Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 15.05.2023 geändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger Leistungen nach einem Pflegegrad 2 auch für die Zeit vom 00.00.0000 bis zum 00.00.0000 zu erbringen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Ablehnung von Leistungen nach dem Pflegegrad 2 für die Zeit von März 0000 bis März 0000.
Der 00.00.0000 geborene Kläger ist seit dem 00.00.0000 bei der Beklagten, einem privaten Versicherungsunternehmen in der Rechtsform der AG, gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit versichert. Er bezieht seit 0000 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung und ergänzende Grundsicherungsleistungen. Seit 0000 hat der Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 50, seit 0000 einen GdB von 80 und seit 0000 einen GdB von 100 inne.
Bei ihm wurden u.a. eine Zwangsstörung, Gedanken und Handlungen gemischt, teils schizotype, teils paranoide Ausprägung, eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), einer Autismus-Spektrum-Störung bzw. Asperger-Syndrom, eine gemischte Angst- und depressive Störung und ein Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma (0000) diagnostiziert.
Im April 0000 beantragte der Kläger die Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung. Es sei seit 0000 durchgehend beeinträchtigt.
Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch L.. Der Sachverständige X. untersuchte den Kläger am 17.09.2021 mittels eines strukturierten Telefoninterviews und ermittelte in seinem Gutachten vom 19.09.2021 eine Summe der gewichteten Punkte (gewP) von insgesamt 46,25 aus den Modulen Nr. 1 - 6 des Begutachtungsinstruments. Hierbei entfielen 15 gewP auf das Modul 3 - Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, 20 gewP auf das Modul 4 - Selbstversorgung und 11,25 gewP auf das Modul 6 – Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Der Sachverständige beschrieb bei dem Kläger mit Blick auf das Modul 3 eine bestehende nächtliche Unruhe, Ängste und Antriebslosigkeit, sowie eine darauf basierende Erschöpfung, aus welcher das Erfordernis einer Erinnerung an zahlreiche Verrichtungen des Moduls 4 resultiere. Gestützt auf diese Einschätzung erteilte die Beklagte unter dem 27.09.2021 eine Leistungszusage dahingehend, dass sie Leistungen nach dem Pflegegrad 2 ab dem 00.00.0000 zunächst bis zum 00.00.0000 gewähre.
Hiergegen wandte sich der Kläger am 12.10.2021 mit einem umfänglich begründeten Widerspruch. Die Beklagte veranlasste eine weitere Begutachtung durch L.. Die Sachverständige K. ermittelte in ihrem Gutachten vom 02.11.2021 nunmehr insgesamt 0 gewP. Das Ergebnis der Zweitbegutachtung teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 18.11.2021. Der Kläger könne Leistungen nach dem Pflegegrad 2 nicht beanspruchen.
Daraufhin hat der Kläger am 29.11.2021 Klage bei dem Sozialgericht erhoben. Er hat die Ansicht vertreten, dass bei ihm seit Jahren der Pflegegrad 2 vorliege. Er sei im Verlaufe der letzten 40 Jahre Opfer mehrerer Mordversuche seitens seiner Verwandtschaft geworden. Man habe versucht, ihn anlässlich einer Nachlasssache aus dem Weg zu räumen, u.a. auch durch den Versuch, ihn in einer stationären Einrichtung unterzubringen. Mehrfach sei er durch seine Verwandtschaft faktisch der Obdachlosigkeit preisgegeben worden. Zwischenzeitlich habe er unter gesetzlicher Betreuung gestanden. In einem neurologisch-psychiatrischen Gutachten aus September 2019 habe der dortige Sachverständige eine schizotype Störung, paranoide Schizophrenie kombiniert, bzw. andere Persönlichkeitsstörungen mit schizoiden und paranoiden Anteilen diagnostiziert. Der dortige Sachverständige habe ihn aber zu Unrecht als primär psychiatrisch erkrankt angesehen.
