L 13 AS 123/24

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Oldenburg (NSB)
Aktenzeichen
S 47 AS 194/21
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 13 AS 123/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine Addition zahlreicher kurzfristiger und durch längere Zeiten unterbrochener Beschäfitungsverhältnisse kommt im Rahmen von § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU nicht in Betracht, wenn sich bei Gesamtwürdigung der Umstände eine Integration in den Arbeitsmarkt nicht feststellen lässt (vgl. BSG, Urteil vom 13.07.2017 - B 4 AS 17/16 R).

Die Berufungen werden zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten sind in zwei vom Senat zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Berufungsverfahren Ansprüche der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeiträume vom 16. Juli bis 31. Dezember 2020 und vom 1. Januar bis 14. Februar 2021 streitig.

Die 1972 geborene Klägerin sowie ihr 1968 geborener und am 24. Juni 2023 verstorbener Ehemann J. B. (Kläger zu 2. der erstinstanzlichen Verfahren) reisten im Januar 2017 als bulgarische Staatsangehörige in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Klägerin übte seit April 2017 verschiedene Beschäftigungen aus, zuletzt vor Beginn des Streitzeitraums in der Zeit vom 11. November 2019 bis 15. Januar 2020. Bei Zusammenrechnung ihrer Beschäftigungszeiten ergibt sich ein Zeitraum von weniger als einem Jahr.

Der Ehemann der Klägerin war vor Beginn des Streitzeitraums – überwiegend im Reinigungsgewerbe – wie folgt beschäftigt:

24. April bis 5. Mai.2017                                K. Services GmbH & Co. KG

12. Juli bis 8. August 2017                            L. Personalmanagement GmbH

28. August 2017 bis 31. März 2018              M. GmbH Gebäudereinigung (Teilzeit)

13. Juni 2018                                                 N. GmbH Arbeitnehmerüberlassung

11. September 2018 bis 1. Februar 2019     O. Betriebsgesellschaft mbH (Teilzeit)

22. März bis 5. April 2019                              L. Personalmanagement GmbH

2. bis 15. Mai 2019                                        N. GmbH Arbeitnehmerüberlassung

28. Oktober bis 7. November 2019               N. GmbH Arbeitnehmerüberlassung

Das Arbeitsverhältnis bei der Fa. K. Services GmbH & Co. KG hatte der Ehemann – nach seinen Angaben aus gesundheitlichen Gründen – gekündigt. Die Ausstellung einer Bescheinigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit wurde von der Agentur für Arbeit Oldenburg abgelehnt. Das im Juli/August 2017 ausgeübte Arbeitsverhältnis bei der Fa. L. Personalmanagement GmbH wurde durch Kündigung seitens der Arbeitgeberin beendet. Maßgeblich waren nach Auskunft der Arbeitgeberin verhaltensbedingte Gründe, die Ausstellung einer Bescheinigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit wurde seitens der Agentur für Arbeit Oldenburg ebenfalls abgelehnt. Das Arbeitsverhältnis mit der Fa. M. GmbH wurde mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von zehn Stunden ausgeübt und endete mit Ablauf des Befristungszeitraums zum 31. März 2018. Nach der Einkommensbescheinigung der Fa. N. GmbH vom 14. September 2018 wurde für die Beschäftigung am 13. Juni 2018 kein Arbeitsentgelt gezahlt, wobei in dem Versicherungskonto des Ehemannes bei der Deutschen Rentenversicherung für diesen Tag eine Beitragszeit mit Pflichtbeiträgen bei einem Arbeitsentgelt von 78 € gespeichert ist. Das am 11. September 2018 begonnene und bis zum 10. September 2019 befristete Arbeitsverhältnis mit der O. Betriebsgesellschaft mbH wurde zum 1. Februar 2019 durch fristlose Kündigung der Arbeitgeberin wegen des Vorwurfs eines arbeitsvertragswidrigen Verhaltens beendet. Die Ausstellung einer Bescheinigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit lehnte die Agentur für Arbeit Oldenburg ab. Für die jeweils durch arbeitgeberseitige Kündigungen beendeten drei Beschäftigungsverhältnisse im Jahr 2019 bei den Firmen L. Personalmanagement GmbH und der N. GmbH bestätigte die Agentur für Arbeit Oldenburg jeweils die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit.

