S 3 KR 147/24

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 KR 147/24
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

T a t b e s t a n d :

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Übernahme von Fahrtkosten zur ambulanten Krankenhausbehandlung als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Der 1954 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet an einer chronischen Nierenbeckenentzündung nach Entfernung der Harnblase und Anlage zweier Nierenfisteln sowie einer Neoblase und benötigt hierzu den Wechsel der Nephrostornien alle 6-8 Wochen im Klinikum I. Mit Bescheid vom 16.05.2024 wurde ihm von der Pflegekasse der Pflegegrad 2 zuerkannt.

Am 05.03.2024 beantragte der Kläger hierfür bei der Beklagten die Übernahme der Fahrtkosten mit dem Pkw zur ambulanten Behandlung bis 31.12.2024 unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des Klinikums I zur Notwendigkeit der Termine und zur Notwendigkeit eines Fahrdienstes.

Mit Bescheid vom 07.03.2024 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Fahrtkosten zur ambulanten Behandlungen könnten nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen der Merkzeichen "aG", "Bl" oder "H" oder ab Pflegegrad 3 mit Mobilitätseinschränkung bzw. ab Pflegegrad 4 übernommen werden. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er müsse für die Behandlung alle 6-8 Wochen ins Krankenhaus und dürfe hierzu nicht selbst Auto fahren.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.04.2024 als unbegründet zurück und verwies auf die gesetzlichen Grundlagen.

Am 07.05.2024 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben. Er leide an einer chronischen Nierenbeckenentzündung mit Dislokation. Der Austritt aus den Nieren müsse jeden 2. Tag durch den Pflegedienst neu verbunden werden. Nach einer langen stationären Behandlung werde der Wechsel der Nierenfistel alle 6 bis 8 Wochen ambulant in der Klinik für Akut-und Notfallmedizin des Klinikums I durchgeführt. Diese Maßnahmen seien mit erheblichen Schmerzen und Risiken verbunden. Mitunter könne je nach Blutwerten auch zwischen diesen Zeiträumen eine Akutbehandlung erforderlich sein und es sei ihm bereits empfohlen, diese Fistelbehandlung stationär über einen Zeitraum von 2 - 3 Tagen durchführen zu lassen, weil insbesondere nach dem Wechsel der Fistel ganz besondere Risiken gegeben seien. Wenn anlässlich der Fahrt sofort nach Wechsel der Fistel die Fäden im Rücken gelöst werden, bestehe die massive Gefahr einer Nierenvergiftung und damit Lebensgefahr. Das Klinikum bestätige jedenfalls, dass unbedingt ein Fahrdienst bei dem Wechsel der Fistel im Rhythmus von 6 - 8 Wochen erforderlich sei. Man berufe sich auf § 8 Abs. 4 der Krankentransport-Richtlinie, der beim Kläger einschlägig sei.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 07.03.2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.04.2024 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung (Wechsel der Nierenfistel) alle sechs bis acht Wochen im Klinikum I zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Diese legt ihre Akte vor und verweist auf deren Inhalte.

Für den weiteren Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die Gerichts- und die Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die beim zuständigen Sozialgericht erhobene Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Nach § 60 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) übernimmt die Krankenkasse Kosten für Fahrten, wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind. Welches Fahrzeug benutzt werden kann, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall. Die Krankenkasse übernimmt Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung unter Abzug des sich nach 8 61 Satz 1 ergebenden Betrages nur nach vorheriger Genehmigung in besonderen Ausnahmefällen, die der gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach 8 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 festgelegt hat.

Um einen Ausnahmefall iS von § 60 Abs 1 Satz 3 SGB V, den der Gemeinsame Bundesausschuss in den Krankentransport-RL (idF vom 22. Januar 2004, BAnz Nr 18 S 1342; zuletzt geändert am 21. Dezember 2004, BAnz 2005 Nr 41 S 2937) festgelegt hat, geht es beim Kläger nicht.

