Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 5. Juni 2024 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer höheren Verletztenrente unter Zugrundelegung eines Jahresarbeitsverdienstes (JAV) in Höhe von 120 % der Bezugsgröße.
Der 1992 geborene Kläger erlitt am 25.08.2016 einen Arbeitsunfall, als er als Motorradfahrer bei einem Überholmanöver seitlich mit einem Pkw zusammenstieß. Mit Bescheid vom 30.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.01.2019 erkannte die Beklagte den Unfall vom 25.08.2016 als Arbeitsunfall an mit den folgenden verbliebenen Unfallfolgen: Bewegungseinschränkung am Sprunggelenk nach knöchern fest verheilter Fibulafraktur rechts und vorderer Beckenringfraktur links, Muskelminderung am Oberschenkel rechts, organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma mit Subarachnoidalblutung rechts im Stirnbereich mit nachfolgender Verhaltensstörung, reizlose Narben im Bereich des Beckens und am Unterschenkel rechts. Aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls gewährte die Beklagte dem Kläger eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit (RAUZ) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH ab dem 22.02.2018 (Bescheid vom 30.10.2018, Widerspruchsbescheid vom 31.01.2019). Mit Bescheid vom 22.02.2022 stellte sie in Abänderung des vorigen Bescheids die RAUZ nach einer MdE um 40 vH fest.
Vor seinem 30. Geburtstag hörte die Beklagte den Kläger zu einer Erhöhung des JAV an. Der Kläger legte das Jahreszeugnis der N.-M.-Berufsoberschule M. vom 29.07.2020 vor, wonach er die Fachabiturprüfung nicht bestanden hatte, sie aber einmal wiederholen dürfe. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 19.10.2022 ab dem 26.09.2022 den JAV mit 39.480,00 EUR neu fest. Sie verwies auf § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, wonach der JAV ab Vollendung des 30. Lebensjahres, hier also ab dem 26.09.2022, auf 100 % der zu diesem Zeitpunkt geltenden Bezugsgröße festgesetzt werde.
Am 07.07.2023 bestand der Kläger an der FOS-Schule in M. die „Fachabiturprüfung“ und erwarb die Fachhochschulreife. Im Hinblick darauf beantragte er bei der Beklagten, den JAV auf 120 % der Bezugsgröße festzusetzen. Mit Bescheid vom 18.07.2023 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII werde der JAV nur dann mit Vollendung des 30. Lebensjahrs auf 120 % der zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Bezugsgröße erhöht, wenn das Abitur oder die Fachhochschulreife „erworben wurde“. Hierbei sei die Vollendung des 30. Lebensjahres als Stichtag anzusehen. Auch in Fällen, in denen die Hoch- oder Fachhochschulreife wegen der Folgen des Versicherungsfalls nicht oder nicht vor dem 30. Geburtstag habe erworben werden können, sei eine Neufestsetzung auf 120 % im Nachgang ausgeschlossen. Der Kläger habe an seinem Geburtstag, dem 26.09.2022, noch keine Fachhochschulreife erlangt. Ergänzend wies die Beklagte darauf hin, dass der Unfall vom 25.08.2016 nicht während einer Schul- oder Berufsausbildung eingetreten sei, weshalb auch Neufestsetzung nach § 91 SGB VII nicht erfolgen könne.
Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, den er damit begründete, er habe die Fachhochschulreife am 29.07.2020 unter anderem wegen der Unfallfolgen nicht bestanden. Er sei auch wegen der Pandemie nicht in der Lage gewesen, die Prüfung vor dem 07.07.2023 zu bestehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.12.2023 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie gab die wesentlichen Rechtsgrundlagen der Berechnung des JAV an und führte aus, da der Kläger zum Unfallzeitpunkt 24 Jahre alt gewesen sei, seien mit Schreiben vom 26.08.2022 Ermittlungen eingeleitet worden, um festzustellen, ob er vor Vollendung des 30. Lebensjahres eine Hochschul- oder Fachhochschulreife erlangt habe. Ein solcher Nachweis habe bis zum 25.09.2022 nicht erbracht werden können. Dies sei erst am 07.07.2023 der Fall gewesen.
Am 10.01.2024 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Er hat ausgeführt, er könne sich mit der Auslegung der Vorschrift des § 90 SGB VII durch die Beklagte nicht einverstanden erklären. Er habe die Fachhochschulreife am 29.07.2020 nicht bestanden; Hintergrund seien die schweren Unfallfolgen gewesen. Auch wegen der Folgen der Pandemie sei er nicht in der Lage gewesen, die Fachhochschulreife vor dem 07.07.2023 zu erwerben.
