L 3 SB 92/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 SB 92/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze


Zur (nur ausnahmsweisen) Verwirkung des Anspruchs auf Übernahme der Kosten für ein auf der Grundlage von § 109 SGG eingeholtes Gutachten auf die Staatskasse.


Die Kosten, die der Klägerin durch das gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei Dr. med. H. – Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie –, C-Stadt eingeholte Gutachten entstanden sind, werden auf die Staatskasse übernommen.


Gründe

I.

In der Hauptsache war streitig, ob das beklagte Land zu Gunsten der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 festzustellen hatte. 

Das beklagte Land hatte der Klägerin mit Bescheid vom 16. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2016 einen Grad der Behinderung von (nur) 30 zuerkannt. Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Frankfurt am Main das Land durch Gerichtsbescheid vom 2. Juli 2019 unter Abänderung der genannten Bescheide verurteilt, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 40 festzustellen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die anwaltlich vertretene Klägerin hat – fristgemäß – Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt hat.

Während des Berufungsverfahrens hat das beklagte Land – offenbar zur Ausführung des erstinstanzlichen Urteils – am 13. August 2019 einen weiteren Bescheid erlassen.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein Gutachten bei Fr. Dr. H., C-Stadt, eingeholt, das diese am 15. September 2021 erstattet hat. Die Sachverständige hat für eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtiger mittelgradiger depressiver Episode ohne somatisches Syndrom einen Einzel-GdB von 40 und insgesamt auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet einen Gesamt-GdB von 50 empfohlen. Im Rahmen eines nachfolgenden Erörterungstermins am 21. Dezember 2021 hat die damalige Berichterstatterin darauf hingewiesen, dass auf der Grundlage des Gutachtens der Dr. H. sowie den aktenkundigen Befundberichten von einem Einzel-GdB von 40 ausgegangen werde, nachdem durchgängig sowohl eine medikamentöse Therapie als auch eine psychotherapeutische Behandlung wegen des psychischen Krankheitsbildes (Panikstörung, chronische Schmerzstörung, depressive Episoden) stattfinde. Insgesamt ergebe sich ein Gesamt-GdB von 50 für die Zeit ab der Begutachtung. Die Beteiligten haben daraufhin im Erörterungstermin einen Vergleich geschlossen, wonach das beklagte Land den Bescheid vom 16. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 2016 und des Bescheids vom 13. August 2019 dahingehend abändert, dass es bei der Klägerin für die Zeit ab Juli 2021 einen GdB von 50 feststellt.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat dem Gericht nach dem mit dem Vergleich verbundenen Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache mit Schreiben vom 19. April 2022 unter anderem ein Schreiben der Rechtsschutzversicherung der Klägerin vom 8. April 2022 „zur ggf. weiteren Veranlassung“ übermittelt, mit dem die Versicherung bei dem Bevollmächtigten angefragt hatte, ob „hinsichtlich des Antrags auf Erstattung der Kosten nach § 109 SGG bereits eine Entscheidung“ vorliege.

Die damalige Senatsvorsitzende hat daraufhin mit Schreiben vom 25. Mai 20222 um Klarstellungen gebeten, ob mit dem Schreiben vom 19. April 2022 ein Antrag gestellt werden solle und ggf. welcher, und hieran mit Schreiben vom 5. August 2022 erinnert. Eine Reaktion von Seiten der Klägerin ist hierauf zunächst erfolgt.

Vielmehr hat der Bevollmächtigte der Klägerin (erst) mit Schreiben vom 29. September 2024 beantragt, 
die Kosten der Begutachtung nach § 109 SGG auf die Staatskasse „umzulegen“.

Die durch den Senat beteiligte Bezirksrevisorin hat mit Schreiben vom 25. November 2024 auf eine Stellungnahme verzichtet.


II.

