Auf die Berufung der Beklagten werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 22.12.2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Klägers sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1980 geborene Kläger, der eine Ausbildung zum Teilezurichter absolviert hat, war zuletzt bis Ende 2016 in der Qualitätssicherung tätig. Im Anschluss bezog er Krankengeld bzw. ab September 2019 Arbeitslosengeld. Seit 04.12.2020 weist sein Versicherungskonto keine Einträge mehr auf (vgl. Versicherungsverlauf Bl. 61 Senatsakte). Der Kläger verfügt über einen Pkw.
Im Zeitraum vom 02.11.2017 bis 13.12.2017 absolvierte der Kläger eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der U1-Klinik in G1, aus der er mit einem Leistungsvermögen von sechs und mehr Stunden sowohl in seiner letzten Tätigkeit als Mitarbeiter in der Qualitätssicherung als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt - bei Beachtung näher aufgeführter qualitativer Einschränkungen - entlassen wurde.
Am 08.04.2019 beantragte er wegen psychischer Beeinträchtigungen und schwerer Depressionen die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, die die Beklagte - nach Einholung mehrerer ärztlicher Befundberichte sowie Arztbriefe - mit Bescheid vom 12.09.2019 ablehnte. Bei dem Kläger bestünde eine phobische Störung, die sich daraus ergebenden Einschränkungen führten aber nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und begründete diesen vornehmlich mit seiner Angst vor Menschen, er fühle sich in der Öffentlichkeit beobachtet, könne in Gegenwart von Menschen nichts essen oder trinken und habe deshalb - mit wenigen Ausnahmen - keinerlei Kontakte mehr zu Menschen. Die Beklagte holte daraufhin ein Gutachten beim H1 ein. Dieser untersuchte und begutachtete den Kläger am 19.12.2019 und stellte in seinem Gutachten vom 19.12.2019 folgende Diagnosen: Hinweise auf rezidivierende Anpassungsstörungen, differentialdiagnostisch käme eine Dysthymie in Betracht, zum Untersuchungszeitpunkt bestehe keine mittelgradige und keine schwergradige depressive Symptomatik; die Angabe verschiedener Angsterkrankungen; die Angabe von phobischem Schwankschwindel; Hinweis auf eine Persönlichkeitsvariante mit misstrauischen, kränkbaren und streitbaren Anteilen und keine fokalneurologischen Defizite mit Relevanz für das Leistungsvermögen.
Der Kläger sei aus neurologisch-psychiatrischer Sicht leistungsfähig als Arbeiter in der Qualitätssicherung sowie für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Umfang von sechs Stunden und mehr. Er könne 5 x 500 m zu Fuß in angemessener Zeit zurücklegen, öffentliche Verkehrsmittel und auch einen Pkw benutzen.
Unter Zugrundelegung dieses Gutachtens wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.2020 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 30.03.2020 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und auf zahlreiche ärztliche Berichte verwiesen, denen sich die Schwere seiner psychischen Erkrankung entnehmen lasse. Auch hat er ein Gutachten des L1 aus Juni 2020 vorgelegt, das dieser im Verfahren gegen die private Berufsunfähigkeitsversicherung verfasst hatte. L1 stellt darin folgende Diagnosen: rezidivierend depressive Störung, aktuell mittelschwer bis schwer ausgeprägt, Angst, Panik und Zwang, schmerzhaftes Wirbelsäulensyndrom der Brustwirbelsäule. Er könne seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Mitarbeiter in der Qualitätssicherung nicht mehr ausüben. Es bestehe durch die depressive Störung auch eine quantitative Beeinträchtigung der allgemeinen Leistungsfähigkeit.
Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt. S1 hat in seiner Stellungnahme vom 30.07.2020 dargelegt, den Kläger nur wenige Male behandelt zu haben und deshalb zur Erwerbsfähigkeit keine verwertbaren Angaben machen zu können. Es sei die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung gestellt worden mit mittelschwerer Ausprägung während der Zeit der Betreuung. Zusätzlich habe der Kläger noch eine Panikstörung sowie eine generelle Angststörung. In seinem Bericht vom 07.08.2020 hat der behandelnde N1 ausgeführt, es bestünden erhebliche Beeinträchtigungen in der Alltagsbewältigung und deutliche, ausgesprochen umfangreiche und massive Funktionseinschränkungen.
