S 2 KR 2319/19

Sozialgericht
SG Konstanz (BWB)
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 2 KR 2319/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
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3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
 

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 01.10.2019 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2019 verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Sig­nalanlage in Höhe von 1.247,70 € zu erstatten.

 

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

 

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

 

Der Kläger begehrt die Kostenerstattung für eine Signalanlage.

 

Der 1940 geborene Kläger leidet an einer beidseitigen Schwerhörigkeit. Mit Attest vom 25.02.2019 bestätigte Dr. P., HNO-Ärztin in R., dass der Kläger unter einer beidsei­tigen Hochtonschwerhörigkeit leide und aus diesem Grund für seine Wohnung eine so genannte Blitzanlage für das Telefon, die Haustür, das Schlafzimmer sowie für 3 Rauchwarnmelder benö­tige. Für alle Geräte benötige er die dazugehörigen Sender sowie 2 Empfänger. Am 02.04.2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Versorgung mit einer Lichtsignalanlage laut Kosten­voranschlag im Umfang von 1.495,10 €. Das Set sollte bestehen aus: Empfänger S, Signolux Set 2 (Empfänger, Ruftaste), Gateway, Universalsender (akustisch), Universalsender (direkt), Tele­fonkabel, Funkrauchmeldeset 3 (3 Rauchmelder, 1 Emfängerwecker, 1 Vibrationskissen), 3 Netz­teile.

 

Mit Bescheid vom 03.04.2019 lehnte die Beklagte die Versorgung ab. Nach deren Unterlagen würde keine Taubheit bzw. an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorliegen.

 

Am 01.10.2019 legte der Kläger einen erneuten Kostenvoranschlag über eine Signalanlage vom 11.07.2019 sowie eine Verordnung vom 02.07.2019 für eine Blitzanlage für Telefon, Haustüre und Schlafzimmer, 3 Rauchmelde, dazugehörige Sender sowie 2 Empfänger bei beidseitiger Hochtonschwerhörigkeit vor. Der Kostenvoranschlag im selben wie zuvor eingereichten Umfang belief sich auf 1.274,10 €.

 

Mit Bescheid vom 01.10.2019 lehnte die Beklagte die Versorgung erneut unter Verweis auf eine fehlende hochgradige Hörbehinderung ab.

 

Dagegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 23.10.2019 Widerspruch. Da er nachts Hörgeräte nicht trage, würde er weder den Alarm eines Feuermelders noch das Telefon oder die Hausklingel hören. Im Brandfall bestünde Lebensgefahr. Beim Fernsehen oder Radiohören müsse er Kopfhörer tragen, so dass er Außengeräusche wie auch Rauchmelder, Telefon oder Türklingel nicht hören könne.

 

Mit Widerspruchbescheid vom 19.11.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Beim Klä­ger stehe keine Taubheit und an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit. Somit gehöre der Kläger nicht zum berechtigten Personenkreis für das gewünschte Hilfsmittel.

 

Dagegen richtet sich die Klage vom 06.12.2019. Zu Begründung wird ausgeführt, dass beim Klä­ger eine starke Hörminderung bestehe, welche insbesondere hohe Frequenzen betreffen würde. Der Kläger höre die Türklingel und das Telefon nur, wenn er im selben Raum sei, sofern er keine Hörgeräte trage. Auch Feuermelder höre er im Schlaf nicht. Fernsehen könne er nur, wenn der geschlossene Kopfhörer tragen. Dann könne er aber die Türklingel und das Telefon nicht mehr wahrnehmen.

 

Klägerseitig ist noch die Rechnung über die Anlage vom 18.02.2020 in Höhe von 1.247,70 €vor­gelegt worden. Außerdem ist ein Attest vom 15.07.2021 vorgelegt worden, wonach beim Kläger linksseitig eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit und rechts eine hochgradige Schwerhö­rigkeit bestehe.

 

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

 

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 01.10.2019 in der Form des Wider­spruchsbescheids vom 19.11.2019 zu verurteilen, ihm die Kosten für die Signalanlage in Höhe von 1.247,70 € zu erstatten.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Ein Anspruch auf Versorgung mit einer Signalanlage zulasten der gesetzlichen Krankenversiche­rung bestehe bei Taubheit, an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit und Taubheit mit zusätzlicher Blindheit. Dies sei beim Kläger bisher nicht nachgewiesen. Eine Türklingel und das Telefon könn­ten bei Benutzung von Hörgeräten zuverlässig wahrgenommen werden. Brandmelder können noch bei hochgradiger Schwerhörigkeit wahrgenommen werden.