Der Kläger hat nach dem Verständnis des Sozialgerichts schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen nach dem Pflegegrad 2 rückwirkend seit 1995 (1992) oder spätestens seit dem 00.00.0000 bis zum 00.00.0000 zu zahlen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat sie auf die Feststellungen in dem Zweitgutachten der L. vom 27.10.2021 verwiesen. Sie habe die bislang erbrachten Versicherungsleistungen in Höhe von 2.212,00 € von dem Kläger zurückverlangt. Eine Rückzahlung sei bislang nicht erfolgt. Für die Zeit vor der Antragstellung im April 0000 bestehe schon gemäß § 6 Abs. 1 AVB kein Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Der Kläger sei auch erst seit dem 00.00.0000 bei der Beklagten versichert. Nach Form und Inhalt seines Vorbringens bestünden im Übrigen Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers.
Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat das Amtsgericht – Betreuungsgericht – H.-Steele mitgeteilt, dass kein laufendes Betreuungsverfahren anhängig sei.
Das Sozialgericht hat sodann zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Die Ambulanz der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie O. H. hat Arztbriefe vom 10.07.2018 und 22.01.2021 übersandt. Das I. hat über eine Vorstellung des Klägers am 03.12.2020 berichtet, das Westdeutsche Herz- und Gefäßzentrum über eine Vorstellung am 01.12.2020 sowie am 26.02.2021. Schließlich haben die Evangelischen Kliniken H. - Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin - über eine stationäre Behandlung des Klägers vom 03.10. bis zum 00.00.0000 berichtet. Er sei aus eigenem Entschluss aufgrund zunehmender Reduktion des Funktionsniveaus sowie fehlender Alltagskompetenzen bei leicht reduziertem Pflegezustand aufgenommen worden. Die Entlassung sei mit gebessertem Funktionsniveau erfolgt. Eine gesetzliche Betreuung und Leistungen des ambulant betreuten Wohnens lehne der Kläger ab.
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte aufgrund eines neuen Antrags des Klägers, welcher am 00.00.0000 bei der Beklagten eingegangen ist, ein weiteres Gutachten der L. eingeholt. Die Sachverständige Gülderen stellte auf der Grundlage einer Untersuchung am 07.07.2022 mit 18,75 gewP das Vorliegen eines Pflegegrades 1 ab April 0000 fest. Die Beklagte hat auf dieser Grundlage eine Leistungszusage erteilt. Der Kläger erhalte ab dem 00.00.0000 Leistungen nach einem Pflegegrad 1.
Der Kläger hat hiergegen Widerspruch erhoben. Die Beklagte hat daraufhin ein Zweitgutachten der L. eingeholt. Der Sachverständige U. hat auf der Grundlage einer Untersuchung am 00.00.0000 insgesamt 36,25 gewP und damit in ausdrücklicher Abweichung vom Vorgutachten die Voraussetzungen des Pflegegrades 2 seit März 0000 als gegeben angesehen. Der Sachverständige hat dabei im Modul 2 2 Einzelpunkte (EP) und 3,75 gewP, im Modul 3 1 Einzelpunkt (EP) und 3,75 gewP, im Modul 4 8 EP und 20,00 gewP, im Modul 5 1 EP und 5 gewP sowie im Modul 6 5 EP und 7,5 gewP zugrunde gelegt.
Die Mutter des Klägers habe als Pflegeperson berichtet, mit dessen Versorgung zunehmend überfordert zu sein. Der Hilfebedarf habe sich nach ihrer Darstellung seit ca. Anfang des Jahres 00000 deutlich erhöht. Der Sachverständige hat die Versorgungssituation des Klägers als defizitär beschrieben. Dieser brauche dringend einen professionellen Pflegedienst, ansonsten müsse er stationär untergebracht werden. Bei erkennbarer Antriebsschwäche sei das Erfordernis von Impulsgaben bei den Verrichtungen des Moduls 4 plausibel.
Mit Leistungszusage vom 12.10.2022 hat die Beklagte hierauf gestützt Leistungen nach dem Pflegegrad 2 ab dem 00.00.0000 zuerkannt. Aufgrund des noch ausstehenden Rückzahlungsbetrages erfolge zunächst keine Auszahlung von Leistungen.
Anschließend hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Pflegesachverständigen D. vom 03.12.2022 nebst ergänzender Stellungnahme vom 10.02.2023. Der Sachverständige hat den Kläger am 01.12.2022 in seiner häuslichen Umgebung untersucht.