Dem Antrag der Klägerin ist zu entsprechen. Dabei ergeht die Entscheidung durch den Senatsvorsitzenden allein: Die Entscheidung über den Kostenübernahmeantrag unterfällt, wenn das Verfahren in der Hauptsache wie hier ohne mündliche Verhandlung geendet hat, § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 Sozialgerichtsgesetz – SGG – (vgl. nur Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/ B. Schmidt, SGG – Kommentar, 14. Aufl. 2023, § 155 Rn. 9e). Da die früher zuständige Berichterstatterin nach Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache aus dem Senat ausgeschieden ist, ohne dass nach der senatsinternen Geschäftsverteilung die abgeschlossenen Verfahren auf eine andere Berichterstatterin oder einen anderen Berichterstatter übertragen worden wären. Die Entscheidungszuständigkeit liegt unter diesen Umständen nach § 155 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 SGG beim Senatsvorsitzenden.

Die nach § 109 Abs. 1 SGG entstandenen Kosten für die Einholung eines Gutachtens können auf die Staatskasse übernommen werden, wenn das Gutachten zur Aufklärung des Sachverhalts und damit zu einer für die Rechtsfindung erforderlichen Meinungsbildung maßgeblich beigetragen hat. 

Daran kann vorliegend kein Zweifel bestehen: Das Gutachten von Frau Dr. H. hat die weitere Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich der bei der Klägerin im Vordergrund stehenden Erkrankungen aus dem psychiatrischen Formenkreis erkennbar gefördert und war – nach entsprechendem Hinweis der damaligen Berichterstatterin – Grundlage des zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleichs.

Die Klägerin ist mit dem Antrag auf Übernahme der Kosten auch nicht ausgeschlossen. Insbesondere ist von Verwirkung im Ergebnis nicht auszugehen.

Der Gesetzgeber hat bestimmte Fristen für den Antrag auf Übernahme der Gutachtenskosten auf die Staatskasse nicht vorgesehen (vgl. in diesem Sinne z.B. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29. September 2005 – L 5 B 148/05 R –, juris, Rn. 9). Namentlich scheidet eine analoge Anwendung des § 5 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG) bereits deshalb aus, weil die dort vorgesehene Frist erst beginnt, wenn der materiell-rechtliche Anspruch entstanden ist, was bei der hier streitigen Übernahmeentscheidung einen Beschluss des Gerichts voraussetzt (vgl. Thüringer LSG, Beschluss vom 26. Juli 2018 – L 1 U 1207/07 –, juris, Rn. 7; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/ B. Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 109 Rn. 16; F. Keller, in: jurisPR-SozR 1/2006 Anm. 6).

Das Antragsrecht ist auch nicht verwirkt. Das Rechtsinstitut der Verwirkung, das auf dem in der gesamten Rechtsordnung und damit auch im Sozial- und Kostenrecht anzuwendenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch) beruht (vgl. für viele: BSG, Urteil vom 10. August 1999 – B 2 U 30/98 R –, SozR 3-2400 § 4 Nr. 5), ist zwar im Grundsatz auch auf das hier in Rede stehende Antragsrecht anwendbar (vgl. Thüringer LSG, Beschluss vom 26. Juli 2018 – L 1 U 1207/07 –, juris, Rn. 8; F. Keller in jurisPR-SozR 1/2006 Anm. 6): Eine Verwirkung kommt jedoch nur in Betracht, wenn die Klägerin beziehungsweise der Kläger von ihrem Antragsrecht über längere Zeit keinen Gebrauch macht (sog. Zeitmoment) und weitere besondere Umstände hinzutreten, die es – ausgehend von den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebiets – nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen, das in Frage stehende Recht noch geltend zu machen (sog. Umstandsmoment; vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 67/09 R – SozR 4-2400 § 24 Nr. 5). Das ist dann anzunehmen, wenn die Verpflichtete (hier: Staatskasse, welch die für das Gutachten angefallenen Kosten zu übernehmen hat) infolge eines konkret zu bezeichnenden Verhaltens der Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass diese das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), tatsächlich darauf vertraute, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in ihren Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihr durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (vgl. für die ständige Rspr. des BSG: BSG, Urteil vom 12. Dezember 2023 – B 1 KR 32/22 R –, SozR 4-2500 § 109 Nr. 91, Rn. 19 und BSG, Urteil vom 19. November 2019 – B 1 KR 10/19 R –, SozR 4-2500 § 109 Nr. 80, Rn. 12 m.w.Nw.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist im hiesigen Zusammenhang zunächst zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber, wie erwähnt, gerade keine Antragsfrist vorgesehen hat. Hinzu kommt, dass inhaltlich immerhin annäherungsweise vergleichbare Vorschriften wie § 5 Abs. 2 GKG eine Verjährungsfrist von vier Jahren vorsehen. Das schließt wegen des Unterschieds von Verjährung und Verwirkung zwar eine Verwirkung bereits nach kürzerer Frist nicht notwendig aus. In diesem Fall muss aber nach Auffassung des Senats ein Umstandsmoment von erheblichem Gewicht hinzukommen.

