Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 24.02.2023 zu S 23 R 29/23 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das beim Sozialgericht Münster ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 23 R 500/21 geführte Klageverfahren fortzusetzen ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Erledigung des erstinstanzlichen Klageverfahrens durch Klagerücknahmefiktion i.S.v. § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). In der Sache wendet sich die Klägerin gegen Feststellungen der Beklagten in einem nach durchgeführter Betriebsprüfung an die A. mit Sitz in N. (NL) – im folgenden Arbeitgeberin - adressierten Bescheid vom 04.11.2020.
Die Klägerin war zwischen Oktober 2015 und Januar 2017 als Lkw-Fahrerin im Auftrag der Arbeitgeberin tätig und führte Transporte in der Regel innerhalb Deutschlands durch. Sie bezog ein Nettogehalt in der Größenordnung von 2.800 EUR bis 3.200 EUR, das von einem niederländischen Konto überwiesen wurde. Sie war in der Zeit ihrer Tätigkeit in den Niederlanden sozialversicherungsrechtlich gemeldet.
Nach Ende des Arbeitsverhältnisses führte die Klägerin zunächst ein arbeitsgerichtliches Verfahren gegen die Arbeitgeberin, in dem sie Arbeitsentgelt nachforderte. In einem vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen am 26.03.2018 geschlossenen Vergleich verpflichtete sich die Arbeitgeberin zur Stellung ordnungsgemäßer Abrechnungen auf der Grundlage einer Nettovergütung von monatlich 2.300 EUR sowie zur Abfuhr von Sozialversicherungsbeiträgen zu dem zuständigen Sozialversicherungsträger, wobei die Prüfung, ob die Zuständigkeit des niederländischen oder des deutschen Trägers gegeben ist, der Arbeitgeberin aufgegeben wurde.
Mit dem nach Betriebsprüfung durch die Beklagte gegenüber der Arbeitgeberin erlassenen Bescheid vom 04.11.2020 wurde unter anderem festgestellt, dass es sich bei den an die Klägerin ausgekehrten Lohnzahlungen um Entgelte im Sinne von § 14 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) handele und die Zahlungen grundsätzlich der Beitragspflicht in der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Renten-und Arbeitslosenversicherung unterlägen. Die Arbeitgeberin habe nur scheinbar ihren Sitz in den Niederlanden gehabt. Tatsächlich habe sich die Betriebsstätte in J., W., befunden. Von dort hätten die deutschen Fahrer ihre Tätigkeiten ausschließlich oder zumindest zu einem überwiegenden Teil in Deutschland ausgeführt. Es ergäben sich nach der aufgrund von § 28p Abs. 1 SGB IV i.V.m. §§ 2, 6 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (SchwarzArbG) durchgeführten Betriebsprüfung unter Anwendung der Regelungen zur Netto-Brutto-Hochrechnung Nachforderungen zur Sozialversicherung i.H.v. 629.611,44 EUR an Beiträgen sowie Säumniszuschläge i.H.v. 216.239,50 EUR. In der Folge sah sich die Klägerin Beitragsnachforderungen der zuständigen Kranken- und der Pflegekasse ausgesetzt, da sie unter Zugrundelegung der Ergebnisse der Betriebsprüfung als freiwillig Versicherte anzusehen sei.
Der von der Klägerin gegen den Bescheid vom 04.11.2020 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchbescheid vom 21.06.2021 zurückgewiesen.
Am 23.07.2021 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Münster (S 23 R 500/21) erhoben und sich in der Klageschrift zur Begründung auf den vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen geschlossenen Vergleich berufen, nach dem sie nicht verpflichtet sei, weitere Nebenkosten zu zahlen. Diese seien vielmehr durch die Arbeitgeberin zu tragen. Die Klägerin hat in niederländischer Sprache abgefasste Lohnabrechnungen zur Akte gereicht.
