B 4 AS 12/23 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 40 AS 1386/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 245/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 12/23 R
Datum
Kategorie
Urteil

 

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2023 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern ihre außergerichtlichen Kosten auch für das Revisionsverfahren zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.

 

G r ü n d e :

I

1
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab dem 20.4.2020.

2
Die 1979 geborene Klägerin ist die Mutter des 2018 geborenen Klägers. Beide sind Staatsangehörige der Republik Polen. Die Klägerin war in Deutschland jedenfalls vom 20.4.2015 bis 6.9.2016, sodann ab 7.7.2017 durchgehend behördlich gemeldet. Sie war bis Mitte 2017 als Prostituierte tätig.

3
Der Beklagte lehnte die ab dem 1.2.2020 beantragte Leistungsgewährung ab (Bescheid vom 11.3.2020; Widerspruchsbescheid vom 8.4.2020). Die Klägerin habe ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche, weswegen die Kläger von Leistungen ausgeschlossen seien.

4
Aufgrund einer im von den Klägern angestrengten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes getroffenen Vereinbarung hat der Beklagte den Klägern Arbeitslosengeld II und Sozialgeld jeweils in Höhe des Regelbedarfs vorläufig vom 4.6. bis 30.11.2020 bewilligt und den Bescheid vom 11.3.2020 ausdrücklich insoweit abgeändert (Bescheide vom 22.7.2020).

5
Einen Antrag auf Weitergewährung der Leistungen ab 1.12.2020 hat der Beklagte abgelehnt (Bescheid vom 4.12.2020).

6
Das SG hat den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 11.3.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.4.2020 "verpflichtet", den Klägern "ab dem 20.4.2020 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen" zu gewähren und die Klage(n) im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 21.12.2020).

7
Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 14.6.2023). Streitbefangen sei der Zeitraum vom 20.4. bis 30.11.2020. In zeitlicher Hinsicht sei der Anspruch der Kläger durch den Weiterbewilligungsantrag und die diesbezügliche Ablehnung begrenzt. Grundsätzlich seien die Kläger von den Leistungen ausgeschlossen gewesen. Die Klägerin habe weder ein Daueraufenthaltsrecht noch ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht im Anschluss an ihre Tätigkeit als Prostituierte. Die Klägerin könne sich jedoch auf die Rückausnahme eines fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalts berufen. Insoweit sei der Senat auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme überzeugt, dass die Klägerin ab der Melderegisteranmeldung zum 20.4.2015, insbesondere auch in der Meldelücke vom 7.9.2016 bis 6.7.2017, ihren dauerhaften Aufenthalt in Deutschland habe begründen wollen.

8
Der Beklagte rügt mit seiner vom LSG zugelassenen Revision eine Verletzung von § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I, § 7 Abs 1 Satz 4 SGB II, § 2 Abs 2 Nr 3 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) sowie der §§ 103, 109, 128 SGG. Er ist der Ansicht, dass die Klägerin im Bundesgebiet eine selbständige Tätigkeit ohne Begründung einer Niederlassung ausgeübt und (nur) ihr Recht zur aktiven Dienstleistungsfreiheit genutzt und deswegen ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland gehabt habe. Außerdem widersprächen die Feststellungen des LSG den allgemeinen Erfahrungssätzen.

9
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2023 und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21. Dezember 2020 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

10
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

11
Sie verteidigen die Entscheidung.

12
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.


II

13
A. Die zulässige Revision des Beklagten ist nicht begründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Zurückweisung der Berufung gegen die durch das SG ausgesprochene Verurteilung des Beklagten ist rechtmäßig. Die Kläger haben einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 20.4. bis 30.11.2020.