 

Dr. K., HNO-Arzt in R., hat auf Anfrage des Gerichts schriftlich mitgeteilt, dass der Kläger nach seinen Angaben nicht in der Lage sei, ohne Hörgeräte die Haustürklingel und ein Telefonklingeln zu hören. In der Nacht oder abends würden die Hörgeräte abgelegt.

 

Am 28.04.2021 hat ein Termin zur Erörterung des Rechtsstreits stattgefunden. Auf die Nieder­schrift wird verwiesen.

 

Mit Schreiben vom 27.10.2021 bzw. 02.11.2021 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Akte der Beklagten Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Das Gericht konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

 

Die Klage ist zulässig, insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und form- und fristgerecht (vgl. §§ 87, 92 SGG) erho­ben worden. In der Sache ist die Klage auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 01.10.2019 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten für die beschaffte Signalanlage.

 

Anspruchsgrundlage für die Kostenerstattung ist § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V hat die Krankenkasse dem Versicherten Kosten einer selbstbe­schafften Leistung zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leis­tung entweder nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit die Leistung notwendig war.

 

Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch ist jeweils, dass ein Anspruch auf Gewährung der Behandlung im Rahmen des Sachleistungsprinzips (Primäranspruch) bestanden hätte (vgl. Helbig in: jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 13 SGB V, Rn. 52; ständige Rechtsprechung des Bundes­sozialgerichts (BSG), Urteil v. 18.07.2006 - B 1 KR 24/05 R).

 

Vorliegend kommt nur die Alternative der rechtswidrigen Ablehnung der Leistung als Sachleis­tung in Betracht. Eine unaufschiebbare Leistung im Sinne dieser Regelung liegt nur vor, wenn sie im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Durchführung so dringlich war, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs mehr bestand (vgl. Helbig in: Schle­gel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 13 SGB V, Rn. 59 ff.). Dies ist vorliegend nicht gegeben.

 

Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch ist grundsätzlich in beiden Alternativen je­weils, dass der Versicherte vor der Selbstbeschaffung der Leistung mit seiner Krankenkasse Kon­takt aufgenommen hat und die Entscheidung der Krankenkasse abgewartet wird (vgl. Helbig, in: jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 13 SGB V, Rn 74). Nach der aus dem Wortlaut des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V ("dadurch") und aus Sinn und Zweck der Vorschrift entwickelten ständigen Rechtspre­chung des BSG ist der Beschaffungsweg nicht eingehalten, wenn der Versicherte entweder (1.) die Leistung in Anspruch nimmt oder (2.) von vornherein auf die (später) in Anspruch genommene Leistung rechtlich bindend festgelegt war, bevor er sich mit der Krankenkasse ins Benehmen ge­setzt und diese entschieden hat (vgl. BSG, Urteil v. 17.01.2009 - B 3 KR 20/08 R). Denn die Krankenkasse muss die Möglichkeit der Ermittlung des Sachverhalts sowie der Prüfung der Sach- und Rechtslage erhalten und durch die für sie vorgesehene Entscheidungsform des Verwaltungs­akts abschließen können. Dieser Beschaffungsweg ist vorliegend eingehalten worden. Der Kläger hat einen Kostenvoranschlag zur Prüfung bei der Beklagten eingereicht und sich die Anlage erst nach Ablehnung und Durchführung des Widerspruchsverfahrens selbst beschafft (vgl. Rechnung vom 18.02.2022).

 

Nach Ansicht des Gerichts hat die Beklagte die Versorgung des Klägers zu Unrecht abgelehnt. Es hätte ein Primäranspruch bestanden. Nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte einen An­spruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinde­rung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des tägli­chen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Der Anspruch umfasst gemäß § 33 Abs. 1 S. 3 SGB V auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaf­fung von Hilfsmitteln, sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch. Der Anspruch auf Versorgung besteht jedoch nur, soweit das begehrte Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenversicherung gem. § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligen (BSG, Urteil v. 24.05.2006 - B 3 KR 12/05 R).

 

Insbesondere die Rauchwarnmelder, aber auch die übrigen Teile des vom Kläger angeschafften Sets stellen grundsätzlich Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung dar, da diese bei einem Wohnungswechsel mitgenommen werden können. Diese sind auch nicht als Gegen­stände des täglichen Lebens von der Versorgung ausgeschlossen (vgl. BSG, Urteil v. 18.06.2014 – B 3 KR 8/13 R).

