnte.
Der Senat geht auch von einem Kausalzusammenhang zwischen dem Beratungsfehler und dem Verlust der Wahlmöglichkeit eines früheren Rentenbezugs aus.
Bei dieser nachträglichen Einschätzung, welche Entscheidung ein Versicherter bei richtiger Auskunft getroffen hätte, berücksichtigt der Senat neben der ausdrücklichen Erklärung des Klägers, dass er sich für den früheren Renteneintritt entschieden hätte, auch die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens. Dieser Grundsatz entstammt dem Zivilrecht, er führt dort dazu, dass derjenige, der Beratungs- oder Aufklärungspflichten verletzt, beweispflichtig dafür ist, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten entstanden wäre (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 13.06.2023 - XI ZR 464/21 -, Rn. 32, juris). Im Öffentlichen Recht, insbesondere im Sozialrecht, gilt der Grundsatz zwar nicht in dem Maße, dass er zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Sozialleistungsträgers führt (so auch SG München, Urteil vom 21.11.2001 - S 42 KA 83/01 -, Rn. 41, juris, das aber immerhin einen Anscheinsbeweis zu Gunsten des Versicherten bejaht, dessen Grundlagen der Sozialleistungsträger erschüttern muss). Es verbleibt aber in jedem Fall eine gesteigerte Darlegungslast des Sozialleistungsträgers.
Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass der Kläger bei zutreffender Auskunft bereits nach Erhalt der Rentenauskunft, also noch im Februar 2021, Altersrente beantragt hätte.
Zwar hatte die Beklagte den Kläger in der Rentenauskunft vom 03.02.2021 zutreffend darüber unterrichtet, dass er bereits die Voraussetzungen einer vorgezogenen Altersrente für langjährig Versicherte erfüllte. Jedoch ist es nachvollziehbar, dass er sich wegen der Auskunft zum Hinzuverdienst dagegen entschieden hat, diese Möglichkeit zu nutzen. Für diese Einschätzung spricht zunächst die konkrete finanzielle Situation. Das Einkommen des Klägers hatte in den Jahren zuvor jeweils über € 6.300 gelegen. Er durfte daher annehmen, dass seine Rente bei einem früheren Bezug wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze gekürzt worden wäre. Naheliegenderweise ist diese Befürchtung für viele Versicherte ein maßgeblicher Grund dafür, keinen Rentenantrag zu stellen. Dies liegt auch daran, dass kaum ein Versicherter allein auf Grund der damaligen gesetzlichen Regelungen (§ 34 Abs. 3 SGB VI aF) oder der entsprechenden - allgemeinen - Hinweise des Rentenversicherungsträgers ausrechnen konnte, wie hoch konkret die Kürzung wäre. Auch der weitere Ablauf (erstmals zutreffende Beratung bei seinem jetzigen Prozessbevollmächtigten und anschließender Rentenantrag noch im Juli 2021 bei geplantem Ausstieg aus dem Berufsleben ab September 2021) deutet darauf hin, dass der Kläger eine Kürzung vermeiden wollte. Daraus kann geschlossen werden, dass der Kläger bei einer zutreffenden Information, dass es keine Kürzung geben werde, bereits früher Rente beantragt hätte.
Auch der bereits erwähnte Abschlag bei einem früheren Rentenbeginn spricht nicht gegen diese Einschätzung. Dass den Kläger Abschläge nicht grundsätzlich abschreckten, zeigt sich darin, dass er nach der zutreffenden Beratung durch seinen Prozessbevollmächtigten im Juli 2021 die Rente ebenfalls vorzeitig, ab Mai statt erst ab September 2021, beantragt hat. Es ist nicht ersichtlich, warum er bei einer Entscheidung fünf Monate zuvor die - dann etwas höheren - Abschläge nicht ebenso in Kauf genommen hätte.
Nicht maßgeblich war das Argument der Beklagten, der Kläger hätte sich auch in den Medien über die damaligen Erhöhungen der Hinzuverdienstgrenze informieren müssen. Die Beklagte hat es in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch ausdrücklich nicht aufrechterhalten.
Ein Mitverschulden des Klägers im Sinne einer Obliegenheit, bereits die Entstehung eines Schadens auf Grund des Beratungsfehlers des Sozialleistungsträgers zu verhindern (vgl. § 254 Abs. 1 BGB), sieht der Senat nicht, nachdem der sozialrechtliche Herstellungsanspruch bereits auf Seiten des Staates kein Verschulden voraussetzt (Hessisches LSG, Urteil vom 27.09.1978 - L 8 Kr 740/77 -, Rn. 29, juris; SG Itzehoe, Urteil vom 26.08.2021 - S 3 R 307/17 -, Rn. 18, juris).
Und sofern die Beklagte mit ihrem Vorbringen den Ursachenzusammenhang zwischen der Rentenauskunft und der Entscheidung des Klägers anzweifelt, ist darauf hinzuweisen, dass eine überholende Kausalität nur anzunehmen ist, wenn mehrere Umstände zu einem Ergebnis beigetragen haben, von denen dann der andere Umstand - hier gegenüber dem Beratungsfehler - den wesentlichen Ursachenbeitrag gesetzt hat. Das wäre nur dann überhaupt denkbar, wenn sich der Kläger auch andernorts informiert und von dort ebenfalls falsche Auskünfte erhalten hat. Das bloße Unterlassen, sich eigenständig über rentenrechtliche Umstände zu informieren, ist kein solcher wesentlicher Umstand. Es trifft zwar zu, dass die Verwaltung nach der ständigen Rechtsprechung auch der Sozialgerichte davon ausgehen darf, dass jedem Menschen gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Veröffentlichung bekannt sind. Insoweit gilt der Publizitätsgrundsatz, der auch deshalb gerechtfertigt ist, weil typischerweise die Medien regelmäßig auf den Inhalt neuer Gesetze hinweisen (BSG, Urteil vom 15.08.2000 - B 9 VG 1/99 R -, juris, Rz. 13). Diese Obliegenheit eines Bürgers, sich selbst über gesetzliche Neuregelungen zu informieren, tritt jedoch hinter einer Pflichtverletzung des konkret zuständigen Sozialleistungsträgers zurück. Dies gilt bereits dann, wenn dem Sozialleistungsträger nur das Unterlassen einer gebotenen Spontanberatung zur Last liegt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.06.2018 - L 6 VK 4404/17 -, Rn. 60, 66, juris). Erst recht überwiegt der Ursachenbeitrag durch den Beratungsfehler, wenn es sich um eine konkrete Falschauskunft handelt.
Letztlich stehen dem Anspruch des Klägers wegen der Altersrente ab 01.12.2020 keine Fristen entgegen. Auch für die rückwirkende Gewährung von Sozialleistungen auf Grund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gilt - nur - die Frist von vier Jahren nach § 44 Abs. 4 SGB X (BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 13 R 58/06 R -, Rn. 11, juris). Diese Frist war hier nicht abgelaufen.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.