Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 22. Oktober 2024 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 3. März 2023 aufgehoben.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt vom Beklagten die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der Kläger bezog bis Juni 2022 Leistungen nach dem SGB II. Am 07.10.2022 beantragte er die Weitergewährung von Leistungen. Der Beklagte forderte ihn mit Schreiben vom 27.10.2022 auf, für die Feststellung der Hilfebedürftigkeit die in einer beigefügten Checkliste genannten Unterlagen bis zum 13.11.2022 vorzulegen. Mit weiterem Schreiben vom 17.11.2022 wurde der Kläger mit Fristsetzung bis 04.12.2002 an die Vorlage der Unterlagen erinnert. Zur Akte gelangte lediglich eine Bescheinigung der AOK über die Kranken- und Pflegeversicherung als freiwilliges Mitglieder ab 01.08.2022.
Mit Bescheid vom 09.12.2022, dem Kläger gegen Postzustellungsurkunde zugestellt am 20.12.2022, lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II vom 07.10.2022 ab, da der Kläger seine Hilfebedürftigkeit nicht nachgewiesen habe.
Gegen den Bescheid erhob der Kläger mit handschriftlichem Schreiben, welches das Datum 19.01.2023 trägt, Widerspruch und trug dazu vor, nach Auslaufen der letzten Bewilligung sei ihm kein Weiterbewilligungsantrag zugeschickt worden. Zur weiteren Begründung legte der Kläger eine ärztliche Bescheinigung des R1 vom 22.12.2022 vor, wonach er aufgrund seines psychisch-mental äußerst labilen Zustandes nicht in der Lage gewesen sei, den Bescheid über die Einstellung der Leistungen zu verarbeiten bzw. entsprechend zu reagieren.
Das Widerspruchsschreiben des Klägers trägt den Eingangsstempel „Jobcenter Landkreis R2 23. Jan. 2023“.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.03.2023 verwarf der Beklagte den Widerspruch als unzulässig. Dieser sei nicht fristgereicht eingelegt worden. Nach § 84 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei ein Widerspruch gegen einen Bescheid innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe zu erheben. Nach § 37 Abs. 5, § 65 SGB Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. §§ 2, 3 VwZG werde der im Zustellungsverfahren übermittelte Bescheid bereits mit dem Zeitpunkt der Zustellung bekannt gegeben. Ausweislich der Postzustellungsurkunde sei der Bescheid vom 09.12.2022 dem Kläger am 20.12.2022 zugestellt worden. Demzufolge sei die Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides bereits am 20.12.2022 erfolgt. Die Widerspruchsfrist habe daher am Freitag, den 20.01.2023 geendet. Der Widerspruch sei jedoch erst nach Ablauf dieser Frist und zwar am 23.01.2023 eingegangen. Im angefochtenen Bescheid sei auch zutreffend auf die Widerspruchsfrist von einem Monat hingewiesen worden. Der Widerspruch habe somit keinen Erfolg haben können.
Am 23.03.2023 hat der Kläger dagegen zur Niederschrift der Rechtsantragsstelle des Sozialgerichts Reutlingen (SG) Klage erhoben und auf sein Widerspruchsschreiben Bezug genommen.
Mit Verfügungen des SG vom 18.04.2023 und vom 24.08.2023 ist der Kläger darauf hingewiesen worden, dass sein Widerspruch – ausgehend vom Eingang beim Jobcenter am 23.01.2023 - verfristet und die Entscheidung des beklagten Jobcenters, den Widerspruch als unzulässig zu verwerfen, nicht zu beanstanden sei. Die Rücknahme der Klage werde angeregt.
Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 10.10.2023 vorgetragen, er sei am Freitag, den 20.01.2023 um 11.00 Uhr vormittags in Begleitung zum Jobcenter gegangen. Dabei habe er die geforderten Dokumente persönlich abgeben wollen. Dies sei ihm mir leider verwehrt worden, und auf Anweisung des zuständigen Mitarbeiters des Jobcenters habe er die besagten Unterlagen unmittelbar unter Zeugen in den dafür vorgesehenen Briefkasten eingeworfen.
Mit Verfügung des SG vom 12.10.2023 wurde der Kläger aufgefordert, bis 03.11.2023 die Personen mit Name und Anschrift zu nennen, die das von ihm geschilderte Einwerfen der Unterlagen am 20.01.2023 bezeugen könnten.
Mit Schreiben an das SG vom 02.11.2023 hat der Kläger angegeben, er sei am 20.01.2023 in Begleitung von S1, K1straße R2, gewesen. Unter dem 18.10.2024 hat der Kläger nach dem Sachstand des Verfahrens gefragt, da er seit einem Jahr keine Mitteilungen mehr bekommen habe.
Mit Gerichtsbescheid vom 22.10.2024 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klage sei zulässig, aber unbegründet. Der gegen den Bescheid vom 09.12.2022 erhobene Widerspruch sei beim Beklagten erst am 23.01.2023 eingegangen und damit nicht innerhalb der Monatsfrist. Zur näheren Begründung werde auf die Ausführungen des Beklagten im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 03.03.2023 verwiesen. Dort würden die maßgeblichen Vorschriften genannt und der ermittelte Sachverhalt einer zutreffenden rechtlichen Würdigung unterzogen.
Auch im Klageverfahren hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, die zu einem anderen Ergebnis führen würden. Der Kläger habe zwar behauptet, dass er den Widerspruch am 20.01.2023 unter Zeugen persönlich eingeworfen habe. Trotz Aufforderung durch das Gericht habe der Kläger aber bis heute keinen der Zeugen benannt. Weitere Ermittlungen durch das Gericht seien daher diesbezüglich nicht möglich.
Am 29.10.2024 hat der Kläger zur Niederschrift der Rechtsantragsstelle des SG erklärt, er habe dem SG fristgemäß seine Zeugin benannt. Den verschlossenen Brief habe er hier persönlich abgegeben. Wem er den Brief überreicht habe, wisse er leider nicht mehr. Außerdem habe er vom Gericht keine schriftlichen Erinnerungen diesbezüglich erhalten. Auf seine telefonischen Nachfragen sei ihm nie mitgeteilt worden, dass von seiner Seite aus noch etwas zu erledigen wäre. Er bitte um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und benenne zugleich seine Nachbarin S1 als Zeugin, welche den Einwurf beim Jobcenter und die Abgabe bei Gericht gerichtlich bezeugen könne. Sollte dies nicht möglich sein, lege er ersatzweise Berufung ein.
Das Verfahren ist beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg am 30.10.2024 eingegangen, wo es als Berufungsverfahren geführt wird.
Der Vorsitzende des Senats hat am 18.12.2024 einen Termin zur Erörterung des Sach- und Streitstandes mit den Beteiligten durchgeführt und S1 als Zeugin vernommen.
Der Kläger hat informatorisch angegeben, er habe den Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 09.12.2022 am Donnerstag, den 18.01.2023 im Entwurf verfasst und nach Durchsicht durch einen Freund am 19.01.2023 geschrieben. Ihm sei bekannt gewesen, dass Fristablauf für den Widerspruch der 20.01.2023 war und habe diesen deshalb persönlich abgeben wollen. Er sei am Freitag, den 20.01.2023 um ca. 11:00 Uhr zum Jobcenter gegangen, um sein Widerspruchsschreiben abzugeben. Er sei zusammen mit der Zeugin S1, die im selben Haus wohne, zum Jobcenter gelaufen; der Rewe, wo sie anschließend einkaufen wollten, liege gegenüber dem Jobcenter. Während er in das Gebäude des Jobcenters hineingegangen sei, habe S1 draußen gewartet. Er habe sein Widerspruchsschreiben abgeben wollen, der Mann an der Infothek im Eingangsbereich des Jobcenters habe ihm aber gesagt, dass sie nichts mehr annehmen und er sein Schreiben in einen der Briefumschläge, die außen ausliegen, einstecken und diesen in den Briefkasten an der Außenwand des Jobcenters einwerfen solle. Dies habe er getan, dann sei er mit S1 zu Rewe gegangen. S1 habe gewusst, dass er ein Widerspruchsschreiben abgeben wollte.
Die Zeugin S1 hat angegeben, sei habe den Kläger an dem betreffenden Tag zufällig im Hof vor dem Haus getroffen. Sie könne aber nicht mehr sagen, an welchem Tag das war. Das sei zu lange her. Sie habe einkaufen gehen wollen zu Rewe, der liege gegenüber dem Jobcenter. Der Kläger habe gesagt, sie hätten denselben Weg; so seien sie zusammen zum Jobcenter gegangen. Sie habe draußen gewartet, während der Kläger im Jobcenter war. Als er wieder rausgekommen sei, habe er einen Briefumschlag in der Hand gehabt, den er in den Briefkasten eingeworfen habe. Er habe gesagt, die nehmen das nicht an und man muss es in den Briefkasten einwerfen. Sie wisse nicht mehr genau, ob der Briefumschlag weiß war oder eine andere Farbe hatte; sei habe nicht darauf geachtet. Sie sei links erblindet und sehe auf dem rechten Auge 60%. Außerdem sei das schon lange her.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 19.02.2025 ist der derzeitige Mitarbeiter der Poststelle des Jobcenter Landkreis R2, R3, als Zeuge vernommen worden. Wegen der Einzelheiten der Vernehmung wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 22. Oktober 2024 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 3. März 2023 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. In Verbis sei kein Eintrag über eine Vorsprache des Klägers am 20.01.2023 vermerkt. Die Posteingangsstelle des Jobcenters sei so organisiert, dass einmal werktags zwischen 6:15 und 6:30 Uhr vom zuständigen Mitarbeiter, R3, der Briefkasten geleert werde und die Post dann den Eingangsstempel des Vortages erhalte. Am Wochenende (Samstag, Sonntag) werde der Briefkasten nicht geleert, es gebe auch keinen Nachtbriefkasten, so dass Post, die am Freitag nach der Leerung eingeworfen werde, bis Montag im Briefkasten bleibe und dieser erst dann geleert werde.
Mit Beschluss vom 20.01.2025 hat der Senat das Verfahren gemäß § 153 Abs. 5 SGG auf den Vorsitzenden Richter übertragen, der mit den ehrenamtlichen Richtern über die Sache entschieden hat.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG auch sonst zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
Der Kläger hat den Streitgegenstand der als Anfechtungsklage (§ 54 Abs.1 SGG) statthaften und auch sonst zulässigen Klage sachdienlich auf die isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2023 beschränkt mit dem Ziel der Neubescheidung seines Widerspruchs. Denn wenn die Widerspruchsbehörde zu Unrecht von einer Verfristung des Widerspruchs ausgegangen ist, ist das Gericht gehindert, in die sachliche Prüfung des Ausgangsbescheides einzutreten, wenn es den Widerspruch entgegen der Auffassung der Behörde als zulässig ansieht (str., so Burkiczak, SGb 2016, 189, 193; s. zum Streitstand Giesbert in jurisPK-SGG, § 78 Rn. 21 m.w.N.). Der Gerichtsbescheid des SG vom 22.10.2024 und der Widerspruch des Beklagten vom 03.03.2023 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
Unabhängig davon, dass der angefochtene Gerichtsbescheid an einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) leidet, die zur Zurückverweisung der Sache an das SG hätte führen können (§ 159 SGG), indem die vom Kläger auf Anforderung des Gerichts erfolgte schriftsätzliche Benennung einer Zeugin für sein Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen und die Klage ohne weitere Ermittlungen abgewiesen wurde, kann die Klageabweisung auch in der Sache keinen Bestand haben.
Der Beklagte hat den Widerspruch des Klägers gegen den Ablehnungsbescheid vom 09.12.2022 zu Unrecht wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen. Der Widerspruch des Klägers ist zur Überzeugung des Senats innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheids vom 09.12.2022 am 20.12.2022, nämlich am Freitag, den 20.01.2023 und damit rechtzeitig beim Beklagten eingegangen.
Der Senat ist aufgrund der persönlichen Anhörung des Klägers und der Vernehmung der Zeugin S1 und des Zeugen R3 zu der Überzeugung gelangt, dass die rechtzeitige Einlegung des Widerspruchs beim Beklagten nachgewiesen ist. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt dem Eingangsstempel des Beklagten kein unerschütterlicher Beweiswert zu, weshalb der Senat nicht gehindert war, die Anhörung des Klägers in Verbindung mit den Zeugeneinvernahmen als mit dem im vorliegenden Fall höheren Beweiswert zu würdigen. Zutreffend ist, dass ein behördlicher Eingangsstempel mit dem Datumsaufdruck und einem Handzeichen eines Bediensteten grundsätzlich eine öffentliche Urkunde i.S.v. § 418 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) über Wahrnehmungen und Handlungen der Behörde darstellt. Nach § 418 Abs. 1 Satz 2 ZPO erbringt sie dann den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Zwar dokumentiert der Eingangsstempel streng genommen nur, dass ein Bediensteter diesen auf das Schriftstück gesetzt und mit seinem Handzeichen versehen hat. Wie die höchstrichterliche Rechtsprechung indes anerkennt, erbringt ein solcher Stempel darüber hinaus Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines damit versehenen Schreibens (Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 31.05.2017 - VIII ZR 224/16 - NJW 2017, 2285; vgl. auch BSG, Beschluss vom 09.03.2011 - B 4 AS 60/10 BH -, juris). Dies unterstellt allerdings eine Organisation behördeninterner Abläufe, die sicherstellt, dass der Stempel die tatsächlichen Geschehnisse wahrheitsgetreu widerspiegelt.
§ 418 Abs. 2 ZPO lässt einen Beweis der Unrichtigkeit des Eingangsstempels als öffentliche Urkunde zu. Die Anforderungen an diesen Gegenbeweis dürfen nicht überspannt werden (BGH a.a.O.). Denn der Rechtsmittelführer befindet sich insoweit regelmäßig in Beweisnot, weil er interne Vorgänge nicht kennen kann (vgl. BSG, Beschluss vom 08.02.2012 - B 5 RS 76/11 B - juris). Der Beweis der Unrichtigkeit der öffentlichen Urkunde "Eingangsstempel der Behörde" kann durch jedes Beweismittel geführt werden.
Im vorliegenden Fall sieht der Senat diesen Gegenbeweis als geführt an. Es steht schon nicht zweifelsfrei fest, dass der angebrachte Eingangsstempel „23. Jan. 2023“ auf dem Widerspruchsschreiben des Klägers (ein Handzeichen eines Mitarbeiters des Jobcenters ist auf dem Stempelaufdruck nicht erkennbar) tatsächlich Auskunft darüber gibt, wann das Schriftstück eingegangen ist und damit, ob er überhaupt die Anforderungen an eine öffentliche Urkunde erfüllt. Über einen Nachtbriefkasten, der gewährleisten soll, dass vor 0:00 Uhr eingegangene Schriftstücke mit dem tatsächlichen Einwurf-Tagesdatum gestempelt werden, verfügt der Beklagte nicht. Er behilft sich damit, die bei einer morgendlichen Leerung um bzw. bis 07:00 Uhr entnommene Post mit dem Datum des Vortages zu stempeln, auch wenn sie tatsächlich nach 24:00 Uhr eingeworfen wurde. Damit würde nach der letzten Leerung am 20.01., am 21.01., am 22.01. sowie am 23.01. vor der ersten Leerung bis 07:00 Uhr eingegangene Post – unzutreffend – noch mit dem 20.01. gestempelt. Die vom Beklagten angewandte Verfahrensweise erbringt daher nicht in jedem Fall den Nachweis für den Zeitpunkt des Eingangs, sondern ist in diesem Fall unrichtig (vgl. Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 03.08.2005 - 7 K 318/02 -, juris), zumal vorliegend hinzukommt, dass aus dem aufgebrachten Stempel auch nicht ersichtlich ist, zu welcher Zeit die Post aus dem Briefkasten entnommen und gestempelt wurde.
Es existiert soweit ersichtlich auch keine umfassende Verschriftlichung der beim Jobcenter regelmäßig zu beachtenden Vorgehensweise, wie sie vom Beklagten nach dessen Einlassungen gehandhabt wird. Die Verschriftlichung der Organisation behördeninterner Abläufe dürfte für deren Nachvollziehbarkeit und der Sicherstellung einer gleichförmigen Handhabung aber unerlässlich sein, zumal dann, wenn von diesem Behördenhandeln Rechtswirkungen und Rechtsansprüche Dritter abhängig sind. Zwar wird offenbar aktuell in Bezug auf die Leerungsfrequenz des Briefkastens eine allgemeine Dienstanweisung der Agentur für Arbeit umgesetzt. Für die weiteren wesentlichen Abläufe innerhalb der gemeinsamen Eingangspoststelle von Arbeitsagentur und Poststelle bzw. die Weiterverteilung der Post – namentlich für den hier relevanten Zeitraum – ist dies jedoch nicht belegt. Diese sind offenbar weitgehend in die Verantwortung der Mitarbeiter der Posteingangsstelle gestellt. Der Zeuge R3 hat bei seiner Vernehmung hierzu angegeben, seines Wissens muss seit Herbst 2024 aufgrund einer Dienstanweisung des Verantwortlichen für die Poststelle der Agentur für Arbeit die Eingangspost zwei Mal täglich aus dem Briefkasten entnommen werden. Bei größerer Arbeitsbelastung und bedingt durch den früheren Dienstschluss könne dies aber nicht an jedem Freitag eingehalten werden; dann erfolge die Leerung am darauffolgenden Montagmorgen und die Post erhalte das Eingangsdatum des letzten vorangegangenen Werktags. Zwar konnte der Zeuge in Bezug auf den hier streitigen Zugangszeitpunkt (Freitag, den 20.01.2023) keine sichere Auskunft über die vorgegebene bzw. tatsächliche Frequenz der (frei)täglichen Briefkastenleerung und die weiteren Abläufe geben, zumal er erst seit 01.05.2024 auf der Poststelle des Beklagten tätig ist. Allerdings ist eine abweichende Handhabung für die Zeit vor seinem Eintritt in die Behörde weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Die Vertreterin des Beklagten hat ausweislich des Protokolls über den Erörterungstermin vom 18.12.2024 hierzu ausgeführt, die Leerung des Briefkastens erfolge ihres Wissens (nur) einmal werktäglich.
Der Senat stellt aufgrund der Angaben des Zeugen R3 zum weiteren Ablauf der Bearbeitung der Posteingänge fest, dass die Eingangspost nach der Entnahme aus dem gemeinsamen Briefkasten in der Posteingangsstelle zunächst nach dem Adressaten (Agentur für Arbeit bzw. Jobcenter) sortiert wird. Alle Briefe werden geöffnet, aber in der Regel nicht gestempelt, weder der Briefumschlag noch das Schriftstück. Ein Eingangsstempel wird auf den Schriftstücken nur angebracht, wenn der Mitarbeiter der Posteingangsstelle gleich erkennt, dass ein Rechtsmittel oder sonstiges fristgebundenes Schreiben eingegangen ist. Diese Post erhält dann den Eingangsstempel der Agentur für Arbeit. Die übrige Post wird, getrennt nach dem Adressaten (Agentur für Arbeit oder Jobcenter) hausintern an die zuständige Behörde bzw. den oder die zuständige Bedienstete weitergeleitet. Der Senat stellt weiter fest, dass die Eingangspost über den Postzusteller werktäglich gegen 7:30 Uhr auf der Poststelle eingeht und dort ebenfalls sortiert und entsprechend weiterverteilt wird. Die Posteingangsstelle fügt den jeweiligen Poststapeln vor der Weiterleitung oben noch ein Deckblatt bei, welches mit dem Datum gestempelt wird. Nach Eingang der Eingangspost beim Jobcenter wird diese durch den oder die zuständige Bedienstete des Jobcenters mit einem Eingangsstempel versehen, wobei es deren Aufgabe ist, die Post, die über den Briefkasten zugegangen ist, der morgens geleert wurde, „begünstigend“ mit dem Datum des letzten vorangegangenen Werktages zu stempeln und die Post, die über einen Postzusteller angeliefert wurde, mit dem Datum des Eingangstages beim Jobcenter. Die Poststelle des Jobcenters wird daher werktäglich mit mehreren Posteingangspaketen durch die gemeinsame Posteingangsstelle beliefert und hat diese, getrennt nach Zugangsart (Eingang über den Briefkasten oder über den Postzusteller) mit dem jeweils richtigen Eingangsdatum zu stempeln. Die Angaben des Zeugen R3 über die genannten behördeninternen Abläufe beziehen sich auf die Zeit seit seinem Tätigkeitsbeginn im Mai 2024. Der Zeuge hat aber angegeben, ihm sei nicht bekannt, dass die behördeninternen Abläufe davor, also auch in 2023 abweichend organisiert gewesen wären. Der Beklagte hat Abweichendes ebenfalls nicht vorgetragen, weshalb die tatsächlichen Abläufe auch für den hier streitigen Zeitraum als zutreffend festgestellt werden können.
Vorliegend trägt das Widerspruchsschreiben des Klägers den Eingangsstempel des Jobcenters R2, was nach den festgestellten Abläufen nahelegt, dass das Schriftstück nicht bereits auf der Poststelle gestempelt worden war – dort hätte es nach den Angaben des Zeugen den Eingangsstempel der Agentur für Arbeit erhalten –, sondern erst durch den oder die zuständige Bedienstete des Jobcenters nach dem dortigen Eingang mit einem Datums-Eingangsstempel versehen wurde. Wie der Zeuge berichtet hat, wird der Zeitpunkt des Posteingangs in den meisten Fällen – es sei denn, ein Schriftstück würde direkt als Rechtsmittel erkannt – nicht bereits auf der gemeinsamen Posteingangsstelle durch einen Eingangsstempel dokumentiert, sondern erst zeitverzögert nach Weiterleitung an die Agentur für Arbeit oder das Jobcenter. Die dort zuständige Person muss die unterschiedlichen Zugangsarten im Blick haben und die Schriftstücke mit wiederum unterschiedlichen Eingangsdaten stempeln, je nachdem, ob der Postzugang über den Hausbriefkasten oder einen Postzusteller erfolgt war. Die Aussage des Zeugen R3, aufgrund der Kennzeichnung auf dem Deckblatt der gelieferten Poststapel sei für die zuständige Person beim Jobcenter erkennbar, welche „Fuhre“ kommt, schließt nicht aus, dass es zu Datumsfehlern beim Stempeln der verschiedenen täglichen Postanlieferungen kommen kann, zumal wenn Briefkastenpost, die nach der morgendlichen Leerung am Freitag eingeworfen worden war, erst zeitverzögert nach der nächsten Leerung morgens an das Jobcenter weitergeleitet wird. Daran vermag auch eine rückdatierende „begünstigende“ Stempelung der Briefkastenpost mit dem Eingangsdatum des letzten vorangegangenen Werktages nichts zu ändern. Der Zeuge R3 hat nachvollziehbar eingeräumt, dass bei der Stempelung Fehler auftreten können, etwa weil der Datumsstempel nicht rechtzeitig oder nicht korrekt ein- oder umgestellt wird, was ihm selber auch schon passiert sei.
Demgegenüber sind die Angaben des Klägers in sich stimmig und widerspruchsfrei über die Angabe, am 18.01.2023 den Entwurf des Widerspruchsschreibens verfasst und diesen nach Durchsicht durch einen Freund mit Datum am 19.01.2023 geschrieben zu haben bis hin zur Darlegung, das Schreiben am Folgetag, dem Freitag, den 20.01.2023 in Begleitung der Zeugin S1 beim Jobcenter in den Außenbriefkasten eingeworfen zu haben, nachdem er dieses im Gebäude – wohl coronabedingt – nicht abgeben durfte und auf den Einwurf im Briefkasten verwiesen wurde. Diese Angaben decken sich im Kern mit denen der Zeugin S1. Soweit diese angegeben hat, das Geschehen bis zum Einwurf eines Schreibens – dessen Inhalt als Widerspruchsschreiben sie zu diesem Zeitpunkt nicht kannte – im Briefkasten des Jobcenters beobachtet zu haben, sich aber nicht an den konkreten Tag des Einwurfs erinnern zu können, ist dies mit Blick auf den seitherigen Zeitablauf lebensnah und spricht nicht gegen den Beweiswert der Aussage, sondern im Gegenteil dafür, dass sie nur das aussagte, woran sie sich noch erinnert - und gegen eine etwaige Absprache mit dem Kläger, der im selben Haus wohnt und mit dem sie gute nachbarschaftliche Beziehungen unterhält.
Unter Berücksichtigung dessen und des oben genannten Maßstabes sowie den Angaben des Klägers und der Zeugen sieht der Senat den Gegenbeweis als erbracht an. Danach steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das Widerspruchsschreiben am 20.01.2023 so in den Machtbereich des Beklagten gelangt ist, dass dieser davon Kenntnis nehmen konnte.
Auf die Berufung des Klägers waren daher der Gerichtsbescheid des SG und der Widerspruchsbescheid des Beklagten, auf dessen Aufhebung der Kläger seine Klage beschränkt hat, aufzuheben mit der Folge, dass der Beklagte im Weiteren die Rechtzeitigkeit des Widerspruchs zugrundezulegen und diesen - nach Vorlage weiterer Dokumente und Nachweise des Klägers über seine Hilfebedürftigkeit im Zeitraum ab Oktober 2022 – erneut zu verbescheiden und über die Leistungsansprüche des Klägers in diesem Zeitraum zu entscheiden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Beklagten.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AS 542/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 AS 3159/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
Saved