 

Die Signalanlage und die Rauchwarnmelder sind vorliegend im Rahmen des mittelbaren Behin­derungsausgleichs nach § 33 SGB V durch die Beklagte zu leisten gewesen. Dabei haben Hilfs­mittel den Zweck, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. In diesem Bereich der Hilfsmittelversorgung ist die gesetzliche Krankenversicherung allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht dabei nicht um einen Aus­gleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunk­tionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der gesetzlichen Krankenversicherung daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach stän­diger Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die ele­mentare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körper­lichen und geistigen Freiraums (vgl. BSG, Urteil v. 29.04.2010 – B 3 KR 5/09 R m.w.N.).

 

Die Signalanlage ist zur Verwirklichung eines solchen Grundbedürfnisses erforderlich. Das selbst­ständige Wohnen sowie das Kommunizieren mit anderen Menschen gehört zu diesen Grundbe­dürfnissen. Es geht um die passive Erreichbarkeit durch Menschen aus dem Bereich der Außenwelt nicht nur für angemeldete, sondern gerade auch für spontane Besuche. Die Verwirklichung dieses Grundbedürfnisses erfordert, dass das für Gesunde hörbare Türklingelgeräusch oder Telefonklin­geln in ein für den Kläger wahrnehmbares Signal (Licht oder ggf. Vibration) umgewandelt wird. Darüber hinaus ist ein selbstständiges Wohnen unter zumutbaren Bedingungen nach allgemeiner Verkehrsauffassung auch nur dann möglich, wenn die Signale der in der Wohnung befindlichen Rauchwarnmelder auch von den Bewohnern wahrnehmbar sind. Für Gehörlose oder erheblich hörbeeinträchtigte Menschen, deren Hörvermögen nicht unmittelbar durch entsprechende Hilfs­mittel verbessert werden kann, reichen akustische Signale daher nicht aus. Das gilt unabhängig davon, ob der Versicherte allein oder gemeinsam mit nicht hörbehinderten Menschen in einer Wohnung lebt, denn das Bedürfnis nach selbstständigem Wohnen beinhaltet das Recht, sich un­abhängig von anderen Personen auch allein in der Wohnung aufhalten zu können, jedenfalls soweit dies mit Rücksicht auf die Behinderung möglich ist. Für Gehörlose kann die Wahrnehmbarkeit der Rauchwarnmelder über Lichtsignale ggf. in Kombination mit anderen Warnsignalen, wie bei­spielsweise Vibrationskissen, sichergestellt werden.

 

Das Gericht geht davon aus, dass die Versorgung des Klägers mit dem gewählten Hilfsmittel des­halb erforderlich ist, weil dieser nach seinen nachvollziehbaren und auch über Dr. K.  mitge­teilten Angaben nicht in der Lage ist, auch mit Hörgeräten tagsüber das Klingeln der Tür und des Telefons ständig und bei Aufenthalt in allen Räumen seines Hauses und insbesondere auch nicht nachts ohne die Hörgeräte wahrzunehmen. Besonders auch nachts besteht ein Bedürfnis, von Rauchwarnmeldern, Türklingeln oder Telefon geweckt zu werden, wenn diese ohne die Hörgeräte aber nicht gehört werden können. Nach Ansicht des Gerichts besteht entgegen der Auffassung der Beklagten keine Limitierung des Versorgungsanspruchs auf gehörlose Menschen oder Menschen mit Taubheit grenzender Schwerhörigkeit. Dies lässt sich der Rechtsprechung des BSG nicht ent­nehmen. Der Umstand, dass das BSG solche Signalanlagen bisher lediglich gehörlosen Personen oder solchen mit an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit dem Grunde nach zugesprochen hat, lässt nicht den Schluss zu, dass bei leichtgradigerem aber erheblichem Hörverlust ein solcher An­spruch ausgeschlossen ist. Vielmehr ist jeweils zu prüfen, ob die Versorgung zur Erfüllung des oben dargestellten Grundbedürfnisses erforderlich ist. Dies ist vorliegend der Fall.

 

Dass eine günstigere Versorgung möglich gewesen wäre, ist nicht ersichtlich. Die Beklagte hat hierzu nichts weiter ausgeführt.  

 

Die Beklagte war daher zur Kostenerstattung zu verpflichten.

 

Die Kostenentscheidung ergeht gem. § 193 SGG.

 

 

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