Das Sozialgericht hat mit der Eingangsverfügung vom 27.07.2021 um Begründung der Klage gebeten. Hierauf hat die Klägerin ausgeführt, sie nehme auf die Darlegung aus der Klageschrift Bezug. Mit Verfügung vom 13.09.2021 hat das Sozialgericht die Beklagte zur Erwiderung der Klage und Übersendung der Verwaltungsakte aufgefordert. Nach Eingang der Klageerwiderung hat das Gericht mit Verfügung vom 28.10.2021 der Klägerseite mitgeteilt, es sei nicht verständlich, was konkret im Verfahren begehrt werde. Es werde daher um Konkretisierung des Klagebegehrens und um weitere substantiierte Begründung gebeten. Unter dem 04.02.2022 hat die Klägerin ausgeführt, sie sei bei der Arbeitgeberin beschäftigt gewesen und habe mit dieser vor den Arbeitsgerichten umfangreich um die Frage der Tragung von Sozialversicherungsbeiträgen gestritten. Nach dem letztlich geschlossenen Vergleich sei sie nicht verpflichtet gewesen, Sozialversicherungsbeiträge zu erbringen. Die hiesige Beklagte nehme nun die Klägerin auf eben diese Sozialversicherungsbeiträge in Anspruch. Ein solcher Anspruch bestehe nicht, da die Klägerin nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 15.02.2022 unter anderem ausgeführt, es sei nicht zutreffend, dass seitens der Beklagten die Klägerin auf Sozialversicherungsbeiträge in Anspruch genommen werde. Die Beklagte habe vielmehr mit dem angefochtenen Bescheid eine Nachforderung gegenüber der Arbeitgeberin erhoben. Diese umfasse auch Sozialversicherungsbeiträge für Entgelte der Klägerin, die durch die Arbeitgeberin nicht abgeführt worden seien. Eine Nachforderung gegenüber der Klägerin selbst sei seitens der Beklagten ausdrücklich nicht erhoben worden. Die Klägerin sehe sich vielmehr einer Forderung der Kranken- und Pflegekasse ausgesetzt. Sie sei aufgrund des Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht pflichtversichert gewesen, sodass im Rahmen der Betriebsprüfung keine Nachforderung zur Kranken- und Pflegeversicherung erhoben worden sei.
Das Sozialgericht hat die Klägerseite mit Verfügung vom 16.02.2022 zur Stellungnahme zu dem Schriftsatz der Beklagten vom 15.02.2022 aufgefordert und unter dem 08.04.2022 und 09.05.2022 erinnert. Eine weitere Erinnerung, verbunden mit der Frage, ob noch Interesse an dem Rechtsstreit bestehe, ist unter dem 15.06.2022 erfolgt. Mit Schriftsatz vom 21.07.2022 hat der Bevollmächtigte der Klägerin um Fristverlängerung um einen Monat gebeten. Das Sozialgericht hat mit Verfügung vom 22.07.2022 Fristverlängerung bis zum 22.08.2022 bewilligt.
Mit Schreiben vom 26.08.2022, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 28.09.2022 zugestellt, hat das Gericht die Klägerin aufgefordert, das Verfahren innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Aufforderung durch die vollständige Beantwortung der gerichtlichen Verfügung vom 16.02.2022 zu betreiben. Da das Gericht die Klägerin am 08.04.2022, 09.05.2022 sowie 15.06.2022 erfolglos aufgefordert habe, die gerichtliche Verfügung vom 16.02.2022 zu beantworten, werde seitens des Gerichts nunmehr davon ausgegangen, dass kein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreites bestehe.
Eine Reaktion von Seiten der Klägerin ist nicht erfolgt.
Das Gericht hat sodann unter dem 03.01.2023 die Klage statistisch ausgetragen und den Beteiligten mitgeteilt, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte.
Am 19.01.2023 hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten die „Wiederaufnahme“ des Verfahrens beantragt. Die Rücknahme gemäß § 102 Abs. 2 SGG könne auf erhebliche unterlassende Mitwirkungshandlungen gestützt werden und käme nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht. Eine Klage müsse noch nicht einmal zwingend begründet werden. Die Klage sei bereits mit Schriftsatz vom 23.07.2021 begründet worden, weitere Darlegungen seien am 05.08.2021 und 09.09.2021 sowie am 04.02.2022 erfolgt. Zutreffend sei, dass die Beklagte keine weiteren Forderungen gegen die Klägerin selbst erhebe. Der zugrundeliegende Bescheid sei aber Grundlage der Forderungen der gesetzlichen Kranken- und Pflegekasse.