Der Sachverständige hat ausweislich seines Gutachtens im Modul 2 3 EP und 3,75 gewP, im Modul 3 2 EP und 3,75 gewP, im Modul 4 einen EP und Null gewP sowie im Modul 6 4 EP und 7,5 gewP, mithin insgesamt 11,25 gewP festgestellt. Es bestehe damit aktuell kein Pflegegrad. Für den streitigen Zeitraum von April 0000 bis März 0000 sei ebenfalls das Bestehen eines Pflegegrades 2 nicht nachvollziehbar. Gegenüber dem Vorgutachten des U. vom 00.00.0000 sei festzustellen, dass der Kläger mit Blick auf das Modul 4 berichtet habe, alle Maßnahmen der Körperpflege sowie das An- und Auskleiden autark zu verrichten. Deshalb sei lediglich die Aufforderung zum Duschen als punktuelle Hilfe anrechenbar. Anamnestisch habe der Kläger angegeben, seine Ängste selbst durch Autosuggestion zu lindern. Hilfe bei der Medikation benötige der Kläger in Form der Bereitstellung eines Wochendispensers, mithin lediglich einmal in der Woche.
Der Kläger hat sich kritisch zu dem Gutachten geäußert. Die Pflegeperson müsse ihm im Alltag helfen. Sie müsse ihn zur Körperpflege motivieren und auch unterstützend tätig werden. Täglich leide er an Ängsten, Antriebsschwäche und nächtlicher Unruhe.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 10.02.2023 ist der Sachverständige bei seiner Einschätzung verblieben. Er habe die psychiatrischen Erkrankungen des Klägers sehr wohl in den verschiedenen Modulen berücksichtigt. Der Kläger habe anamnestisch selbst verneint, depressiv zu sein.
Das Sozialgericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 04.04.2023 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
Mit Gerichtsbescheid vom 15.05.2023 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger könne von der Beklagten für die Zeit vor dem 00.00.0000 keine Leistungen nach einem Pflegegrad 2 von der Beklagten beanspruchen. Nach § 1 Abs. 6 Ziffer 2 der maßgeblichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen liege der Pflegegrad 2 bei erheblichen Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten vor. Hierfür sei eine gewichtete Gesamtpunktzahl von 27 bis unter 47,5 des Begutachtungsinstruments zu erreichen. Nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen D. lägen beim Kläger bis zum 00.00.0000 lediglich 11,25 gewichtete Gesamtpunkte vor. Auch nach Auswertung der Einwendungen des Klägers sei der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 10.02.2023 bei dieser Einschätzung verblieben. Soweit der Kläger Leistungen aus der Pflegeversicherung seit 1992 oder 1995 bzw. ab dem 00.00.0000 begehre, bestehe schon deshalb kein Anspruch, weil sein Antrag auf Pflegeleistungen erst im April 0000 bei der Beklagten eingegangen sei.
Gegen den ihm am 22.05.2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 13.06.2023 Berufung eingelegt mit dem Begehren, die Beklagte möge auch für die Zeit von März 0000 bis März 2022 Leistungen nach dem Pflegegrad 2 zu erbringen. Zur Begründung hat der Kläger im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt. Der Sachverständige D. habe seine pflegerelevanten Beeinträchtigungen nicht vollständig erfasst. Er leide nicht an „Angst und depressive Störung gemischt“. Seine Ängste seien ein Symptom der PTBS.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger ausgeführt, er habe im Hinblick auf das erste Gutachten von X. mit seinem Widerspruch nur klarstellen wollen, dass er einige Sachen noch könne und selbst nicht von 46, sondern eher von 36 gewP ausgegangen sei. Dass in dem Folgegutachten 0 gewP festgestellt worden seien, habe ihn überrascht.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 15.05.2023 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn Leistungen nach einem Pflegegrad 2 auch für die Zeit vom 00.00.0000 bis zum 00.00.0000 zu erbringen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung stützt sie sich insbesondere auf die Feststellungen des im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen D..
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist im tenorierten Umfang begründet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.05.2023 im Wesentlichen zu Unrecht abgewiesen.