Die Eheleute standen seit Juni 2017 mit Unterbrechungen im Leistungsbezug nach dem SGB II. Sie bewohnten im Streitzeitraum eine Mietwohnung in Oldenburg, für die eine Grundmiete von 440 € bzw. (ab Januar 2021) 461,45 € nebst Betriebskostenvorauszahlung von 105 € zu zahlen war. Im Dezember 2020 war eine Nachforderung aus einer Betriebskostenabrechnung in Höhe von 73,10 € fällig. Für die Heizkosten war ein monatlicher Abschlag in Höhe von 79 € bzw. (ab Februar 2021) 89 € an den Energieversorger zu entrichten. Im Februar 2021 war eine Nachforderung aus einer Jahresabrechnung in Höhe von 259,52 € fällig.

Nachdem zuletzt Leistungen bis zum 14. Juli 2020 bewilligt worden waren, lehnte der Beklagte den Weiterbewilligungsantrag mit Bescheid vom 1. Juli 2020 ab. Zur Begründung gab er an, dass ein Leistungsanspruch nach dem SGB II nicht gegeben sei, da ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zweck der Arbeitsuche bestehe. Hiergegen legten die Eheleute Widerspruch ein, beantragten zugleich mit Schreiben vom 15. Juli 2020 bei der zwischenzeitlich beigeladenen Stadt Oldenburg die Gewährung von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) und suchten bei dem Sozialgericht (SG) Oldenburg um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach. Mit Beschluss vom 11. September 2020 (S 38 AS 161/20 ER) verpflichtete das SG den Beklagten, der Klägerin und ihrem Ehemann für die Zeit vom 17. Juli bis 31. Dezember 2020 vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von jeweils 323,23 € (Juli 2020) bzw. 690,50 € monatlich (August bis Dezember 2020) zu gewähren. Zur Begründung führte das SG aus, dass der Ehemann der Klägerin als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sei (unfreiwillige durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit) und die Eheleute daher nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien. Die von dem Ehemann überwiegend über Zeitarbeitsfirmen ausgeübten Reinigungstätigkeiten stünden in einem inneren Zusammenhang. Sie hätten auch nicht nur zufällig in ihrer Addition zu einer Tätigkeit von mehr als einem Jahr geführt. Bereits die Tätigkeiten bei den Firmen M. GmbH und O. Betriebsgesellschaft mbH ergäben zusammengenommen eine knapp einjährige Beschäftigungszeit. Die Abstände zwischen den einzelnen Beschäftigungen und deren teilweise kurze Dauer sei auf den Umstand zurückzuführen, dass der Ehemann der Klägerin über Leiharbeitsfirmen an Dritte entliehen worden und in besonderem Maße von der Auftragslage abhängig gewesen sei. Auf die hohe Fluktuation und die „Schnelllebigkeit der Branche“ habe er wenig Einfluss nehmen können. Der Beklagte setzte den Beschluss um und erteilte hierüber – ausdrücklich in Ausführung des SG-Beschlusses – einen Bescheid vom 15. September 2020. Im Hauptsacheverfahren folgte er der Rechtsauffassung des SG nicht und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 2020 zurück. Eine Addition der Beschäftigungszeiten des Ehemanns der Klägerin sei nicht zulässig, da von unschädlichen kurzen Unterbrechungen zwischen den Tätigkeiten nicht die Rede sein könne. Alle Unterbrechungen zwischen den einzelnen Beschäftigungen betrügen im Verhältnis zur Dauer der vorherigen Beschäftigung mehr als fünf Prozent. In einem solchen Fall werde der am Integrationsgedanken orientierten Zielsetzung des § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU nicht entsprochen. Längere Unterbrechungen zwischen den Beschäftigungen wären durchaus vermeidbar gewesen, da es in der Reinigungsbranche seit April 2017 durchgehend Arbeitsangebote gegeben habe, so dass Anschlusstätigkeiten schon nach wenigen Tagen hätten aufgenommen werden können.