Das Gericht hat am 20.01.2023 das Verfahren unter dem Aktenzeichen S 23 R 29/23 neu eingetragen und mit Schreiben vom 01.02.2023, dem Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 02.02.2022 und der Beklagten zugestellt am 01.02.2023, zu einer beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 SGG angehört.
Mit Gerichtsbescheid vom 24.02.2023 hat das Sozialgericht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte und außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten seien. Der Rechtsstreit sei in der Hauptsache erledigt. Die Klage mit dem Aktenzeichen S 23 R 500/21 gelte gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Die Klägerin habe das Verfahren trotz ordnungsgemäßer Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben. Die Klägerin sei mehrfach aufgefordert worden, die per Verfügung angeforderte Stellungnahme zum Schriftsatz der Beklagten vom 15.02.2022 abzugeben. Die Aufforderung der Kammer zur Äußerung sei auf entscheidungserhebliche Tatsachen gerichtet gewesen. So habe die Beklagte unter anderem mitgeteilt, dass sich die Klägerin einer Forderung der Kranken- und der Pflegekasse ausgesetzt sehe. Dieser Aspekt sei erstmals mit dem Schriftsatz der Beklagten vom 15.02.2022 in das Verfahren getragen worden. Die Tatsache sei dem Gericht bis dahin unbekannt gewesen und auch von der Klägerin nicht vorgetragen worden. Die Tatsache selber sei wesentlich gewesen, um das Klagebegehren der Klägerin bestimmen zu können, weil in Anbetracht des Umstandes, dass aus den bis dahin übersandten klägerseitigen Schriftsätzen das konkrete Klagebegehren, insbesondere welche Forderung die Beklagte gegenüber der Klägerin geltend gemacht haben solle, nicht zu erkennen gewesen sei.
Der Gerichtsbescheid ist dem Bevollmächtigten der Klägerin am 28.02.2023 zugestellt worden.
Am 24.03.2023 hat die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegt. Das Verfahren ist zunächst dem 3. Senat unter dem Az. L 3 R 258/23 zugeordnet und am 30.01.2024 an den erkennenden Senat abgegeben worden.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine (fiktive) Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG nicht vorliegen und wiederholt ihr Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 24.02.2023 aufzuheben und festzustellen, dass das beim Sozialgericht Münster ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 23 R 500/21 geführte Verfahren fortzusetzen ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie nimmt zur Begründung Bezug auf die Ausführungen im Gerichtsbescheid vom 14.02.2023.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Streitakte, die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und die ebenfalls beigezogenen Akten aus dem weiteren von den Beteiligten aufgrund eines Überprüfungsantrags nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) vor dem Sozialgericht Münster geführten Rechtsstreit mit dem Aktenzeichen S 14 R 206/23 Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige, insbesondere statthafte und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid vom 24.02.2023 ist zulässig und vollumfänglich begründet.
Die Berufung ist zulässig. Stellt ein Kläger einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens, führt das Sozialgericht das Verfahren entweder in der Sache fort oder stellt durch Urteil fest, dass das Verfahren erledigt ist. Gegen die feststellende Entscheidung des Sozialgerichts, dass die Klage als zurückgenommen gilt, ist das Rechtsmittel statthaft, das auch gegen eine Entscheidung in der Sache selbst einzulegen wäre (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 19.03.2020 -B 4 AS 4/20 R - juris Rn. 12ff). Hier ist die Berufung gem. § 143 SGG ohne gesonderte Zulassung statthaft.