14
I. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die vorinstanzlichen Entscheidungen, soweit der allein Revision führende Beklagte zur Leistung verurteilt worden ist, sowie der Bescheid vom 11.3.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.4.2020 (§ 95 SGG) und in der Fassung der Bescheide vom 22.7.2020. Diese beiden Bescheide vom 22.7.2020 sind gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Ihnen kommt Verwaltungsaktcharakter (§ 31 Satz 1 SGB X) zu; sie dienen nicht lediglich der Umsetzung der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes getroffenen Vereinbarung der Beteiligten (vgl zur fehlenden Regelungswirkung von Bescheiden zur Umsetzung einer einstweiligen Anordnung zuletzt BSG vom 14.12.2023 - B 4 AS 4/23 R - SozR 44200 § 67 Nr 1 RdNr 13 mwN - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen), sondern regeln die Ansprüche der Kläger konstitutiv. Dies ergibt sich bei einer Auslegung des Bescheids anhand des objektiven Empfängerhorizonts schon aus der ausdrücklichen Formulierung, dass der Ablehnungsbescheid vom 11.3.2020 durch sie abgeändert werden soll.

15
Streitbefangen ist der Zeitraum vom 20.4. bis zum 30.11.2020, nachdem die Kläger gegen die Klageabweisung im Übrigen - bzgl der Zeit vom 1.2. bis 19.4.2020 - keine Berufung eingelegt hatten. Zudem enthält das Urteil des SG zwar keine zeitliche Befristung der Verurteilung des Beklagten. Durch die Formulierung als Grundurteil "nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen" ist jedoch eine Auslegung (vgl zur Urteilsauslegung BSG vom 8.2.2007 - B 9b SO 5/05 R - juris RdNr 14; BSG vom 13.7.2017 - B 4 AS 17/16 R - SozR 44200 § 7 Nr 54 RdNr 11) dahingehend, dass eine unbefristete Verurteilung erfolgen sollte, ausgeschlossen; Leistungen nach dem SGB II können schon wegen § 41 Abs 3 SGB II rechtmäßig stets nur befristet bewilligt werden. Durch den auf den 1.12.2020 zurückwirkenden weiteren Leistungsantrag der Kläger vom 3.12.2020, über den der Beklagte mit Bescheid vom 4.12.2020 entschieden hat, ist zudem eine Zäsur mit Ablauf des 30.11.2020 eingetreten (vgl hierzu zuletzt BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 4/22 R - BSGE 136, 103 = SozR 44200 § 37 Nr 11, RdNr 37 mwN; zustimmend Schifferdecker, NZS 2024, 260 [261]; kritisch hingegen Šušnjar, jurisPR-SozR 3/2024, Anm 1).

16
In sachlicher Hinsicht ist Gegenstand des Verfahrens Arbeitslosengeld II und Sozialgeld ohne Einschränkung auf bestimmte Anspruchsgrundlagen. Zwar hat der Beklagte für einen Teil des streitbefangenen Zeitraums (4.6. bis 30.11.2020) bereits Arbeitslosengeld II und Sozialgeld jeweils in Höhe des Regelbedarfs bewilligt. Diese zunächst vorläufig bewilligten Leistungen in den Bescheiden vom 22.7.2020 gelten nach Ablauf eines Jahres nach dem Ende des Bewilligungszeitraums seit 1.12.2021 als abschließend festgesetzt (§ 41a Abs 5 Satz 1 SGB II). Da nach der Rechtsprechung des BSG der Regelbedarf einerseits und die Mehrbedarfe nach § 21 SGB II andererseits keine abtrennbaren Streitgegenstände sein können (zuletzt BSG vom 6.6.2023 - B 4 AS 5/22 R - SozR 44200 § 26 Nr 5 RdNr 13 mwN), im vorliegenden Fall aber zumindest ein Mehrbedarf für Alleinerziehende (§ 21 Abs 3 SGB II) in Betracht kommt, besteht keine Grundlage für eine Auslegung des Klagebegehrens als auf den abtrennbaren Bedarf für Unterkunft und Heizung (zuletzt BSG vom 28.2.2024 - B 4 AS 22/22 R - juris RdNr 11 - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) beschränkt. Aus den gleichen Gründen fehlt es der Klage auch hinsichtlich der Zeit vom 4.6. bis 30.11.2020 nicht teilweise am Rechtsschutzbedürfnis.