Mit gleichlautender Begründung lehnte der Beklagte auch einen im Januar 2021 gestellten neuen Leistungsantrag ab (Bescheid vom 15. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2021). Nachdem die Klägerin zum 15. Februar 2021 erneut eine Beschäftigung aufgenommen hatte, bewilligte der Beklagte den Eheleuten ab diesem Zeitpunkt wieder Leistungen nach dem SGB II.

Die Stadt Oldenburg lehnte den bei ihr gestellten Leistungsantrag mit Bescheid vom 12. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2024 ab. Klage ist nicht erhoben worden.

Die Klägerin und ihr Ehemann haben am 5. November 2020 gegen den Ablehnungsbescheid vom 1. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2020 und am 11. März 2021 gegen den Ablehnungsbescheid vom 15. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2021 Klagen erhoben (Az. S 47 AS 1065/20 und S 47 AS 194/21). Sie haben vorgetragen, dass die Klägerin elf Monate und ihr Ehemann 14 Monate in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt gewesen seien. Der Ehemann leide an Diabetes und Bluthochdruck, welche aber nunmehr medikamentös eingestellt seien, so dass er in seiner Leistungsfähigkeit nicht mehr eingeschränkt sei. Die Eheleute bemühten sich intensiv um Arbeit, wobei sich die Arbeitsuche wegen der Corona-Pandemie schwierig gestalte. Eine kurzfristige Rückkehr nach Bulgarien sei für sie nicht zu bewältigen, da sie dort keine Wohnung mehr hätten und auch staatliche Unterstützungsleistungen nicht erwarten könnten. Auch seien in Bulgarien die Infektionszahlen stark angestiegen und der Ehemann gehöre wegen seines Alters und seiner Vorerkrankungen zur Hochrisikogruppe. Die für den Leistungsanspruch nach dem SGB II erforderliche einjährige Beschäftigungszeit sei jedenfalls in der Person des Ehemannes erfüllt. Dem Verlust des Arbeitsplatzes bei der O. Betriebsgesellschaft mbH zum 1. Februar 2019 lägen unberechtigte Anschuldigungen seitens der Arbeitgeberin zugrunde. Die ihm vorgeworfenen Unterschlagungen habe er nicht begangen. Das insoweit eingeleitete Strafverfahren sei eingestellt worden und der einbehaltene Lohn sei aufgrund eines arbeitsgerichtlichen Vergleichs nachgezahlt worden.

Nach Beiladung der Stadt Oldenburg als Sozialhilfeträgerin hat das SG die Klagen mit Urteilen vom 16. April 2024 abgewiesen und zur Begründung jeweils ausgeführt, dass die Klage des verstorbenen Ehemannes bereits deswegen unbegründet sei, weil Leistungsansprüche nach dem SGB II nicht vererblich seien. Die Klägerin unterliege als arbeitsuchende EU-Bürgerin dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Ein anderes Aufenthaltsrecht als dasjenige zum Zweck der Arbeitsuche sei nicht nachgewiesen. Da die Klägerin insgesamt weniger als ein Jahr Arbeitnehmerin gewesen sei, führe die bis zum 15. Januar 2020 ausgeübte Beschäftigungszeit gemäß § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU zu einer Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft nur bis zum 14. Juli 2020. Bis zu diesem Zeitpunkt habe der Beklagte Leistungen bewilligt. Auch bei dem Ehemann der Klägerin fehle es an einer Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft im Streitzeitraum. Selbst bei Annahme einer Tätigkeit von mehr als einem Jahr sei die nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU zusätzlich erforderliche Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit infolge der Beendigung der Tätigkeit bei der O. Betriebsgesellschaft mbH zum 1. Februar 2019 nicht gegeben. Die hier nicht vorliegende Bestätigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts im Sinne einer konstitutiven Bedingung. Eine materiell-rechtliche Überprüfung der Richtigkeit der Entscheidung der Agentur für Arbeit finde nicht statt. Auf die Frage der Addition mehrerer Beschäftigungsverhältnisse komme es nicht an, da ohne Berücksichtigung der Beschäftigungszeit bei der O. Betriebsgesellschaft mbH eine einjährige Tätigkeit nicht erreicht sei. Damit komme aufgrund der zuletzt bis zum 7. November 2019 ausgeübten Tätigkeit eine Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft nur für sechs Monate, mithin bis zum 6. Mai 2020, in Betracht. Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU hätten die Eheleute noch nicht erworben und die Voraussetzungen der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II (gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet von mindestens fünf Jahren) lägen ebenfalls nicht vor. Auch Leistungsansprüche gegen die Beigeladene bestünden nicht. Die Eheleute unterlägen dem Leistungsausschluss für arbeitsuchende EU-Bürger nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII und ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII scheitere am fehlenden Ausreisewillen.