Im Anschluss hat das SG den H2 mit der Erstellung eines nervenärztlichen Gutachtens betraut. Dieser hat den Kläger am 02.04.2021 ambulant untersucht und begutachtet und in seinem Gutachten vom 04.04.2021 folgende Diagnosen gestellt: depressive Erkrankung, aktuell eine mittelgradige depressive Episode im Grenzbereich zu einer leichten depressiven Episode. Die Kriterien für das Vorliegen einer schweren depressiven Episode würden definitiv nicht erfüllt. Ein phasenhafter Krankheitsverlauf im Sinne einer rezidivierenden depressiven Störung ließe sich nicht herausarbeiten. Des Weiteren würden die Kriterien für das Vorliegen einer Agoraphobie mit Panikstörung erfüllt. Es seien auch Symptome beklagt worden, die zu einer sozialen Phobie passen würden, insgesamt stehe die Agoraphobie mit Panikstörung jedoch im Vordergrund. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Zwangsstörung ergäben sich nicht. Es ließen sich auch keine eindeutigen anankastischen Persönlichkeitszüge nachweisen. Unabhängig davon ergäben sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung von Krankheitswert, für das Vorliegen einer bipolaren affektiven Störung, einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Erkrankung aus dem Spektrum der somatoformen Störungen, einer wahnhaften Störung oder einer psychotischen Erkrankung. Auch kognitive Leistungseinschränkungen hätten sich nicht gezeigt, die Auffassung, die Konzentration, das Durchhaltevermögen und das Gedächtnis seien ungestört. Unter Berücksichtigung der qualitativen Leistungseinschränkungen sei der Kläger noch in der Lage, sowohl in seinem zuletzt ausgeübten Beruf wie auch in einer leichten körperlichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ca. sechs Stunden täglich tätig zu sein. Eine Überforderung durch Akkordarbeit, Nachtarbeit oder durch Arbeiten unter besonderem Zeitdruck müsse vermieden werden. Dies gelte gleichermaßen für besonders hohe Ansprüche an Auffassung und Konzentration sowie eine besonders hohe Verantwortung und eine besonders hohe geistige Beanspruchung. Der Kläger sei in der Lage, täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 m zu Fuß zurückzulegen. Er könne auch zu Fuß 500 m in weniger als 20 Minuten zurücklegen. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei dem Kläger derzeit aufgrund der Panikstörung nicht zuzumuten. Insoweit sei grundsätzlich sinnvoll, das Vermeidungsverhalten zu durchbrechen.
Weiterhin hat das SG auf Antrag des Klägers gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den R1 als Gutachter betraut. Dieser hat in seinem Gutachten vom 15.04.2022 folgende Diagnosen gestellt: Agoraphobie mit Panikstörung, depressive Anpassungsstörung sowie ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung. Ohne Gefährdung seiner Gesundheit könne der Kläger aufgrund seiner therapieresistenten psychischen Erkrankung weniger als drei Stunden täglich regelmäßig in seinem zuletzt ausgeübten Beruf sowie auch in einer leichten körperlichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Öffentliche Verkehrsmittel könnten nicht benutzt werden, auch wenn grundsätzlich die Fuß-Wegefähigkeit nicht stärker beeinträchtigt sei.
Sowohl H2 als auch R1 haben auf Veranlassung des SG noch ergänzende Stellungnahmen vorgelegt (H2 am 14.07.2022, R1 am 02.09.20229) und jeweils an ihrer vorherigen Einschätzung festgehalten.
Mit Gerichtsbescheid vom 22.12.2022 hat das SG der Klage zum Großteil stattgegeben und die Beklagte zur Gewährung einer Zeitrente verurteilt. Der Kläger habe aufgrund seiner aufgehobenen Wegefähigkeit einen Anspruch auf die Gewährung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Kläger sei zwar dazu in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Gefährdung seiner Gesundheit mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Dies stehe zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund der vorliegenden Befunde sowie der schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des H2 in dem von Amts wegen eingeholten Gutachten. Allerdings sei er nicht mehr in der Lage, zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Das derzeitige Unvermögen der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeit werde auch durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen H2 bestätigt. Demnach sei der Arbeitsmarkt für den Kläger infolge seiner nicht vorliegenden Wegefähigkeit derzeit verschlossen. Gem. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sei ihm daher eine Zeitrente zu gewähren, da die Behebung der Erwerbsminderung nicht unwahrscheinlich sei.