Das SG hat die Klage mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 05.06.2024 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung einer höheren Verletztenrente ab dem 07.07.2023 unter Zugrundelegung eines JAV in Höhe von 120 % der Bezugsgröße. Die Beklagte habe dies im Widerspruchsbescheid vom 20.12.2023 zutreffend ausgeführt.
Gegen den am 06.06.2024 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28.06.2024 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zur Begründung sein bisheriges Vorbringen wiederholt. Ergänzend hat er berichtet, die Verzögerungen beim Erwerb der Fachhochschulreife hätten auch an der Pandemie mit dem SARS-Co2-Virus gelegen. Im März 2020 habe das Corona-Virus für die Schließungen der Schulen gesorgt, in einem Bundesland nach dem anderen. Er habe zwar die 12. Klasse (2020/21) nach den misslungenen Abschlussprüfungen wiederholt, jedoch sei er mit der Situation und vor allem dem Distanzunterricht nicht zurechtgekommen und gezwungen gewesen, die Schule abzubrechen wegen der entstandenen Lernrückstände und psychologischer und psychosozialer Belastungen. Er habe sich erst im Jahr 2022 hiervon erholt und sich noch vor seinem 30. Geburtstag erneut bei der Schule angemeldet und diese acht Monate später erfolgreich mit dem Fachabitur abgeschlossen. Mittlerweile studiere er Produktion- und Prozessmanagement im 3. Semester. Er weise darauf hin, dass in § 218g SGB VII Übergangsregelungen wegen der Corona-Pandemie („bei epidemischer Lage von nationaler Tragweite“ gebe. Es sei für ihn nicht nachvollziehbar, dass es in Bezug auf die Neufestsetzung des JAV keine solche Übergangsregelung gebe.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 5. Juni 2024 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 18.07.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.12.2023 zu verurteilen, die Verletztenrente ab dem 07.07.2023 nach einem Jahresarbeitsverdienst in Höhe von 120 Prozent der Bezugsgröße nach den gesetzlichen Bestimmungen zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die ergangenen Bescheide und hält die Entscheidung des SG für zutreffend.
Der Vorsitzende hat mit den Beteiligten am 17.09.2024 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Streitstands durchgeführt. Die Beteiligten haben dabei ihre Standpunkte dargelegt und einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt.
Mit Beschluss vom 19.09.2024 hat der Senat den Rechtsstreit auf den Vorsitzenden und die ehrenamtlichen Richter übertragen. Hierzu waren die Beteiligten schon vor dem Erörterungstermin, mit Schreiben vom 29.07.2024, angehört worden.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers, über die der kleine Senat (§ 153 Abs. 5 SGG) im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Das SG hat die Klage des Klägers zu Recht abgewiesen. Sie ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Der geltend gemachte Anspruch auf eine Neuberechnung der laufenden Verletztenrente nach einem JAV in Höhe von 120 % der Bezugsgröße - nach dem Antrag des Klägers bezogen auf den 07.07.2023, den Tag des Bestehens der Prüfung - besteht nicht. Der Bescheid der Beklagten vom 18.07.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.12.2023 ist danach rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Der Senat tritt der Entscheidung des SG bei, wonach § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII eindeutig voraussetzt, dass das Abitur oder die Fachhochschulreife vor dem 30. Geburtstag erworben worden sein müssen, um einen Anspruch auf Festsetzung des JAV auf 120 % der Bezugsgröße (bezogen auch hier auf den Geburtstag, nicht die Prüfung) zu begründen. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Norm, der im Imperfekt formuliert ist („erworben wurde“). Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur wird diese Auslegung erteilt. So wird ausgeführt, die Hochschulzugangsberechtigung müsse zwar nicht vor dem Versicherungsfall bestanden haben, aber vor Vollendung des 30. Lebensjahres (vgl. Schudmann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 90 SGB VII (Stand: 15.01.2022), Rn. 32).