17
II. Die Kläger haben jeweils dem Grunde nach einen Anspruch auf die streitgegenständlichen Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 20.4. bis 30.11.2020.

18
1. Dies gilt zunächst für die Klägerin. Sie erfüllte nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) dem Grunde nach die Anspruchsvoraussetzungen auf Arbeitslosengeld II nach § 19 Abs 1 Satz 1, § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II. Sie hatte im streitbefangenen Zeitraum das 15. Lebensjahr erfüllt und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II), war erwerbsfähig (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB II) sowie hilfebedürftig (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II) und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II).

19
Die Klägerin, die Staatsangehörige der Republik Polen ist, war auch nicht gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst a und b SGB II (§ 7 Abs 1 in der hier anzuwendenden, vom 29.12.2016 bis 31.12.2020 geltenden Fassung des Gesetzes vom 22.12.2016, BGBl I 3155) von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst a und b SGB II sind "ausgenommen" - erhalten also keine Leistungen nach dem SGB II - Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (zur Vereinbarkeit dieses Leistungsausschlusses mit Verfassungs- und EU-Recht ausführlich BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - BSGE 134, 45 = SozR 41100 Art 1 Nr 20, RdNr 34 ff). Dabei kann dahinstehen, ob in der Person der Klägerin die Voraussetzungen für einen solchen Leistungsausschluss vorlagen. Jedenfalls greift die Rückausnahme nach § 7 Abs 1 Satz 4 SGB II zu ihren Gunsten ein.

20
a) Nach § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben.

21
Der Gesetzgeber ist mit dieser Leistungsberechtigung zugunsten der Betroffenen hinter den für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 2 Abs 2 Nr 7 iVm § 4a Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU (vgl Art 16 Abs 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 [Freizügigkeitsrichtlinie]) notwendigen Voraussetzungen zurückgeblieben (vgl Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 7 RdNr 163). Für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts ist ein Aufenthalt, der sich allein auf die generelle Freizügigkeitsvermutung stützt, nicht ausreichend (BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - juris RdNr 26 mwN; BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 25 - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Erforderlich ist vielmehr, dass sich der Unionsbürger ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und der Aufenthalt im Einklang mit den Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2004/38/EG stand (EuGH vom 6.9.2012 - C147/11 ua - juris RdNr 40; BVerwG vom 16.7.2015 - 1 C 22/14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr 4 - juris RdNr 16 f mwN zur EuGH-Rechtsprechung; BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 25 - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).

22
§ 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II setzt demgegenüber nur einen ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt von fünf Jahren ab erstmaliger behördlicher Anmeldung im Bundesgebiet voraus. Lediglich unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthalts - zum Beispiel ein kurzer Heimatbesuch - sind unschädlich; ansonsten beginnt die Frist wieder neu zu laufen (BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - BSGE 134, 45 = SozR 41100 Art 1 Nr 20, RdNr 26 unter Hinweis auf die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, BT-Drucks 18/10211, S 14; ebenso BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 26 - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Beachtlich sind dabei nur Zeiten eines gewöhnlichen Aufenthalts, die nach einer Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde liegen (dazu näher BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 27 - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).