Die vom Kläger erhobene Leistungsklage ist nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die zulässige Klageart, da die Beklagte als privates Versicherungsunternehmen nicht befugt ist, zur Regelung der zwischen ihr und ihren Versicherten bestehenden Rechtsverhältnisse Verwaltungsakte zu erlassen. Entsprechend konnte der Kläger nach der Leistungsablehnung der Beklagten mit Schreiben vom 18.11.2021 ohne Vorverfahren in der Sechsmonatsfrist am 29.11.2021 Klage erheben (vgl. BSG, Urteil vom 13.05.2004 - B 3 P 7/03 R).
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat der Kläger einen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung nach einem Pflegegrad 2 auch für die Zeit vom 00.00.0000 bis zum 00.00.0000.
Dies ergibt sich aus der zwischen den Beteiligten maßgeblichen Regelung des § 192 Abs. 6 Satz 3 VVG i.V.m. §§ 23 Abs. 1, 37 Abs. 1 SGB XI i.V.m. dem zwischen der Beklagten und dem Kläger geschlossenen Vertrag über eine private Pflegeversicherung und den diesem Vertrag zu Grunde liegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen in der zum Zeitpunkt der Antragstellung gültigen Fassung (Bedingungsteil MB/PPV 2019) sowie dem Tarif PV für die private Pflegepflichtversicherung jedenfalls unter Zugrundelegung der von der Beklagten unter dem 27.09.2021 abgegebenen Leistungszusage für diesen Zeitraum.
Nach § 1 Abs. 1 AVB leistet die Beklagte im Versicherungsfall, soweit Pflegebedürftigkeit nach § 1 Abs. 2 AVB gegeben ist. Danach sind pflegebedürftig solche Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können.
Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für sechs Monate, und mit mindestens der im § 1 Abs. 6 AVB festgelegten Schwere bestehen. Maßgeblich sind für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten die in den 6 folgenden Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien:
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- Mobilität
- Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
- Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
- Selbstversorgung
- Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
- Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
Nach § 1 Abs. 4 AVB erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Pflegegrad, welcher mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstrumentes ermittelt wird. Dieses ist in 6 Module gegliedert. In jedem Modul werden die jeweils erreichbaren Summen aus Einzelpunkten gegliedert. Jedem Punktebereich in einem Modul werden unter Berücksichtigung der in ihm zum Ausdruck kommenden Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sowie der Gewichtung der Module gewichteten Punkte zugeordnet. Mobilität wird mit 10 % gewichtet, kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 %, Selbstversorgung mit 40 %, Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 % und Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 %. Zur Ermittlung des Pflegegrades sind die bei der Begutachtung festgestellten Einzelpunkte in jedem Modul zu addieren und dem Punktebereich und den sich daraus gewichteten Punkten zuzuordnen. Den Modulen 2 und 3 ist ein gemeinsamer gewichteter Punkt zuzuordnen, der aus den höchsten gewichteten Punkten entweder des Moduls 2 oder des Moduls 3 besteht. Aus den gewichteten Punkten aller Module sind durch Addition Gesamtpunkte zu bilden.
Nach § 1 Abs. 6 Ziffer 2 AVB liegt der Pflegegrad 2 bei erheblichen Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten vor, d.h. bei Feststellung von insgesamt 27 bis unter 47,5 gewP im Begutachtungsinstrument.
Grundsätzlich hat der Kläger das Vorliegen dieser Voraussetzungen zu beweisen. Im vorliegenden Fall ist allerdings die Beweislast aufgrund der Zusage der Beklagten vom 27.09.2021, Leistungen nach dem Pflegegrad 2 ab dem 00.00.0000 zunächst bis zum 00.00.0000 zu gewähren, umgekehrt. Denn bei der Leistungszusage handelt es sich um ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis (vgl. BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 P 9/01 R), welches der Kläger auch angenommen hat. Seinem Widerspruch vom 12.10.2021 lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass er sich gegen die für ihn günstige Leistungszusage nach dem Pflegegrad 2 als solche wendet. Der Kläger war lediglich mit dem Inhalt der von dem Sachverständigen X. dargestellten Funktionseinschränkungen nicht vollständig einverstanden, wie er es im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat noch einmal ausdrücklich klargestellt hat. Der Darstellungsumfang des Widerspruchs ist dabei erkennbar dem Krankheitsbild des Klägers geschuldet.