Nach § 8 Abs 1 Satz 1 Krankentransport-RL können in besonderen Ausnahmefällen auch Fahrten zur ambulanten Behandlung bei zwingender medizinischer Notwendigkeit von der Krankenkasse übernommen und vom Vertragsarzt verordnet werden. Dies setzt nach § 8 Abs 2 Satz 1 Krankentransport-RL voraus, dass der versicherte Patient mit einem durch die Grunderkrankung vorgegebenen Therapieschema behandelt wird, das eine hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum aufweist und dass diese Behandlung oder der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf den Patienten in einer Weise beeinträchtigt, dass eine Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib und Leben unerlässlich ist. Solche Ausnahmefälle sind nach der nicht abschließenden Liste in der Regel Dialysebehandlung, onkologische Strahlen- und Chemotherapie (§ 8 Abs 2 Satz 2 und 4 in Verbindung mit Anlage 2 der Krankentransport-RL). Weitere Ausnahmefälle sind in § 8 Abs 3 Krankentransport-RL geregelt, die hier aber ebenfalls nicht vorliegen (Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen "aG", "Bl" oder "H", Einstufungsbescheid gemäß dem Elften Buch Sozialgesetzbuch in die Pflegestufe 2 oder 3 oder Erfüllung der entsprechenden Sachkriterien).

Der Begriff der "hohen Behandlungsfrequenz" ist dabei auslegungsbedürftig. Was unter einer "hohen Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum" zu verstehen ist, zeigt eine Betrachtung der in der Rechtsprechung bisher entschiedenen Einzelfälle:

In achtwöchigen Abständen erforderlich werdende Kontrollen zur Nachsorge nach einer Herztransplantation erfüllen nach Auffassung des LSG Rheinland-Pfalz nicht die Voraussetzungen einer "hohen Behandlungsfrequenz" im Sinne der Krankentransport-Richtlinie. Bei einer Substitutionstherapie, für die der Patient täglich die Praxis des behandelnden Arztes aufsuchen muss und hierzu auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, können allerdings die Voraussetzungen für die Übernahme von Fahrkosten erfüllt sein. Auch bei wöchentlicher Behandlung ist eine hohe Behandlungsfrequenz anzunehmen, bei monatlicher Behandlung wohl nicht (Waßer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 60 SGB V (Stand: 03.01.2022), Rn. 71 unter Verweis auf: LSG Hamburg v. 30.07.2008 - L 1 KR 17/08; Hessisches LSG v. 26.06.2008 - L 7 SO 43/08 B ER - SAR 2008, 99; LSG Sachsen-Anhalt v. 16.04.2015 - L 6 KR 49/14).

Allerdings ist die Relation zwischen Dauer und Häufigkeit der Behandlung angemessen zu berücksichtigen. Daher sind die Anforderungen an die hohe Behandlungsfrequenz bei besonders langer Gesamtdauer der Behandlung zu lockern und umgekehrt. Aber auch für seit vielen Jahren und ohne absehbares Ende notwendige Kontrolluntersuchungen nach einer Nierentransplantation reicht eine Sequenz der Untersuchungstermine von zwei- bis viermal jährlich nicht. Das LSG Thüringen hat bei insgesamt 19 Behandlungen in monatlichen Abständen eine hohe Behandlungsfrequenz abgelehnt (vgl. LSG Thüringen v. 26.06.2012 - L 6 KR 401/09). Das LSG Sachsen-Anhalt hält 16 Kontrolluntersuchungen jährlich für nicht ausreichend, auch wenn sich die Behandlungen über einen unabsehbaren Zeitraum erstrecken und die Anforderungen an die Frequenz der Behandlung deshalb herabzusetzen sind (vgl. LSG Sachsen-Anhalt v. 23.01.2013 - L 4 KR 17/10 - juris Rn. 47; zu monatlichen Behandlungen vgl. LSG Sachsen-Anhalt v. 16.04.2015 - L 6 KR 49/14; ebenso: Hessisches LSG, 26.06.2008 - L 7 SO 43/08 B ER - SAR 2008, 99 und Thüringer LSG, 24.7.2012 - L 6 KR 2001/11, Rn. 31: unzureichend monatliche Nachkontrollen; im Ergebnis ähnlich Bayerisches LSG, 6.5.2009 - L 4 KR 196/08 - Rn. 14; LSG NRW, 25.2.2009 - L 16 B 1/09 KR ER, Rn. 25; Sächsisches LSG, 19.1.2012 - L 3 AS 39/10 - Rn. 23, - alle jeweils juris).