23
Einen gewöhnlichen Aufenthalt hat gemäß § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I, der gemäß § 37 Satz 1 SGB I auch im SGB II anwendbar ist (zuletzt BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 28 mwN - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen), jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Erforderlich ist damit eine vorausschauende Betrachtung, also eine Prognose (BSG vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - juris RdNr 15; BSG vom 8.3.2023 - B 7 AS 7/22 R - BSGE 136, 1 = SozR 44200 § 36a Nr 3, RdNr 17 ; ausführlich zum Wesen einer Prognoseentscheidung BSG vom 27.3.2020 - B 10 EG 7/18 R - BSGE 130, 103 = SozR 47837 § 1 Nr 9, RdNr 28 ff), die sich im Laufe der Zeit auch verändern kann (vgl BSG vom 27.3.2020 - B 10 EG 7/18 R - BSGE 130, 103 = SozR 47837 § 1 Nr 9, RdNr 28). Die Prognose hat unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände zu erfolgen (BSG vom 17.12.2014 - B 8 SO 19/13 R - juris RdNr 15 mwN). Dies gilt auch dann, wenn - wie hier - der gewöhnliche Aufenthalt rückblickend zu ermitteln ist (zuletzt BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 28 mwN - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Davon, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt bestand, müssen sich die Gerichte die volle Überzeugung verschaffen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG; vgl zu den Anforderungen Giesbert in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 128 RdNr 26 ff mwN; Hübschmann in BeckOGK, § 128 SGG RdNr 20 ff mwN, Stand 1.8.2024; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 128 RdNr 3b mwN); derjenige, der Leistungen begehrt, trägt insofern die objektive Beweislast (zuletzt BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 28 mwN - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).

24
Feststellungen zu den tatsächlichen Umständen des Aufenthalts einer Person sind als tatrichterliche Feststellungen für den Senat bindend (§ 163 SGG). Die darauf aufbauende rechtliche Beurteilung, dass diese Person auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe, unterliegt hingegen der Beurteilung des Revisionsgerichts (BSG vom 31.10.2012 - B 13 R 1/12 R - BSGE 112, 116 = SozR 41200 § 30 Nr 6, RdNr 27 f; zuletzt BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 29 mwN - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Die Prognose ist rechtsfehlerhaft, wenn das Gericht die der Prognose zugrunde zu legenden Tatsachen nicht richtig festgestellt oder nicht alle wesentlichen in Betracht kommenden Umstände hinreichend gewürdigt hat bzw wenn die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (BSG vom 31.10.2012 - B 13 R 1/12 R - BSGE 112, 116 = SozR 41200 § 30 Nr 6, RdNr 28).

25
Das LSG hat aufgrund der von ihm festgestellten tatsächlichen Umstände die Prognose getroffen, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum - seit der Anmeldung am 20.4.2015 - ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, ohne dass dies auf revisionsrechtliche Bedenken stößt. Das LSG hat eine nachträgliche Prognose über die Zukunft ab 20.4.2015 getroffen. Es hat festgestellt, dass die Klägerin sich in Deutschland und nicht in Polen seit 20.4.2015 hauptsächlich aufgehalten hat und auch hier ihren Lebensmittelpunkt zukunftsoffen haben wollte. Es hat den tatsächlichen Aufenthalt, auch in der Meldelücke, durch festgestellte tatsächliche Umstände wie "Kundenkontakte", persönlich übergebene Behördenschreiben, eine Zahlungsaufforderung wegen Beförderungserschleichung und Quittungen über Mietzahlungen begründet. Das LSG hat damit für die Prüfung der Zukunftsoffenheit des Aufenthalts zutreffend den Bleibewillen der Klägerin als Kriterium herangezogen und diesen durch weitere Umstände objektiviert.

26
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist dabei nicht ausschlaggebend, ob die Klägerin sich auf die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit (Art 49 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]) oder die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) berufen konnte. Ein gewöhnlicher Aufenthalt setzt nicht zwingend ein materielles Aufenthaltsrecht voraus, so dass kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen bestimmten Aufenthaltsrechten und dabei in Anspruch genommenen Grundfreiheiten und der Beurteilung, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, besteht. Zwar mögen tatsächliche Umstände, die auch für die Frage des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts oder der einschlägigen Grundfreiheit von Bedeutung sind, ebenso für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts relevant sein. Dies betrifft aber tatsächliche Umstände, deren Feststellung auch bei der nach § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I zu treffenden Prognose vom Tatsachengericht vorzunehmen ist. Insofern ist der Senat an die Feststellungen des LSG gebunden; eine zulässige und begründete Verfahrensrüge hat der Beklagte nicht erhoben (dazu noch unten). Zwar kann die rechtliche Position des Betroffenen für die Beurteilung, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, von Bedeutung sein, wenn sie ein länger dauerndes Verweilen ausschließt. So liegt der Fall hier aber nicht.