Die Beklagte kann sich daher nur dann wirksam von der Zusage lösen, wenn zur Überzeugung des Senats feststeht, dass in dem betroffenen Zeitraum die Voraussetzungen für Leistungen nach dem Pflegegrad 2 nicht vorgelegen haben. Diese Überzeugung konnte der Senat nicht gewinnen.
In Auswertung aller vorliegenden Gutachten erweist sich das Krankheitsbild des Klägers sowohl diagnostisch als auch mit Blick auf die hieraus resultierenden Einschränkungen als vielschichtig und schwer greifbar. Die Feststellungen reichen von 46,25 gewP - und damit beinahe Pflegegrad 3 erreichend - durch X. (19.09.2021) über 36,25 gewP durch U. (00.00.0000), 18,75 gewP durch Frau Gülderen (07.07.2022), 11,25 gewP durch Herrn D. (03.12.2022) bis hin zu Null gewP durch Frau K. (02.11.2021).
Die Diskrepanz verdeutlicht sich insbesondere im Modul 4 und dort bei der Frage, ob der Kläger Unterstützung bei den dort aufgeführten Verrichtungen insbesondere der Körperpflege in Gestalt von Aufforderungen bedarf. Gerade diesbezüglich erachtet der Senat die Einschätzung des Sachverständigen U. als schlüssig und nachvollziehbar. Dieser hat - fußend auf dem komplexen Störungsbild des Klägers - das Vorliegen von Ängsten und Antriebslosigkeit als nachvollziehbar erachtet und hieraus abgeleitet einen Erschöpfungszustand festgestellt, der im Modul 4 auch und gerade in den Bereichen der Körperpflege zur Annahme lediglich überwiegender Selbständigkeit führt, da der Kläger regelhaft zur Durchführung angehalten bzw. hieran erinnert werden muss. Diese Sichtweise deckt sich mit der Einschätzung des Sachverständigen X..
Die abweichende Einschätzung der Sachverständigen Gülderen in ihrem Gutachten aus Juli 0000 sah U. nicht als überzeugend an. Diese Einschätzung teilt der Senat, schon weil nicht erkennbar wird, dass die Sachverständige sich mit dem Krankheitsbild des Klägers und insbesondere der Frage der hieraus resultierenden Erschöpfung hinreichend auseinandergesetzt hat. Entsprechend ist auch die Beklagte der Einschätzung des U. mit ihrer erneuten Leistungszusage ab dem 00.00.0000 gefolgt.
In der Gesamtschau vermochte auch das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten des Sachverständigen D. vom 03.12.2022 nicht überzeugen. Zwar hat der Kläger ihm gegenüber anamnestisch angegeben, er wasche und dusche sich selbst autark. Allerdings kann dies - abgesehen von einer denkbaren Selbstüberschätzung - auch Ausdruck kommunikativer Defizite sein. Unmittelbar nach der Übermittlung des Gutachtens hat sich der Kläger ausdrücklich gegen die Feststellung mit der Erklärung gewandt, seine Mutter müsse ihn zur Körperpflege anhalten. Kommunikative Defizite werden auch an anderer Stelle deutlich. Der Sachverständige D. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, der Kläger habe ihm gegenüber berichtet, er sei nicht depressiv. Bei Durchsicht der umfänglichen Ausführungen im Laufe des Verfahrens wird allerdings deutlich, dass der Kläger sich lediglich gegen die Diagnose „Angst und Depression gemischt“ wendet, weil er den Schwerpunkt seine Erkrankung lebensgeschichtlich in der posttraumatischen Belastungsstörung sieht und seine Ängste und Einschränkungen dort berücksichtigt wissen möchte. Auch dieses Beharren des Klägers sieht der Senat als störungsspezifisch an.