Das ist vorliegend nicht der Fall: Insoweit ist zunächst zu beachten, dass eine Verwirkung allein durch bloßes Schweigen in der Regel ausscheidet (vgl. BGH, Urteil vom 14. November 2002 – VII ZR 23/02 –, NJW 2003, 824; Thüringer LSG, Beschluss vom 26. Juli 2018 – L 1 U 1207/07 –, juris, Rn. 9; F. Keller, in: jurisPR-SozR 1/2006 Anm. 6). Im konkreten Fall geht es zwar nicht ausschließlich um eine Untätigkeit von Seiten der Klägerin bis zur (ausdrücklichen) Antragstellung im Herbst 2024. Vielmehr kommen das inhaltlich unklare Schreiben ihres Bevollmächtigten und dessen fehlende Reaktion auf das Bemühen der damaligen Senatsvorsitzenden um Klärung hinzu. Damit geht das Verhalten der Klägerin beziehungsweise ihrer Bevollmächtigten über eine schlichte Untätigkeit hinaus, weil sich immerhin die Frage aufdrängt, ob die ausbleibende Reaktion als „beredtes Schweigen“ zu deuten ist. Ob dem ein hinreichend eindeutiger (Erklärungs )Wert zukommt, erscheint dennoch fraglich.

Schon ein ausreichendes Verwirkungsverhalten dürfte daher nicht zu bejahen sein. Jedenfalls aber fehlt es an einem Vertrauenstatbestand und dem daran anknüpfenden Vertrauensverhalten des Verpflichteten, also der Staatskasse: Diese hat von dem Vorgang überhaupt erst durch die Übermittlung des im Jahre 2024 ausdrücklich gestellten Antrags Kenntnis erhalten und konnte sich daher bis dahin gar nicht darauf einstellen, dass das Antragsrechts nicht mehr ausgeübt würde. Da ihr das Schreiben des Klägervertreters vom 19. April 2022 und die vergeblichen Bemühungen um Klärung nicht bekannt waren, steht sie unter Vertrauensschutzgesichtspunkten daher so, als sei bis zu dem ihr übermittelten Antrag im Jahr 2024 nichts geschehen. Die bloße Untätigkeit über zwei Jahre kann jedoch nicht zur Verwirkung führen. Die danach fortbestehende Möglichkeit, den Anspruch trotz des langen Zeitablaufs noch geltend zu machen, mag daher unter haushalterischen Gesichtspunkten wenig glücklich sein; hier für eine Begrenzung zu sorgen, wäre jedoch Sache des Gesetzgebers. Gleiches gilt für den Umstand, dass das Gericht das längst abgeschlossene Verfahren nochmals in die Hand nehmen und auf die inhaltliche Relevanz des Gutachtens prüfen muss, nachdem die Verwirkung nicht der Arbeitsentlastung der Gerichte dient.

Im Ergebnis waren daher die für die Erstellung des Gutachtens von Frau Dr. H. anfallenden Aufwendungen auf die Staatskasse zu übernehmen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unanfechtbar.
 

Rechtskraft
Aus
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