1. Ein Anspruch auf außerklinische Intensivpflege in einer Kindertagesstätte setzt voraus, dass eine sofortige ärztliche oder pflegerische Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar erforderlich werden kann. Eine abstrakte Gefahr für das Auftreten lebensbedrohlicher Zustände reicht hierfür nicht aus.
2. Die rein abstrakte Möglichkeit, dass bei einem an Diabetes Typ 1 erkrankten Kita-Kind Hyper- oder Hypoglykämien auftreten ist für sich genommen nicht geeignet, einen Anspruch auf außerklinische Intensivpflege zu begründen.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der am 8. November 2019 geborene Antragsteller, der bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert ist, begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes spezielle Krankenbeobachtung in der Kindertagesstätte in Form der außerklinischen Intensivpflege.
Der Antragsteller leidet an Diabetes mellitus Typ 1 und besucht eine Kindertagesstätte. Hypoglykämische Ereignisse mit fremdhilfebedarf sind nicht dokumentiert. Lediglich am 9. April 2024 ist eine Hypoglykämie leicht unter 50mg/dl dokumentiert. Zuletzt sind insgesamt Blutzuckerwerte von 45 bis 300 mg/dl aufgezeichnet worden. Er ist versorgt mit einer automatischen Insulinpumpe Ominipod 5 sowie einem Glukosesensor zur kontinuierlichen Glukosemessung. Im Falle eine Hyper- oder Hypoglykämie kann Alarm über ein Mobiltelefon gegeben werden. Derzeit hält sich stets eine Erzieherin in der Nähe des Antragstellers auf, um einen solchen Alarm empfangen zu können.
Mit Verordnung vom 17. Oktober 2023 verordnete der Chefarzt des Diabetes Zentrums der Kinderklinik auf der Bult, F., auf dem Muster 62B für den Antragssteller außerklinische Intensivpflege während des Besuchs der Kindertagesstätte für die Zeit vom 31. Oktober 2023 bis 31. Oktober 2024 im Umfang von je acht Stunden am Tag. Er fügte eine Stellungnahme der Kita bei. Demnach sei für den Besuch der Kita ein Einzelfallhelfer sinnvoll, da eine engmaschige Kontrolle der Blutzuckerwerte erfolgen solle. Es könne täglich zu Über- oder Unterzuckerungen kommen.
Mit Bescheid vom 19. Januar 2024 lehnte nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes (MD) die Antragsgegnerin die Gewährung der außerklinischen Intensivpflege ab. Die außerklinische Intensivpflege könne nur unter bestimmten Voraussetzungen übernommen werden. Dazu zähle, dass täglich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine lebensbedrohliche Situation eintreten kann, die ein sofortiges Eingreifen durch eine entsprechend ausgebildete Pflegefachkraft erfordert. Dies träfe auf den Fall des Antragstellers nicht zu.
Am 23. Januar 2024 beantragte der Antragsteller erneut die außerklinische Intensivpflege in der Kita mit einer weiteren Verordnung vom 17. Januar 2024 für den Zeitraum 17. Januar 2024 bis 31. Januar 2024 bzw. 21. Juni 2024. Mit Bescheid vom 30. Januar 2024 lehnte die Antragsgegnerin dies erneut ab und bezog die ebenfalls auf den Zeitraum 31. Oktober 2023 bis 31. Oktober 2024. Zugleich bewilligte die Beklagte die Durchführung von Injektionen sowie die Blutzuckermessung für die Zeit vom 17. Januar 2024 bis 31. Januar 2024 fünf Mal täglich an fünf Tagen pro Woche durch einen ambulanten Pflegedienst. Zudem wurde der Antrag mit Schreiben vom 31. Januar 2024 im Rahmen des Antragssplittings nach § 15 Absatz 1 SGB IX an die G. weitergeleitet. Diese hat die Weiterleitung zurückgewiesen, denn bei der Begleitung in die Kita handele es sich um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation. Es handele sich nicht um eine Leistung der Eingliederungshilfe, da die begehrte Begleitung nur medizinische Hilfe leisten solle.
Gegen den Bescheid vom 30. Januar 2024 erhob der Antragsteller am 21. Februar 2024 Widerspruch. Gegen den Bescheid vom 19. Januar 2024 erfolgte der Widerspruch mit gleichzeitigem Antrag auf Widereinsetzung in der Widerspruchsfrist mit Schreiben vom 15. März 2024.
Der Antragsteller hat am 18. März 2024 einen Antrag auf Gewährung Einstweiligen Rechtsschutz gestellt Er benötige in der Kindertagesstätte Unterstützung, denn er könne sich noch nicht selbstständig um den Diabetes kümmern und sei sowohl bei Blutzuckermessungen als auch bei der Berechnung und Abgabe des Insulins auf Fremdhilfe durch geschulte Erwachsene angewiesen. Selbst bei Verwendung eines modernen AID-Systems könnten lebensbedrohliche Zustände jederzeit auftreten. Er hat zum Beleg dessen eine Bescheinigung des Diabetes Zentrums des Kinderkrankenhauses auf der Bult vom 1. Februar 2024 (Chefarzt H. vorgelegt. Im Wesentlichen ist dort ausgeführt, dass täglich mehrfach subkutan Insulin verabreicht werden müsse, die Dosis an Nahrungsaufnahme und Aktivität des Antragstellers angepasst werden müsse und der Antragsteller selbst aufgrund seines Alters noch nicht in der Lage sei, einen entgleisten Blutzuckerspiegel zu erkennen, selbst zu behandeln oder anderen Personen mitzuteilen. Im Alter des Antragstellers schwanke der Blutzuckerspiegel. Die Bescheinigung, Seite 6 der elektronischen Gerichtsakte, wird in Bezug genommen.
Eine Überwachung des Diabetes durch das Kita-Personal könne nicht dauerhaft erfolgen. Hierzu fehlten die Ressourcen. Der Besuch der Kita sei dem Antragsteller als soziale Teilhabe für eine normale Entwicklung zu ermöglichen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, ihm außerklinische Intensivpflege zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Unter dem 15. April 2024 hat der MD ein Widerspruchsgutachten erstattet, welches die Beklagte zunächst in das Verfahren eingeführt hat. Der MD führt aus, dass eine spezielle Krankenbeobachtung nach Häusliche-Krankenpflege-Richtlinie (HKP-Richtlinie) Nummer 24 erfordere, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich lebensbedrohliche Ereignisse aufträten, die einer Intervention bedürften. Dies sei beim Antragsteller jedoch nicht der Fall. Einzelleistungen der Behandlungspflege seien im vorliegenden Einzelfall jedoch nicht ausreichend. Hier komme eine spezielle Krankenbeobachtung in Betracht.
Die Antragsgegnerin hat ergänzend ausgeführt, dass die Wertung, im Einzelfalle komme spezielle Krankenbeobachtung in Betracht, vor dem Hintergrund der zum 31. Oktober 2023 in Kraft getretenen HKP-Richtlinie nicht mehr haltbar sei. Damit sei die Einschätzung des MD rechtlich falsch.
Das Gericht hat eine weitere schriftliche Stellungnahme von der behandelnden Diabetologin I. von der J. eingeholt. Jeden Tag komme es zu verschiedenen Zeiten zu Hypo- und Hyperglykämien. Es müsse sichergestellt sein, dass die zuvor in der Pumpe eingegebenen Essensportionen auch eingehalten werden würden. Ständig werde in der Kita Essen getauscht. Es bestünden trotz der automatisierten Pumpe noch schwankende Blutzuckerwerte. Bei unterschiedlicher körperliche Belastung müsse die Insulinpumpe durch Aktivierung der entsprechenden Funktion entsprechend eingestellt werden. Andernfalls könne es zu schweren Hypoglykämien kommen. Solche Ereignisse seien zwar selten, könnten jedoch auch mit der modernsten Technik nicht ausgeschlossen werden.
Der Antragsteller hat eine weitere Stellungnahme der Kita vom 30. April 2024 vorgelegt. Demnach arbeite das Omipod-System nicht wie erhofft. Die Blutzuckerwerte müssten dauerhaft kontrolliert werden. Zurzeit übernehme dies eine Erzieherin, indem sie mit einem Handy, das mit dem Glukosesensor des Antragstellers verbunden ist, sich dauerhaft in der Nähe des Antragstellers aufhalte. Sie falle für andere erzieherische Aufgaben aus. Dies könne nicht dauerhaft geleistet werden. Der Antragsteller könne sich ohne Einzelfallhelfe nicht so frei bewegen wie andere Kinder. Täglich komme es zu Hypo- und Hyperglykämien.
Der Antragsteller hat ebenso Verlaufskurven seines Blutzuckerspiegels vorgelegt.
Unter dem 15. Mai 2024 hat der MD daraufhin eine erneute gutachterliche Stellungnahme erstattet, die die Antragsgegnerin in das Verfahren eingeführt hat und auf die sie ihren Antrag stützt. Der MD geht dabei davon aus, dass die Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt seien. er führt aus, folge man der Argumentation des Antragstellers, so lägen die Voraussetzungen für eine außerklinische Intensivpflege bei Kindern mit einer teilautomatisierten Insulinpumpe stets vor. Dies sei nicht der Fall. Der HbA1C-Wert zeige sich im November 2021 mit 7% gegenüber dem Jahr 2022 mit leicht steigender Tendenz. Schwankende Blutzuckerwerte bis 250mg/dl (Grenzwert für eine Hyperglykämie) seien in den CGM-Auswertungen dokumentiert. Am 9. April 2024 sei eine Hypoglykämie leicht unter 50mg/dl (Grenzwert für eine Hypoglykämie) dokumentiert. Tägliche Hypoglykämien > 50 mg/dl seien nicht dokumentiert. Unter der Voraussetzung einer stabilen Diabeteseinstellung mit der Gewährleistung von regelmäßigen, engmaschigen Blutzuckerkontrollen, Insulingabe nach Dosierschema und Beachtung der diätischen Vorgaben könne es nur selten zu Blutzuckerentgleisungen kommen, die als unmittelbar lebensbedrohlich zu bezeichnen seien. Diese Sondersituation begründe nicht die Notwendigkeit einer permanenten pflegerischen Interventionsbereitschaft im Sinne einer außerklinischen Intensivpflege. Bei Hinweisen auf eine unbefriedigende, instabile Diabeteseinstellung sollten zunächst Maßnahmen zur Therapieoptimierung ergriffen werden. Es kämen – auch engmaschige – Einzelleistungen der Behandlungspflege in Betracht. Die gutachterliche Stellungnahme, Seite 147 ff. der elektronischen Gerichtsakte, wird in Bezug genommen.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Nach § 86b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Absatz 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung (ZPO)).
Es fehlt an einem Anordnungsanspruch.
Gemäß § 37c Absatz 1 Sätze 1 und 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege Anspruch auf außerklinische Intensivpflege. Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt dabei vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist. Gemäß § 37c Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 SGB V kann die Intensivpflege auch in einer Kindertagesstätte erbracht werden. Gemäß § 37c Absatz 1 Satz 8 Nummer 1 SGB V definiert der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), wann ein besonders hoher Bedarf an Behandlungspflege vorliegt. Die Konkretisierung erfolgt in der Richtlinie über die Verordnung außerklinischer Intensivpflege (AKI-Richtlinie), die am 15. September 2023 in Kraft getreten ist.
Gemäß § 4 Absatz 1 der AKI-Richtlinie ist die Verordnung von außerklinischer Intensivpflege bei Versicherten zulässig, bei denen wegen Art, Schwere und Dauer der Erkrankung in Schule oder Kita die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft notwendig ist, weil eine sofortige ärztliche oder pflegerische Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar erforderlich werden kann, wobei die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können.
Diese Anspruchsvoraussetzungen liegen beim Antragsteller nicht vor. Insofern ist auf die überzeugende gutachterliche Stellungnahme des MD vom 15. Mai 2024 zu verweisen. Bislang ist beim Antragsteller lediglich am 9. April 2024 eine leichte Hypoglykämie von wenig unter 50 mg/dl. dokumentiert worden. Der Wert für eine Hyperglykämie von 250 mg/dl. wurde ebenfalls nicht in besonders hohen Maße überschritten. Hyper- oder Hypoglykämien mit Fremdhilfebedarf, die zu akuten Notsituationen geführt haben, sind ebenfalls nicht dokumentiert.
Allein eine Schwankung des Blutzuckerspiegels vermag die Anspruchsvoraussetzungen für eine intensivpflegerische Betreuung in der Kita nicht zu begründen. Sowohl die Kita als auch die Ärzte des Diabetes Zentrums der J. beschreiben lediglich die abstrakte Gefahr des Eintretens eine Hypo- oder Hypoglykämie. Hieraus ergibt sich nicht, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich unvorhersehbar lebensbedrohliche Situationen auftreten können, die eine sofortige pflegerische Intervention notwendig machen. Es fehlt an tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass jederzeit lebensbedrohliche Zustände auftreten könne (vgl. hierzu: SG München, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – S 29 KR 1965/21 ER – juris Rn. 76 – 77; in einem vom SG Gelsenkirchen zusprechend entschiedenen Fall zur alten Rechtslage war der Kläger erst 2,5 Jahre alt und hatte bereits mehrfach regungslos auf dem Boden gelegen. Auch hier wurde die Intensivpflege nur für eine Übergangszeit zugesprochen (Urteil vom 14. Oktober 2022 – S 17 KR 3015/19), zusprechend auch nur nach häufigen entsprechenden Ereignissen mit Fremdhilfebedarf: Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 16. Mai 2017 – L 6 KR 1571/15 B ER –, Rn. 27, juris). Die Blutzuckermessung und Insulingabe durch einen ambulanten Pflegedienst mehrfach am Tag ist die Antragsgegnerin bereit zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.