Gegen die ihr am 29. April 2024 zugestellten Urteile hat die Klägerin am 29. Mai 2024 Berufungen eingelegt, mit denen sie ausschließlich ihre eigenen Leistungsansprüche, nicht aber (als Rechtsnachfolgerin) diejenigen ihres verstorbenen Ehemannes weiterverfolgt. Zur Begründung ihrer Berufungen macht sie geltend, dass die Rechtsauffassung des SG, die Tätigkeit bei der O. Betriebsgesellschaft mbH sei nicht zu berücksichtigen, weil ihr Ehemann diese nicht unverschuldet verloren habe, im Gesetz keine Stütze finde. Der Ehemann habe im Anschluss an diese Tätigkeit drei weitere Beschäftigungen ausgeübt, so dass ihm der selbst verschuldete Verlust der früheren Tätigkeit, die ohnehin bis zum 10. September 2019 befristet gewesen sei, nicht mehr entgegengehalten werden könne.

Mit einem von der Klägerin angenommenen Teilanerkenntnis vom 10. Januar 2025 hat der Beklagte sich bereit erklärt, der Klägerin SGB II-Leistungen für den 15. Juli 2020 zu gewähren.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des SG Oldenburg vom 16. April 2024 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 1. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2020 und des Teilanerkenntnisses vom 10. Januar 2025 und seines Bescheides vom 15. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2021 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 16. Juli 2020 bis zum 14. Februar 2021 zu gewähren,

Der Beklagte beantragt,

die Berufungen zurückzuweisen.

Er hält an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest.

Mit Beschluss des Berichterstatters vom 20. Januar 2025 hat der Senat die Beiladung der Stadt Oldenburg aufgehoben.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässigen, insbesondere fristgerecht eingelegten Berufungen sind nicht begründet.

Gegenstand der Berufungsverfahren sind neben den Urteilen des SG vom 16. April 2024 die Bescheide des Beklagten vom 1. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2020 und des Teilanerkenntnisses vom 10. Januar 2025 und vom 15. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2021, soweit mit ihnen eigene Leistungsansprüche der Klägerin abgelehnt worden sind. Nicht Gegenstand der Berufungsverfahren sind demgegenüber – nach erfolgter Klarstellung in der mündlichen Verhandlung – Leistungsansprüche des verstorbenen Ehemannes der Klägerin. In zeitlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand nach dem für den 15. Juli 2020 erklärten Teilanerkenntnis des Beklagten begrenzt auf den Zeitraum vom 16. Juli 2020 bis zum 14. Februar 2021.

Nicht nach § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Widerspruchs- und damit auch nicht des Klageverfahrens geworden ist hingegen der Bescheid vom 15. September 2020, mit dem der Beklagte die Entscheidung des SG im vorläufigen Rechtsschutz umgesetzt hat (sog. Ausführungsbescheid, vgl. BSG, Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 79/20 R – juris Rn. 10 m. w. N.).

Ihren Leistungsanspruch verfolgt die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4, § 56 SGG), die auch insoweit statthaft ist, als die Klägerin die begehrten Leistungen von dem Beklagten aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG Oldenburg teilweise bereits erhalten hat (vgl. BSG, Urteil vom 20. September 2023 – B 4 AS 8/22 R – juris Rn. 19).