27
Der Anwendung des § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II steht nicht entgegen, dass die Klägerin seit dem Zeitpunkt ihrer für den Beginn der Fünfjahresfrist maßgeblichen Anmeldung am 20.4.2015 nicht durchweg im Inland gemeldet war. Der Senat hat inzwischen entschieden, dass eine ununterbrochene Meldung nicht erforderlich ist, wenn seit der ersten Anmeldung stets ein gewöhnlicher Aufenthalt gegeben war (BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 32 - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).

28
Der Anwendung des § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II steht im vorliegenden Fall auch § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II nicht entgegen. Danach gilt Halbsatz 1 nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Diese Einschränkung des § 7 Abs 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II greift dann ein, wenn die zuständige Ausländerbehörde diese Verlustfeststellung durch Verwaltungsakt gegenüber dem Ausländer getroffen hat (BSG vom 20.9.2023 - B 4 AS 8/22 R - SozR 44200 § 7 Nr 68 RdNr 33 - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Ob hierfür die Wirksamkeit der Verlustfeststellung ausreichend ist, bedarf keiner Entscheidung, denn eine solche Verlustfeststellung ist gegenüber der Klägerin nicht erfolgt.

29
Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 6 SGB II, wonach Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet werden, bestehen ebenfalls keine Anhaltspunkte.

30
b) Zulässige Verfahrensrügen hat der Beklagte, der sich gegen die Beweiswürdigung des LSG wendet, nicht erhoben.

31
Eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge setzt die Bezeichnung der Tatsachen voraus, die den behaupteten Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Erforderlich hierfür ist eine genaue und widerspruchsfreie Darlegung aller relevanten Verfahrensvorgänge, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen kann, das LSG also ohne den gerügten Verfahrensmangel möglicherweise anders entschieden hätte (etwa - auch zum Folgenden - BSG vom 28.2.2024 - B 4 AS 18/22 R - juris RdNr 46 mwN - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die maßgeblichen Vorgänge sind so exakt mitzuteilen, dass das Revisionsgericht sie, die Richtigkeit des Vorbringens unterstellt, ohne weitere Ermittlungen beurteilen kann.

32
Wird eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG, wonach das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet, gerügt, muss konkret dargelegt werden, dass das LSG gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen oder das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt hat (vgl BSG vom 11.7.2019 - B 14 AS 51/18 R - SozR 44200 § 37 Nr 9 RdNr 37; BSG vom 27.4.2021 - B 12 R 16/19 R - SozR 42400 § 7 Nr 58 RdNr 27).

33
Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen des Beklagten nicht. Der Beklagte rügt lediglich das Ergebnis der Beweiswürdigung. Es ist nicht ausreichend, dass er lediglich seine Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt.

34
2. Der Anspruch des Klägers auf Sozialgeld folgt aus § 19 Abs 1 Satz 2, § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II (jeweils idF der Bekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850).

35
a) Das SGB II unterscheidet zwischen zwei Gruppen leistungsberechtigter Personen. In erster Linie betrifft das SGB II die Gruppe der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (vgl zur "Erwerbszentriertheit" des SGB II etwa BSG vom 17.9.2020 - B 4 AS 3/20 R - SozR 44200 § 11a Nr 5 RdNr 22; BSG vom 13.7.2022 - B 7/14 KG 1/21 R - BSGE 134, 258 = SozR 45870 § 6a Nr 10, RdNr 22). Sie erhalten nach § 19 Abs 1 Satz 1 SGB II Arbeitslosengeld II. Der Begriff des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist in § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II legaldefiniert. Die zweite Gruppe bilden die nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten; sie erhalten (nur), wenn sie mit mindestens einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ("Ankerperson") in einer Bedarfsgemeinschaft leben, Sozialgeld, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII haben (§ 19 Abs 1 Satz 2 SGB II); diese Anspruchsgrundlage wird in § 7 Abs 2, § 23 SGB II aufgegriffen und hinsichtlich der Rechtsfolgen weiter entfaltet (vgl BSG vom 28.10.2014 - B 14 AS 65/13 R - BSGE 117, 186 = SozR 44200 § 7 Nr 39, RdNr 17; Söhngen in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 19 RdNr 17).