Ergänzend und mit Blick auf das Berufungsvorbringen ist nur auszuführen, dass auch der erkennende Senat keinen Raum sieht für eine fiktive Betrachtung, ob die versicherte Person ohne den Versicherungsfall die Hochschulreife vor Vollendung des 30. Lebensjahres erworben hätte; diese muss tatsächlich vor diesem Zeitpunkt erworben worden sein. Insofern besteht ein maßgeblicher Unterschied zwischen dem Unfallversicherungsrecht und z.B. dem Recht der Sozialen Entschädigung. Im Unfallversicherungsrecht ist grundsätzlich nur der Lohn versichert, der zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls bezogen wurde (bzw. in dem Bemessungszeitraum vor dem Unfall). Spätere berufliche Entwicklungen werden nicht nachgezeichnet, auch nicht, wenn sie gerade wegen des Arbeitsunfalls unterbleiben. Die Ermittlung eines fiktiven Ausbildungs- oder Berufsverlaufs soll nach der Gesetzesbegründung gerade vermieden werden (vgl. Schudmann, a.a.O., mit Verweis auf BT-Drs. 19/17586, S. 107). Insofern sind §§ 90, 91 SGB VII bereits eine Ausnahme von den Grundsätzen des Unfallversicherungsrechts und daher tendenziell eng auszulegen. Der Gesetzgeber hat zu dieser Ausnahme ausgeführt, bei Erwerb der Hochschul- oder Fachhochschulreife solle wegen der „langfristig typischerweise besseren Verdienstmöglichkeiten für diese Versicherten“ ein JAV von 120 % der maßgeblichen Bezugsgröße angenommen werden (BT-Drs. 19/17586, S. 107).
Der Kläger kann sich auch nicht auf Ausnahmevorschriften im Hinblick auf die Pandemie berufen, weil es eine solche Ausnahmevorschrift nicht gibt. Dabei verkennt der Senat die vom Kläger dargestellten schulischen Schwierigkeiten, die mit dem Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 verbunden waren und nach seiner Darstellung dazu führten, dass er im Schuljahr 2019/20 die Fachhochschulreife (knapp) nicht schaffte und er den Wiederholungsversuch im Schuljahr 2020/21 abbrechen musste, da er unter anderem nicht mit dem Distanzunterricht zurechtkam. Diese Situation hat der Gesetzgeber weder während noch nach der Pandemie in einer Ausnahmeregelung aufgenommen. Insbesondere § 218g SGB VII erfasst diese Konstellation nicht. Insbesondere wollte der Gesetzgeber mit § 218g Abs. 2 SGB VII zwar pandemiebedingte tatsächliche Hindernisse im Rahmen von Ausbildungen auffangen, dies aber nur in Bezug auf die Gewährung einer Waisenrente, nicht in Bezug auf alle sozialversicherungsrechtlich relevanten Konstellationen und Ansprüche wie die Festsetzung des JAV in Anknüpfung den Zeitpunkt eines bestimmten Schulabschlusses. Hinzuzufügen ist außerdem, dass die epidemische Lage von nationaler Tragweite, an die § 218g SGB VII anknüpfte, aufgrund von § 5 Abs. 1 Satz 2 InfSchG bereits mit Ablauf des 25.11.2021 geendet hatte, da der Bundestag keinen Beschluss über die Fortgeltung getroffen hat (Schlaeger in BeckOK Sozialrecht, 73. Ed. § 218g Rn. 3a).
Der Senat ist auch nicht der Ansicht, dass es eine verfassungswidrige Regelungslücke darstellt, dass der Gesetzgeber Konstellationen wie hier nicht in einer Ausnahmevorschrift wie § 218g SGB VII geregelt hat. Dem Gesetzgeber und steht vor den Anforderungen des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG bei der Ausgestaltung insbesondere dann ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, wenn und soweit er - wie hier bei der Verletztenrente - im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit (Leistungsverwaltung) und nicht im Bereich der Eingriffsverwaltung handelt (vgl. allgemein BVerfG, Beschluss vom 13.07.2000 - 1 BvR 395/00 - Rn. 10, juris; BVerfG, Beschluss vom 26.04.1988 - 1 BvL 84/86 - Rn. 47, juris). Diesen Spielraum hat er nicht überschritten, wenn er die Konstellationen des § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII während der Pandemie nicht gesondert erfasst hat. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Erlangung des Abiturs und der Fachhochschule auch während der epidemischen Lage nicht objektiv unmöglich war, auch wenn die Schulen oftmals und für längere Zeiträume keinen Präsenzunterricht anbieten konnten. Nur zu Beginn der Pandemie im März 2020 dürfte die Schließung der Schulen wegen der Plötzlichkeit und er fehlenden Vorbereitung dazu geführt habe, dass gar kein Unterricht stattgefunden hat. Alsbald sind die Schulen auf Distanzunterricht in verschiedenen Formen übergegangen. Sofern der Kläger diese Möglichkeit nicht nutzen konnte, dann beruhte dies jedenfalls auch auf individuellen Umständen, die in seiner Person liegen. Eine Berücksichtigung individueller Umstände kann von dem Gesetzgeber im Rahmen einer typisierenden und pauschalierenden Regelung wie hier im Bereich der Massenverwaltung aber nicht abverlangt werden.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 80/24
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 2029/24
Datum
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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