Zulässiger Streitgegenstand der Berufung der Klägerin ist allein die Frage, ob der Rechtsstreit S 23 R 500/21 bei dem Sozialgericht Münster erledigt ist. Allein hierüber hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden. Da das LSG den Streitfall (nur) im gleichen Umfang wie das Sozialgericht (§ 157 Abs. 1 Satz 1 SGG) prüft, ist der Senat gehindert, eine Sachentscheidung über den ursprünglich erstinstanzlich gestellten Hauptantrag der Klägerin zu treffen (vgl. LSG NRW, Urteil vom 07.09.2022 – L 3 R 514/21 - juris Rn. 39; Urteil vom 09.05.2017 – L 17 U 315/16 – juris Rn. 13; Schmidt in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Auflage 2023, § 102 Rn. 13; Burkiczak in: jurisPK SGG, Stand 21.10.2024, § 102 Rn. 123; offen gelassen in BSG, Urteil vom 19.03.2020 – B 4 AS 4/20 R – juris Rn. 19). Soweit die Auffassung vertreten wird, Gegenstand des Berufungsverfahrens seien auch die vom Kläger im Ausgangsverfahren erhobenen Ansprüche selbst (LSG NRW, Urteil vom 05.08.2022 – L 12 SO 96/22 – juris Rn. 123.1; Urteil vom 04.05.2023 – L 7 AS 476/23 – juris Rn. 27f.), vermag der erkennende Senat sich dem nicht anzuschließen. Denn mit der Einlegung der Berufung und dem Eintritt des damit einhergehenden Devolutiv- und Suspensiveffekts ist zwar die Zuständigkeit zur vollumfänglichen Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung auf das LSG übergegangen. Gegenstand der erstinstanzlichen Entscheidung war aber nicht das Bestehen oder Nichtbestehen des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs, sondern alleine die Frage, ob die Klage als zurückgenommen gilt. Liegen die Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG nicht vor, ist die Instanz nicht beendet, da das Verfahren zu keinem Zeitpunkt durch Rücknahme erledigt war. Billigte man dem LSG in dieser prozessualen Lage die Kompetenz zu, selbst über den geltend gemachten Anspruch zu befinden, nähme man den Beteiligten nicht nur die Möglichkeit, eine Sachentscheidung der ersten Instanz zu erhalten, sondern trüge überdies der fortbestehenden Rechtshängigkeit der Sache vor dem Sozialgericht nicht genügend Rechnung.
Der Senat ist in der Folge auch nicht gehindert, über die Berufung zu entscheiden, obwohl die im Streit über einen nach Betriebsprüfung gem. § 28p SGB IV ergangenen Verwaltungsakt vorzunehmenden notwendigen Beiladungen nach § 75 Abs. 2 SGG noch nicht erfolgt sind bzw. die beizuladenden Sozialversicherungsträger noch nicht über ihr Antragsrecht in Kenntnis gesetzt worden sind (§ 75 Abs. 2b SGG). Vielmehr wird dies das Sozialgericht in den fortzuführenden Klageverfahren zu veranlassen haben.
Die Berufung der Klägerin ist überdies begründet. Eine wirksame fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.
Eine Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger ist in der Betreibensaufforderung auf die sich aus Satz 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGG).
Die Betreibensaufforderung vom 26.08.2022 ist formell wirksam ergangen. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R - juris Rn. 49) ist die Betreibensaufforderung durch den zuständigen Richter zu verfügen und mit vollem Nachnamen zu unterschreiben. Zuzustellen ist eine Ausfertigung oder eine beglaubigte Abschrift (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010 a.a.O.). Die Kammervorsitzende hat hier die Betreibensaufforderung mit vollem Nachnamen unterschrieben und verfügt, dass eine beglaubigte Abschrift dem Bevollmächtigten der Klägerin zuzustellen ist.
Der ursprüngliche Rechtsstreit ist deshalb nicht durch fiktive Klagerücknahme erledigt, da die materiellen Voraussetzungen für das Eingreifen der Rücknahmefiktion nicht vorgelegen haben. Die Fiktion einer Klagerücknahme ist zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG - vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012 – 1 BvR 2254/11 – juris Rn. 26ff.) und des BSG (a.a.O.) auch vor dem Hintergrund der Prozessgrundrechte auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes und rechtlichen Gehörs aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) und Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich zulässig, unterliegt jedoch strengen Anforderungen.
So darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Das BVerfG und das BSG haben zugleich aber betont, dass Vorschriften über eine Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R – juris Rn. 18 ff). § 102 Abs. 2 SGG dient nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten. Die Rücknahmefiktion soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BVerfG, a.a.O.); § 102 Abs. 2 SGG bezweckt indes nicht, einen Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern dient (nur) der Klärung aufgekommener Zweifel am Fortbestehen seines Rechtsschutzinteresses (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012 a.a.O. Rn. 35; LSG NRW, Beschluss vom. 20.01.2016 - L 19 AS 1863/15 B - juris Rn. 16). Stets muss sich aus dem Verhalten des Klägers der Schluss auf einen Wegfall des Sachbescheidungsinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, ableiten lassen. Denn die Klagerücknahmefiktion ist "kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen" (BSG, Urteil vom 01.07.2010 a.a.O. Rn. 51).