Unter Berücksichtigung dieser vielfältigen Rechtsprechung kann eine Behandlungsfrequenz von vorliegend alle 6-8 Wochen den Anforderungen an den Rechtsbegriff "hohe Behandlungsfrequenz" nicht gerecht werden, auch unter Berücksichtigung, dass die Behandlung vorliegend dauerhaft durchgeführt werden muss.

Auch § 8 Abs. 4 Krankentransport-RL ist nicht einschlägig. Eine Verordnung von Fahrten zur ambulanten Behandlung ist gemäß § 8 Abs. 4 Satz 1 Krankentransport-RL auch für Versicherte möglich, die keinen Nachweis nach § 8 Abs. 3 Satz 1 Krankentransport-RL besitzen, wenn diese von einer den Kriterien von § 8 Abs. 3 Satz 1 Krankentransport-RL vergleichbaren Beeinträchtigung der Mobilität betroffen sind und einer ambulanten Behandlung über einen längeren Zeitraum bedürfen. Die Mobilitätseinschränkungen des Klägers sind nicht mit einer versorgungsbehördlich festgestellten außergewöhnlichen Gehbehinderung (Nachteilsausgleich "aG") vergleichbar (§ 8 Abs. 4 Satz 1 iVm. Abs. 3 Satz 1 Var. 1 Krankentransport-RL).

Mit einer versorgungbehördlich festgestellten außergewöhnlichen Gehbehinderung iSv. § 229 Abs. 3 SGB IX ist die Mobilitätseinschränkung des Klägers nicht vergleichbar. Der Begriff der Vergleichbarkeit iSv. § 8 Abs. 4 Krankentransport-RL ist eng auszulegen. Unter den Anwendungsbereich von § 8 Abs. 4 Krankentransport-RL fallen nur solche Personen, deren Mobilitätseinschränkungen in ihrem Ausmaß allenfalls unwesentlich hinter einer versorgungsbehördlich festgestellten außergewöhnlichen Gehbehinderung iSv. § 229 Abs. 3 SGB X zurückbleiben.