Der Beklagte hat mit den angefochtenen Bescheiden Leistungsansprüche der Klägerin (in Höhe der Regelbedarfe und der Bedarfe für Unterkunft und Heizung – Mehrbedarfe sind weder ersichtlich noch geltend gemacht) für den Zeitraum vom 16. Juli 2020 bis 14. Februar 2021 zu Recht verneint.

Die Klägerin erfüllte im Streitzeitraum zwar die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II. Sie hatte das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht, war hilfebedürftig und erwerbsfähig. Sie war aber nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 b) SGB II (in der hier anzuwendenden ab dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung des Gesetzes vom 22. Dezember 2016, BGBl. I 3155) von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Hiernach sind "ausgenommen" - erhalten also keine Leistungen nach dem SGB II – Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Die Voraussetzungen der Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 b) SGB II lagen bei der Klägerin vor, denn sie hatte allenfalls ein Aufenthaltsrecht, das sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab. Ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches zum Zweck der Arbeitsuche, das den Leistungsausschluss entfallen lässt, lag nicht vor. Die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II (gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet seit mindestens fünf Jahren) trifft auf die erst im Januar 2017 eingereiste Klägerin nicht zu.

Die Klägerin verfügte im Streitzeitraum über kein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, da sie keiner Erwerbstätigkeit nachging. Sie hatte selbst bei Zusammenrechnung aller vorangegangenen Beschäftigungen auch keine Tätigkeit von mehr als einem Jahr ausgeübt, sodass ihre Arbeitnehmereigenschaft nicht nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU aufrechterhalten blieb. Die zuletzt bis zum 15. Januar 2020 ausgeübte Beschäftigung bewirkte einen Fortbestand der Arbeitnehmereigenschaft gemäß § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU nur für die Dauer von sechs Monaten, mithin gemäß § 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i. V. m. § 187 Abs. 1 und § 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bis zum 15. Juli 2020. Die Klägerin hatte auch – wie das SG zutreffend ausgeführt hat – noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 i. V. m. § 4a Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU erworben. Auch andere Aufenthaltsrechte sind nicht ersichtlich, insbesondere war die Klägerin – wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt – nicht als Familienangehörige eines Arbeitnehmers nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. § 3 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt.

Für den Ehemann der Klägerin, welcher im Streitzeitraum ebenfalls nicht erwerbstätig war, schon länger als sechs Monate ohne Beschäftigung war und auch noch nicht mindestens fünf Jahre seinen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte, kam allenfalls ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU in Betracht. Danach bleibt das Recht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, also auf Einreise und Aufenthalt, bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt.

Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU setzt diese Norm keine ununterbrochene Tätigkeit von mehr als einem Jahr voraus, sondern auch durch Arbeitslosigkeit unterbrochene Tätigkeiten können das gesetzliche Erfordernis erfüllen (vgl. hierzu ausführlich: BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R – juris 22 ff. m. w. N. zum Streitstand). Das BSG hatte dabei – wie es mit Urteil vom 29. März 2022 (B 4 AS 2/21 R – juris Rn. 28) klargestellt hat – kürzere Unterbrechungen der Tätigkeit im Blick (vgl. Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R – juris Rn. 29); konkret ging es in jenem Verfahren um eine nur einmalige, kurzfristige Unterbrechung von 15 Tagen im Verlauf einer insgesamt 14,5 Monate andauernden (eventuellen) Beschäftigung in zwei Tätigkeiten (BSG a. a. O. Rn. 31). Das BSG hat ausdrücklich offengelassen, ob der am Integrationsgedanken orientierten Zielsetzung des Gesetzes in § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU auch dann noch entsprochen wäre, wenn in Addition zahlreicher kurzfristiger oder durch längere Zeiten unterbrochener Beschäftigungsverhältnisse es nur auf längere Sicht und eher zufällig zu einer Tätigkeit von "mehr als einem Jahr" käme (BSG a. a. O. Rn. 31). Es hat aber zwischenzeitlich entschieden, dass jedenfalls eine Unterbrechung der Beschäftigungszeit von mehr als sechs Monaten eine so erhebliche Zäsur darstellt, dass sie einer Addition der vor und nach der Unterbrechung liegenden Beschäftigungszeiten entgegensteht (Urteil vom 29. März 2022 – B 4 AS 2/21 R – juris Rn. 29). In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung sind als schädlich Unterbrechungen von vier Monaten (Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. August 2017 – L 5 AS 1357/17 B ER, L 5 AS 1358/17 B ER PKH – juris Rn. 8) und als unschädlich solche von (zweimal) eineinhalb Monaten (Sächsisches LSG, Beschluss vom 12. Juli 2021 – L 7 AS 651/21 B ER – juris Rn. 35), zwei Monaten (SG Bremen, Urteil vom 11. März 2020 – S 26 AS 2522/16 – juris Rn. 34) oder rund drei Monaten (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. Juli 2020 – L 2 AS 202/20 B ER – juris Rn. 32 sowie LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17. Dezember 2019 – L 25 AS 1831/18 – juris Rn. 32) angesehen worden.