36
Ein Anspruch Nichterwerbsfähiger ist damit abhängig von der Leistungsberechtigung zumindest eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, mit dem er in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Schon deshalb hindert ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II in der Person des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine Leistungsberechtigung des Nichterwerbsfähigen (Knickrehm in Knickrehm/Roßbach/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 8. Aufl 2023, § 7 RdNr 29, Stand 1.8.2024; Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 7 RdNr 198). Dies wird in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und Nr 2 SGB II durch die - an unionsrechtliche Begrifflichkeiten anknüpfende - Formulierung "und ihre Familienangehörigen" bekräftigt.

37
Diese Unterscheidung liegt auch der Rechtsprechung des BSG zugrunde. So geht das BSG davon aus, dass beide Anspruchsgrundlagen (§ 19 Abs 1 Satz 1, § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II einerseits, § 19 Abs 1 Satz 2, § 7 Abs 2 SGB II andererseits) nebeneinanderstehen (BSG vom 28.10.2014 - B 14 AS 65/13 R - BSGE 117, 186 = SozR 44200 § 7 Nr 39, RdNr 17 f; BSG vom 17.7.2024 - B 7 AS 3/23 R - juris RdNr 22- zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Daraus folgt, dass nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht in eigener Person die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II erfüllen müssen (BSG vom 28.10.2014 - B 14 AS 65/13 R - BSGE 117, 186 = SozR 44200 § 7 Nr 39, RdNr 17 ff zum gewöhnlichen Aufenthalt) und dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II nicht für nichterwerbsfähige Personen gilt, wie das BSG jüngst entschieden hat (BSG vom 17.7.2024 - B 7 AS 3/23 R - juris RdNr 27- zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; etwas anderes gilt aufgrund der Spezialität des Asylbewerberleistungsgesetzes für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II: BSG vom 21.12.2009 - B 14 AS 66/08 R - SozR 44200 § 7 Nr 14 RdNr 14 ff zur Vorgängerregelung; BSG vom 14.6.2018 - B 14 AS 28/17 R - SozR 44200 § 7 Nr 56 RdNr 16 f).

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b) Ein Anspruch aus § 19 Abs 1 Satz 2, § 7 Abs 2 SGB II setzt mithin voraus, dass eine selbst nicht erwerbsfähige Person mit einem erwerbsfähigen und nicht ausgeschlossenen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der damals zweijährige Kläger ist selbst nicht erwerbsfähig, gehört aber als deren Sohn dem Haushalt der Klägerin, einer erwerbsfähigen und wegen § 7 Abs 1 Satz 4 SGB II nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossenen Leistungsberechtigten, an und bildete daher nach § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II eine Bedarfsgemeinschaft mit ihr.

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§ 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II findet - nach dem oben Dargelegten - auf den Kläger selbst keine Anwendung, da er selbst kein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II ist. Auf die Rückausnahme des § 7 Abs 1 Satz 4 SGB II kommt es damit in Bezug auf den Kläger nicht an.

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B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1 SGG und folgt im Verhältnis zwischen Klägern und Beklagten dem Verfahrensausgang. Hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen bestand im Rahmen des dem Senat obliegenden Ermessens (vgl BSG vom 22.9.2022 - B 4 AS 60/21 R - SozR 44200 § 12a Nr 3 RdNr 30) kein Anlass, diese dem Beklagten aufzuerlegen.

 

Rechtskraft
Aus
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