In der Sache geht es im Rahmen von § 8 Abs. 4 Krankentransport-RL vor allem um die Einbeziehung minder schwerer Mobilitätseinschränkungen (zu der Sonderkonstellation, dass materiell die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" vorliegen, aber keine behördliche Feststellung getroffen wurde, s.u.), die einer versorgungsbehördlich festgestellten außergewöhnlichen Gehbehinderung aber noch hinreichend nahestehen. Denn aufgrund der an hohe und spezifisch formulierte Anforderungen geknüpften Voraussetzungen für die Erlangung des Merkzeichens "aG" sind einer außergewöhnlichen Gehbehinderung in ihrer Schwere exakt vergleichbare Mobilitätsbeeinträchtigungen kaum vorstellbar. Der Normwortlaut "vergleichbar" legt es dabei jedoch nahe, den Kreis der nach § 8 Abs. 4 Krankentransport-RL anspruchsberechtigten, weniger mobilitätseingeschränkten Personen jedenfalls möglichst eng zu ziehen. Denn das Wort "vergleichbar" stellt dem Sinngehalt nach auf eine zumindest annähernde Gleichwertigkeit der Funktionseinschränkungen ab. Eine enge Auslegung des Begriffs der Vergleichbarkeit iSv. § 8 Abs. 4 Krankentransport-RL ist auch durch § 61 Abs. 1 Satz 3 SGB V als höherrangiger Vorschrift geboten. Bis zum 31. Dezember 2003 waren Fahrten zu ambulanten Behandlungen immer dann übernahmefähig, wenn sie eine finanzielle Härte für den Versicherten bedeuteten (§ 60 Abs. 2 Satz 2 SGB V in der vom 01.01.1989 bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung). Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14. November 2003 (BGBl. I-2190 ff.) knüpfte der Gesetzgeber in § 61 Abs. 1 Satz 3 SGB V die Übernahmefähigkeit der Kosten von Fahrten zu ambulanten Behandlungen sodann aber an einen medizinisch begründeten besonderen Ausnahmefall, wobei die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1525, S. 94) sogar von "ganz besonderen Ausnahmefällen" spricht. Hieraus ergibt sich die gesetzgeberische Grundentscheidung, Fahrtkosten in der ambulanten Behandlung grundsätzlich nicht mehr zu erstatten und nur in besonderen Ausnahmefällen etwas anderes gelten zu lassen, nicht aber schon breitflächig allgemein in Härtefällen (BSG, Urt. v. 13.12.2016 - B 1 KR 2/16 R). Entgegen der Auffassung der Klägerin kann § 8 Abs. 4 Krankentransport-RL daher zugleich nicht die Funktion eines allgemeinen Auffangtatbestandes zugunsten derjenigen Personen beigemessen werden, die aus medizinischen Gründen nicht in der Lage sind, sich zu Fuß oder mit Hilfe des ÖPNV selbständig zur ambulanten Krankenbehandlung zu begeben. Die Mobilitätseinschränkungen des Klägers bleiben nicht nur allenfalls unwesentlich hinter einer versorgungsbehördlich festgestellten außergewöhnlichen Gehbehinderung iSv. § 229 Abs. 3 SGB IX zurück. Die bloße Notwendigkeit der Verwendung eines Rollators begründet die nötige Vergleichbarkeit bei Weitem nicht, da der Kläger folglich weiterhin, wenn auch unter Zuhilfenahme des Rollators ausreichend mobil ist. Die bestehende Mobilität ergibt sich im Übrigen auch aus dem Pflegegutachten vom 14.05.2024, wonach für den Bereich Mobilität keine Punkte in Ansatz gebracht wurden.

Diese Voraussetzung ist zunächst erfüllt, wenn eine Person zwar - vor allem wegen fehlender Stellung eines entsprechenden Antrags - mangels förmlicher Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" nicht dem Tatbestand von § 60 Abs. 1 Satz 5 Nr. 1 SGB V unterfällt, materiell jedoch außergewöhnlich gehbehindert iSv. § 229 Abs. 3 SGB IX ist (dazu Heberlein, in: BeckOK, § 60 SGB V Rn. 20; vgl. auch SG Leipzig, Urt. v. 11.04.2017 - S 8 KR 385/16).

Weiterhin bleiben Mobilitätseinschränkungen lediglich unwesentlich hinter einer versorgungsbehördlich festgestellten außergewöhnlichen Gehbehinderung zurück, wenn bei einer Person eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung iSv. § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX vorliegt, die aber - wenngleich dies wohl selten ist (vgl. Masuch, in: Hauck/Noftz, § 229 SGB IX Rn. 138, 141) - noch keinen GdB von 80 bedingt (so im Ergebnis auch Thümmler, Das Krankenbeförderungsrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2018, S. 69 f.). Denn unter funktionellen Gesichtspunkten ist bei diesen Personen das selbständigen Gehen genauso erschwert wie bei behinderten Menschen, die die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" erfüllen (vgl. Masuch, in: Hauck/Noftz, § 229 SGB IX Rn. 138) (so auch SG Karlsruhe, Urteil vom 20. September 2021 - S 6 KR 3712/20 -, Rn. 37 - 42, juris).

Keiner dieser Gesichtspunkte ist vorliegend erkennbar erfüllt.

Die Klage war hiernach abzuweisen. Die Kostenfolge basiert auf § 193 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
Saved