Davon ausgehend folgt der Senat der Rechtsauffassung des Beklagten, wonach eine Addition der Beschäftigungsverhältnisse des Ehemannes der Klägerin nicht in Betracht kommt. Eine Beschäftigungszeit von einem Jahr wird nur bei Zusammenrechnung von insgesamt fünf Beschäftigungen innerhalb eines zeitlichen Rahmens von Ende April 2017 (erstmalige Aufnahme einer Beschäftigung) bis Anfang Januar 2019, mithin erst nach mehr als einem Jahr und acht Monaten, erreicht. Drei der fünf Beschäftigungen waren von sehr kurzer Dauer (zwölf Tage im April/Mai 2017 bei der K. Services GmbH & Co. KG und 28 Tage im Juli/August 2017 bei der L. Personalmanagement GmbH) bzw. sind in zeitlicher Hinsicht völlig zu vernachlässigen (Tagesbeschäftigung am 13. Juni 2018 bei der N. GmbH). Zwischen den fünf Beschäftigungen sind zeitliche Lücken von insgesamt weit mehr als sechs Monaten (mehr als zwei Monate zwischen den Beschäftigungen bei den Firmen K. Services GmbH & Co. KG und L. Personalmanagement GmbH und – unter Außerachtlassung des Beschäftigungstags bei der Fa. N. GmbH – mehr als fünf Monate zwischen den Beschäftigungen bei den Firmen P. GmbH und O. Betriebsgesellschaft mbH). Auch wenn eine durchgehende Unterbrechung der Beschäftigungszeit von mehr als sechs Monaten – wenn auch nur knapp – vermieden worden ist, kann angesichts der aufsummierten Zeiten der Beschäftigungslosigkeit von einer nur kürzeren Unterbrechung der Tätigkeit, die das BSG als unschädlich angesehen hat, nicht die Rede sein. Eine Integration des Ehemannes der Klägerin in den Arbeitsmarkt kann nicht festgestellt werden, vielmehr war dieser zwischen den Beschäftigungen teilweise mehrere Monate arbeitslos und hatte auf dem Arbeitsmarkt gerade noch keinen Fuß gefasst. Anders als das SG in dem Eilbeschluss vom 11. September 2020 gemeint hat, ist auf die tatsächliche Integration in den Arbeitsmarkt abzustellen, ohne dass die Gründe für eine fehlgeschlagene Integration maßgeblich wären. Es handelt sich vorliegend um den vom BSG in seinem Urteil vom 13. Juli 2017 (B 4 AS 17/16 R) beschriebenen Fall zahlreicher und durch längere Zeiten unterbrochener Beschäftigungsverhältnisse, bei dem es nur auf längere Sicht und eher zufällig zu einer Tätigkeit von mehr als einem Jahr gekommen ist. In einer solchen Fallkonstellation ist nach Auffassung des Senats mit Blick auf die am Integrationsgedanken orientierte Zielsetzung des Gesetzes in § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU eine Addition der Beschäftigungsverhältnisse ausgeschlossen mit der Folge, dass bei Aufnahme der Tätigkeit bei der O. Betriebsgesellschaft mbH am 11. September 2018 nach mehrmonatiger Beschäftigungslosigkeit die Jahresfrist erneut zu laufen begonnen hatte und nachfolgend eine Beschäftigungszeit von mehr als einem Jahr nicht absolviert wurde.

Nachdem es aus den vorstehenden Gründen an dem Tatbestandsmerkmal einer Tätigkeit von mehr als einem Jahr fehlt, kann der Senat offenlassen, ob die Aufrechterhaltung der Arbeitnehmereigenschaft nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU – wie das SG gemeint hat – auch an der weiteren Voraussetzung einer unfreiwilligen durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigten Arbeitslosigkeit scheitert. Allerdings bestehen gegen diese Rechtsauffassung durchgreifende rechtliche Bedenken, denn der Ehemann der Klägerin hatte nach der Beschäftigung bei der O. Betriebsgesellschaft mbH, hinsichtlich derer die Agentur für Arbeit eine Unfreiwilligkeit nicht bestätigt hatte, drei weitere Tätigkeiten ausgeübt und u. a. auch für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit lag die erforderliche Bestätigung der Agentur für Arbeit vor. Nach dem Gesetzeswortlaut ist eine unfreiwillige durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit „nach mehr als einem Jahr Tätigkeit“ – dieser also zeitlich nachfolgend – erforderlich (und ausreichend), sodass für die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit – und nicht auf frühere Tätigkeiten, mit denen die einjährige Beschäftigungszeit erreicht wurde – abzustellen sein dürfte. Für dieses Ergebnis spricht auch der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz, wonach Vorschriften über die Freizügigkeit der Unionsbürger weit und Ausnahmen hiervon eng auszulegen sind (vgl. BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R – juris Rn. 26 m. w. N.).

Der Leistungsausschluss für arbeitsuchende EU-Bürger bzw. solche ohne Aufenthaltsrecht ist mit dem Grundgesetz vereinbar, insbesondere darf der Gesetzgeber EU-Bürger darauf verweisen, die erforderlichen Existenzsicherungsleistungen durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat als Ausprägung eigenverantwortlicher Selbsthilfe zu realisieren (vgl. hierzu ausführlich: BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 4 AS 2/21 R – juris Rn. 34 ff.). Dass eine Rückreise nach Bulgarien im Sommer 2020 nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen sein sollte, ist nicht erkennbar. Insbesondere war der Ehemann der Klägerin nach eigenem Vortrag nach medikamentöser Einstellung seines Bluthochdrucks und seines Diabetes in seiner Leistungsfähigkeit nicht mehr eingeschränkt und die Zugehörigkeit zu einer Hochrisikogruppe wegen dieser Erkrankungen oder wegen seines Alters (52 Jahre) ist nicht plausibel. Schließlich ist der Leistungsausschluss auch europarechtskonform (vgl. BSG a. a. O. Rn. 45 m. w. N.).

Ansprüche der Klägerin für den Streitzeitraum auf Sozialhilfe – in Betracht kommen mit Blick auf den auch im Sozialhilferecht (§ 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII) normierten Leistungsausschluss allein Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII für längstens einen Monat – scheiden aus, weil die ursprünglich beigeladene Stadt Oldenburg die Leistungsgewährung mit Bescheid vom 12. August 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2024 bestandskräftig abgelehnt hat. Damit ist die Leistungsablehnung bindend geworden (§ 77 SGG) mit der Folge, dass eine Verurteilung im Rahmen des § 75 Abs. 5 SGG nicht mehr möglich gewesen ist (BSG, Beschluss vom 18. Mai 2022 – B 7/14 AS 399/21 B – juris Rn. 6 m. w. N.; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 75 Rn. 18b m. w. N.). Die Beiladung war dementsprechend aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der geringfügige Erfolg der Klägerin (Leistungsanspruch für einen weiteren Tag) rechtfertigt eine anteilige Kostenbelastung des Beklagten nicht.

Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu.

 

Rechtskraft
Aus
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