Für den Erlass einer Betreibensaufforderung i.S.d. § 102 Abs. 2 SGG genügt deshalb nicht jegliche Verletzung einer Mitwirkungspflicht. Vielmehr ist nur das Unterlassen einer solchen prozessualen Mitwirkungshandlung erheblich, die für die Feststellung von entscheidungserheblichen Tatsachen bedeutsam ist, also für das Gericht - nach seiner Rechtsansicht - notwendig ist, um den Sachverhalt zu klären und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010 a.a.O. Rn. 52).
Davon ausgehend lässt sich ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin nicht feststellen. Die Klägerin hat nach Klageerhebung in ausreichendem Umfang mitgewirkt. Sie hat einen Anfechtungsantrag gestellt und zur Begründung vorgetragen, dass die von der Arbeitgeberin erhaltenen Zahlungen nicht in vollem Umfang Arbeitsentgelt dargestellt hätten, sondern es sich dabei auch um Spesen, Nachtzuschläge etc. gehandelt habe. Hierzu hat sie die in niederländischer Sprache verfassten Lohnabrechnungen vorgelegt. Auf Aufforderung des Gerichts vom 28.10.2021, das Klagebegehren zu konkretisieren und weiter substantiiert zu begründen, ist ein weiterer Schriftsatz eingegangen, in dem sie - fälschlicherweise - ausführte, die Beklagte nehme sie auf Zahlung von Beiträgen in Anspruch. Hierauf hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 15.02.2022 vorgetragen, die Klägerin sehe sich einer Forderung nicht der Beklagten, sondern der Kranken- und der Pflegekasse ausgesetzt.
Das Gericht hat sodann die Klägerin mit Verfügung vom 16.02.2022 - ohne dies weiter zu konkretisieren - zur Stellungnahme zu diesem Schriftsatz aufgefordert und im weiteren Verlauf mehrfach erinnert. Die Nichtübersendung einer solchen Stellungnahme stellt keinen Verstoß gegen eine erhebliche prozessuale Mitwirkungspflicht dar. Denn das Sozialgericht hat gerade keine Mitwirkungshandlung von der Klägerin eingefordert, die für die Feststellung von entscheidungserheblichen Tatsachen bedeutsam wäre, obgleich der Sachverhalt durchaus Anlass geboten hätte, in Ermittlungen hinsichtlich der geleisteten Zahlungen der Arbeitgeberin und deren Zweckbestimmung einzusteigen. Hierauf zielen die Verfügungen des Gerichts, auch nicht in der Betreibensaufforderung vom 26.08.2022, indes nicht ab. Ausführungen zur – nach Ansicht des Sozialgerichts vorliegenden - Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Stellungnahme zu dem Schriftsatz der Beklagten finden sich erst in dem mit der Berufung angegriffenen Gerichtsbescheid vom 24.02.2023.
Gegen die Annahme eines Wegfalls des Rechtsschutzinteresses der Klägerin spricht ferner der Umstand, dass ihr Bevollmächtigter noch mit Schriftsatz vom 21.07.2022 um Fristverlängerung gebeten hatte. Soweit das Sozialgericht im Gerichtsbescheid vom 24.02.2023 daraus schließt, das Ausbleiben der angekündigten Stellungnahme spreche gerade für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, vermag dies kein anderes Ergebnis zu begründen. Denn aus dem Antrag auf Fristverlängerung kann lediglich geschlossen werden, dass jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu dem er gestellt wurde, noch ein Rechtsschutzinteresse bestand. Anhaltspunkte für den späteren Wegfall ergeben sich daraus jedoch nicht.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts vorbehalten, da es sich bei dem Fortsetzungsstreit um einen Zwischenstreit handelt (vgl. LSG NRW, Urteil vom 19.05.2017 a.a.O. Rn. 22; Sächsisches LSG, Urteil vom 28.02.2013 – L 7 AS 523/09 - juris Rn. 30).
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht erfüllt sind.