Der Sachverständige U. hat seine Einschätzung - der ihm gestellten Beweisfrage entsprechend - auf den Zeitpunkt des Neuantrags des Klägers bezogen. Seine Einschätzung ist aber zumindest auch auf den Zeitpunkt Anfang des Jahres 0000 zu erstrecken. Dies ergibt sich schon aus der anamnestischen Darstellung der Mutter des Klägers als Pflegeperson, die ausgeführt hat, dass sich der Pflegebedarf bereits seit ca. Anfang 0000 erhöht habe und sie zunehmend überfordert sei.
Berücksichtigt man sodann die Darstellung der H. - Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin - über die stationäre Behandlung des Klägers vom 00.00. bis zum 00.00.0000, so war der Kläger jedenfalls auch schon im Oktober 0000 deutlich funktional beeinträchtigt. Die Aufnahme erfolgte bei zunehmender Reduktion des Funktionsniveaus sowie fehlender Alltagskompetenzen und leicht reduziertem Pflegezustand. Der psychopathologische Befund wurde wie folgt beschrieben: belastet, klagsam, umständlich, querulatorisch und eingeengt beschrieben, keine Ängste, keine Zwänge, Affektlage gedrückt, Schwingungsfähigkeit reduziert, psychomotorisch angespannt und leicht agitiert. Die im Entlassungsbericht ausgeführte Besserung der Funktion war bei Betrachtung des weiteren Verlaufs jedenfalls nicht von Dauer bzw. Ausdruck einer nunmehr gewonnenen Stabilität.
Das Gutachten der Frau K., die am 02.11.2021 mit Null gewP keinerlei Unterstützungsbedarf gesehen hat, ohne die gerade vorangegangene stationäre psychiatrische Behandlung in irgendeiner Form einzuordnen, ist vor diesem Hintergrund für den Senat in keiner Weise überzeugend.
Auch für den Zeitraum März 0000 bis September 0000 kann der Senat keine Überzeugung davon gewinnen, dass der Pflegegrad 2 nicht vorgelegen hat.
Gegen eine solche Überzeugung spricht zunächst das Gutachten des X. vom 19.09.2021. Dieser beschrieb mit 46,25 gewP fast die Voraussetzungen des Pflegegrads 3 und sah die Möglichkeit einer Besserung allenfalls bei therapeutischen Maßnahmen über einen längeren Zeitraum, woran konsequenterweise auch die zeitliche Begrenzung der ursprünglichen Leistungszusage der Beklagten anknüpfte.
Dass die Einschätzung des X. im September 0000 nicht auf einer gerade erst eingetretenen Verschlechterung beruhte, die zur stationären Aufnahme im Oktober 0000 führte, verdeutlicht der Bericht der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie O. H. vom 22.01.2021. Dort wurde beschrieben, dass der Kläger sich Mitte Februar 0000 stationär im O. H. aufnehmen lassen wollte. Angesichts der lebensgeschichtlich nachvollziehbaren Ablehnung stationärer psychiatrischer Behandlungen erachtet der Senat diesen Umstand als Ausdruck eines zum damaligen Zeitpunkt bestehenden besonderen Leidensdrucks.
Klarstellend ist auszuführen:
Soweit der Kläger für den Zeitraum vom 00.00.0000 bis zum 00.00.0000 bereits Leistungen nach einem Pflegegrad 2 erhalten hat, verbleiben diese bei ihm. Sofern die Beklagte den vermeintlichen Rückzahlungsanspruch zwischenzeitlich mit den ab dem 00.00.0000 unstreitig zu gewährenden Leistungen verrechnet hat, sind die Leistungen nachzuzahlen.
Soweit der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung ausweislich des Sitzungsprotokolls beantragt hat, ihm auch für den Monat März 0000 Leistungen nach dem Pflegegrad 2 zu erbringen, war die Berufung zurückzuweisen. Der Kläger kann für diesen Monat schon allein deshalb keine Leistungen beanspruchen, weil er erst im April 0000 einen Leistungsantrag gestellt hat, § 6 Abs. 1 AVB. Diesen Umstand konnte dem Kläger in der mündlichen Verhandlung auch nachvollziehen. In den Berufungsantrag des Klägers wurde der Monat März 0000 lediglich versehentlich aufgenommen. Die Beschränkung des Berufungserfolgs des Klägers auf die Zeit ab dem 00.00.0000 ergibt sich hinreichend aus dem Tenor der Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG.