Der Bescheid der Beklagten vom 25.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.02.2022 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass Herr H. B. bei den Beklagten zu 1) und der Beklagten zu 2) über den 31.08.2021 hinaus pflichtversichert war.
Die Beklagten werden verpflichtet, den Klägern die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
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Tatbestand
Streitig ist, ob die Versicherung des verstorbenen Herrn H. B. bei den Beklagten zu Recht zum 31.08.2021 beendet worden war.
Der 1950 geborene frühere Kläger Herr H. B., dessen Erben nach seinem Tod am 06.03.2022 die Klage fortgesetzt haben, war ursprünglich bei den Beklagten in der gesetzlichen Kranke- und Pflegeversicherung versichert. Er bezog eine Rente in Deutschland und eine Rente in der Türkei. In Deutschland besaß der Kläger ein Haus in S., in dem er lebte. Auch seine Kinder und Enkelkinder lebten in S.. Am 10.02.2021 reiste Herr B. zusammen mit seiner Ehefrau, der Klägerin zu 3) in die Türkei, wo er eine vollständig ausgestattete Wohnung besaß. Dort erlitt Herr B. am 07.05.2021 eine Thalamusblutung und wurde stationär im Krankenhaus behandelt.
Auf Anfrage der Beklagten wurde von der Familie des Herr B. am 06.10.2021 mitgeteilt, dass sich dieser wegen der Krankheit ungeplant mehr als 183 Tage in der Türkei aufhalten werde. Eine Rückkehr sei aber schnellstmöglich beabsichtigt. Herr B. halte sich für 8-10 Monate in Deutschland und für 2-4 Monate in der Türkei auf. Der Haushalt in Deutschland sei nicht aufgegeben worden.
Auf Veranlassung der Familie wurde Herr B. am 24.10.2021 liegend im Krankentransportwagen aus der Türkei nach Deutschland gebracht, wo er an diesem Tag in der Klinik der Beigeladenen aufgenommen wurde.
Mit Bescheid vom 25.10.2021 teilten die Beklagten Herrn B. mit, dass dieser seinen ständigen Wohnsitz am 09.08.2021 in die Türkei verlegt habe und daher die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung mit dem 31.08.2021 ende. Eine neue Versicherung könne unter Vorlage einer Bescheinigung des Einwohnermeldeamtes, dass der erste Wohnsitz wieder im Inland liege, bei Einreise wieder beantragt werden.
Dagegen wurde mit Schreiben vom 30.11.2021 durch den Bevollmächtigten der Kläger Widerspruch erhoben. Der Wohnsitz sei nicht in die Türkei verlegt worden. Herr B. habe bei seiner Reise in die Türkei nicht den Willen gehabt, dort einen neuen Wohnsitz zu begründen, noch habe er dort nicht nur vorübergehend verweilen wollen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 09.02.2022 wiesen die Beklagten den Widerspruch als unbegründet zurück. Nach dem Ergebnisprotokoll über die Gespräche vom 18.06.2018 bis 22.06.2018 zwischen den Verbindungsstellen der deutschen und der türkischen Krankenversicherung erfolge eine Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts grundsätzlich dann, wenn sich eine Person ununterbrochen für mehr als 183 Tag im jeweils anderen Vertragsstaat des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei aufhalte.
Dagegen richtet sich die Klage vom 24.02.2022. Mit Beschluss vom 05.09.2022 erfolgte die Beiladung des Trägers der Klinik, in der der dann am 06.03.2022 verstorbene Herr B. behandelt worden ist.
Zur Begründung der Klage wird ausgeführt, dass das Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei keine Regelungen über die Voraussetzungen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalt oder deren Verlegung treffe. Auch die Gespräche der Verbindungsstellen hätten dies nicht bindend konkretisiert, da diese bereits keinen zwischenstaatlichen Rechtscharakter hätten und auch nur Regelungen über den Wohnort und nicht über den Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt treffen würden. Daher sei auf § 30 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) abzustellen. Danach werde ein dauernder Auslandsaufenthalt von unter einem Jahr grundsätzlich nicht ausreichen, um einen Wohnsitzwechsel anzunehmen. Herr B. sei nur durch den Hirnschlag und die Krankenhausbehandlung länger in der Türkei verblieben und sei mit Erlangung der Transportfähigkeit sofort nach Deutschland zurückgekehrt. Außerdem seien aus der deutschen Rente aus Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge an die Beklagten abgeführt worden.
Die Kläger beantragen (sachdienlich gefasst),
den Bescheid vom 25.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2022 aufzuheben und festzustellen, dass der frühere Kläger bei der Beklagten in der Krankenversicherung der Rentner und der Pflegeversicherung über den 31.08.2021 hinaus pflichtversichert ist.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten führen zur Begründung aus, aufgrund der Reise in die Türkei am 10.02.2021 habe der Wohnort am 09.08.2021 nach Ablauf von 183 Tagen als verlegt gegolten. Eine Versicherung bei Rückreise nach Deutschland sei nicht möglich gewesen, da auch hierfür erst ein Zeitraum vom 183 Tagen hätte abgewartet werden müssen. Ggf. müssten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, die aus der deutschen Rente abgeführt worden seien, erstattet werden.
Am 12.07.2023 hat mit den Beteiligten ein Termin zur Erörterung des Rechtsstreits stattgefunden. Auf die Niederschrift wird verwiesen.
Die Beklagten haben noch die Kommunikation mit der DVKA des GKV-Spitzenverbandes zum vorliegenden Fall übersandt.
Die Beigeladene hat noch Berichte vom 25.10.2021 und 28.10.2021 über die Behandlung des Herrn B. vorgelegt. Die Beigeladene hält es für fraglich, ob durch die Gespräche der Verbindungsstellen eine allgemein verbindliche Regelung zur Festlegung des gewöhnlichen Aufenthalts hatte getroffen werden können. Die Anwendung dieser Regelung sei auch unverhältnismäßig, wenn die Rückkehr an den Wohnort durch eine plötzliche schwere Erkrankung gar nicht möglich sei.
Das Gericht hat noch das Ergebnisprotokoll über die Gespräche zwischen der deutschen Verbindungsstelle und der Verbindungsstelle der Republik Türkei vom 18. bis 22. Juni 2018 in Bonn bei der DVKA angefordert.
Die Beteiligten haben sich mit Schreiben vom 19.01.2024, 14.03.2024 und 15.03.2024 mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Akte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, vgl. § 124 Abs. 2 SGG.
Das Gericht legt das Begehren der Kläger insoweit aus, als dass die Feststellung der Versicherungspflicht des früheren Klägers über den 31.08.2021 hinaus bis zu dessen Tod streitig war.
Die dahingehend ausgelegte Klage ist zulässig, insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 54 Abs. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 SGG statthaft und form- und fristgerecht (vgl. §§ 87, 92 SGG) erhoben worden. Die Kläger sind auch nach § 1922 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) als Erben legitimiert, die Klage fortzuführen. In der Sache ist die Klage auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 25.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2022 ist rechtswidrig und verletze den früheren Kläger in seinen Rechten. Die Versicherungen des Herr B. in der Kranken- und Pflegeversicherung durfte durch die Beklagten nicht mit dem 31.08.2021 beendet werden, vielmehr setzten sich die Versicherungen über diesen Zeitpunkt hinaus bis zu dessen Tod fort. Dies war mit dem Urteil daher festzustellen.
Herr B. war nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) als Rentner in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Nach § 20 Abs. 1 Nr. 11 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) bestand damit auch eine Pflichtversicherung in der sozialen Pflegeversicherung.
Ein Beendigungstatbestand nach § 190 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) lag beim früheren Kläger mit Ablauf des 31.08.2021 nicht vor.
Das Gericht geht auch davon aus, dass Herr B. auch über den 31.08.2021 hinaus dem Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches unterfiel.
Nach § 30 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) gilt:
- Die Vorschriften dieses Gesetzbuchs gelten für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben.
- Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben unberührt.
- Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.
Darüber hinaus regelt § 4 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV):
Die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung gelten,
- soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit voraussetzen, für alle Personen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs beschäftigt oder selbständig tätig sind,
- soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit nicht voraussetzen, für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs haben.
Vorliegend sind weiterhin die Regelungen des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30.04.1964 in der Fassung vom 02.11.1984 zu berücksichtigen. Darin wird insbesondere folgendes geregelt:
Art. 14 Abs. 3: Auf eine Person, die nach den Rechtsvorschriften beider Vertragsparteien Rente bezieht oder beantragt hat, sind bei gewöhnlichem Aufenthalt im Gebiet einer
Vertragspartei deren Rechtsvorschriften über Krankenversicherung anzuwenden. Bei
vorübergehendem Aufenthalt dieser Person im Gebiet der anderen Vertragspartei gilt
Artikel 12 entsprechend.
Art. 14 Abs. 6: Verlegt eine in Absatz 3 genannte Person den gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der einen Vertragspartei in das Gebiet der anderen Vertragspartei, so werden die Rechtsvorschriften über die Krankenversicherung der ersten Vertragspartei bis zum Ende des Monats der Verlegung angewandt.
Nach dem zuletzt von der DVKA vorgelegten Ergebnisprotokoll der Gespräche zwischen den beiden Vertragsstaaten im Juni 2018 soll der Wohnort / gewöhnliche Aufenthalt als verlegt gelten, wenn eine Person sich 183 Tage ohne Unterbrechung in der Türkei aufgehalten habe.
Im Hinblick auf diese Regelungen ist das Gericht zu dem Ergebnis gekommen, dass über den 31.08.2021 hinaus weiterhin davon auszugehen war, dass Herr B. dem Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches unterfiel. Zwar ist aufgrund des Abkommens zwischen Deutschland und der Türkei § 30 Abs. 1 SGB I nicht anwendbar. Jedoch ergibt sich auch aus dem Abkommen nicht, dass der Geltungsbereich des SGB geendet hätte. Nach Art. 14 Abs. 3 des Abkommens ist für die Frage des Geltungsbereiches bei Doppelrentnern auf den gewöhnlichen Aufenthalt im Unterschied zum vorübergehenden Aufenthalt abzustellen. Die von den Beteiligten verhandelte 183-Tage Regelung findet sich im Abkommen selbst nicht, dient jedoch als Auslegungshilfe, da auch im Abkommen nicht geregelt ist, wann ein gewöhnlicher Aufenthalt oder nur ein vorübergehender Aufenthalt vorliegt. Zwar ist nachvollziehbar, dass zwischen den Parteien des Abkommens eine Regelung mit einem zeitlichen Ablauf von 183 Tagen getroffen wurde, um bei längeren Aufenthalten einen Zuständigkeitswechsel herbeizuführen, um ein aufwändiges Kostenerstattungsverfahren (vgl. Art. 17 des Abkommens) über einen langen Zeitraum zu vermeiden. Ein Ablauf von 183 Tagen kann jedoch nach Ansicht des Gerichts nicht in jedem Fall automatisch zu einem Zuständigkeitswechsel führen. Dies ergibt sich aus dem Abkommen nicht. Die Vertragsparteien haben darüber hinaus auch Umstände definiert, die vor einem Ablauf von 183 Tagen auf die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts hindeuten sollen. Insoweit ist anzunehmen, dass auch nach Ablauf von 183 Tagen konkrete Umstände der Annahme der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts entgegenstehen können. Das Gericht geht davon aus, dass ein dauerhafter Aufenthalt nur dann nach 183 Tagen als verlegt gelten kann, wenn eine Rückkehr nicht durch unvorhergesehene und nicht zu beeinflussende äußere Umstände verhindert wird und an einem anderen Ort noch ein Lebensmittelpunkt besteht. Zwar dürften der Wille des Einzelnen, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, und die Freiwilligkeit des Aufenthalts wohl keine zwingenden Voraussetzungen darstellen, um einen dauerhaften Aufenthalt anzunehmen. Die Absichten des Einzelnen dürften jedoch bei Grenzfragen Berücksichtigung finden können. Der frühere Kläger konnte über einen längeren Aufenthalt nicht selbst entscheiden. Dies ergibt sich aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass Herr B. im Februar 2021 nur für einen vorübergehenden Aufenthalt in die Türkei gereist ist. Er hatte dort zwar eine voll ausgestattete Wohnung, jedoch lag sein Lebensmittelpunkt weiterhin in Deutschland. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass seine Kinder und Enkel in Deutschland lebten und er sich nach den glaubhaften Angaben des Klägers zu 1) auch in der Vergangenheit jeweils nur wenige Monate im Jahr in der Türkei aufgehalten hat. Das Gericht hat auch keine Anhaltspunkte dahingehend, dass der frühere Kläger im Laufe seines Aufenthalts in der Türkei den Entschluss gefasst hatte, erheblich länger oder dauerhaft in der Türkei zu bleiben. Vielmehr verlängerte sich der Aufenthalt des früheren Klägers auf über 183 Tage wegen einer akuten und sehr schweren Erkrankung, die es dem früheren Kläger unmöglich machte, eine eigene Entscheidung über die Rückkehr nach Deutschland zu treffen. Dass er auf Veranlassung seiner Familie nicht früher nach Deutschland verbracht wurde, kann hier nicht relevant sein.
Nach alledem war der Klage daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung ergeht gem. § 193 SGG. Eine Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen war nicht zu treffen, da diese keinen Antrag gestellt hatte und am Verfahren nur untergeordnet mitgewirkt hat.