Gegen den ihr am 30.12.2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 11.01.2023 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Die Vorinstanz übersehe, dass bei Versicherten, die gesundheitlich nicht mehr in der Lage seien, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, die volle Erwerbsminderung wegen rentenrechtlicher Wegeunfähigkeit zusätzlich voraussetze, dass der Versicherte diese gesundheitlichen Defizite nicht in einer ihm zumutbaren Weise kompensieren könne. Insofern seien bei der Beurteilung seiner Mobilität - im Sinne eines konkret-individuellen Maßstabs - alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden und gesundheitlich nutzbaren Hilfsmittel und Beförderungsmöglichkeiten (z.B. auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kfz) zu berücksichtigen. Der Kläger verfüge über ein Kfz und sei auch in der Lage, dieses zu fahren. Im Übrigen sei die Diagnose einer Agoraphobie mit Panikstörung bislang nur anhand der subjektiven Angaben des Klägers festgestellt worden.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 22.12.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise, S1 den klägerischen Schriftsatz vom 17.06.2024 zur erneuten Stellungnahme zu übersenden.
Er hat auf das Gutachten des R1 sowie auf die Begründung im Gerichtsbescheid verwiesen.
Die Berichterstatterin hat zunächst einen Erörterungstermin anberaumt und den Kläger zu seinem Gesundheitszustand befragt. Im Anschluss ist S1, in W1, mit der Erstellung eines Gutachtens betraut worden. Nach ambulanter Untersuchung des Klägers hat S1 in seinem Gutachten vom 25.01.2024 eine leichte depressive Episode, Agoraphobie mit Panikstörung sowie eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Grundsätzlich könnten noch zumutbare Arbeiten - bei Berücksichtigung näher aufgeführter qualitativer Einschränkungen - vollschichtig, d.h. auch mindestens sechs Stunden werktäglich verrichtet werden. Hier ergäben sich keine Hinweise auf Störungen basaler Motivations- und Antifunktionen, wie sie sich etwa in primär gemindertem Antrieb oder pathologisch erhöhter Ermüdbarkeit hätten zeigen können. Auf Nachfrage der Berichterstatterin hat S1 ergänzt, der Kläger sei dazu in der Lage, bei zumutbarer Willensanstrengung mit dem Pkw übliche Strecken vom Wohnort zum Arbeitsplatz zurückzulegen (ergänzende Stellungnahme vom 22.05.2024).
Der Kläger hat hierzu vorgetragen, sein Auto sei nicht mehr nutzbar, da Bremsen und Lenkstange sowie Reifen ersetzt werden müssten und ihm hierzu das Geld fehle. Längere Autobahnfahrten seien nur in der Vergangenheit noch möglich gewesen. Zum Gerichtstermin in Stuttgart und auch zu dem Sachverständigen S1 sei der Kläger nicht selbst gefahren. Zuletzt hat der Kläger noch dargelegt (Schriftsatz vom 17.06.2024), krankheitsbedingt den Kontakt zu jedweden Einzelpersonen zu meiden. Er könne keine Toiletten außerhalb der Wohnung nutzen und auch nicht essen und trinken. Die ergänzende Stellungnahme des S1 widerspreche seinem vorangegangenen Gutachten, worin er die Erwerbsminderung sowie die fehlende Wegefähigkeit seit November 2020 als gegeben angesehen habe.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Akten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist begründet, da das SG diese zu Unrecht zur Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung verurteilt hat. Der Bescheid der Beklagten vom 12.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.03.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, so dass seine hiergegen gerichtete Anfechtungs- und Leistungsklage abzuweisen war.
Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 SGB VI in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl. I, 554). Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3).
Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt.
Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss hierbei im Wege des sog. Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann, d.h. das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können; es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel mehr bestehen. Von dem Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (Bundessozialgericht [BSG] 14.12.2006, B 4 R 29/06 R; Bayerisches LSG 26.07.2006, L 16 R 100/02; beide in juris; vgl. auch BSG 20.12.2023, B 5 R 81/23 B, juris Rn. 9). Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (vgl. BSG 23.10.1996, 4 RA 1/96, Juris).
Der Senat stellt nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung fest (§ 128 Abs. 1 SGG), dass eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß bei dem Kläger nicht nachgewiesen ist.
Der Schwerpunkt seiner Erkrankungen liegt auf nervenärztlichem Fachgebiet. Hier leidet er derzeit an einer leichten depressiven Episode, Agoraphobie mit Panikstörung sowie einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des S1. Diese Erkrankungen bedingen - und auch hier folgt der Senat den überzeugenden Ausführungen des Gutachters S1 - qualitative Leistungseinschränkungen. Die auf psychiatrisch-psychotherapeutischem Fachgebiet zu diagnostizierende leichte depressive Episode (ICD-10: F32.0) sowie die Agoraphobie mit Panikstörung (ICD-10: F40.01) führen zu einer Minderung der Fähigkeit zur Bewältigung psychovegetativer Belastungen, so dass Tätigkeiten, die mit einer erhöhten psychovegetativen Stressbelastung einhergehen - zum Beispiel durch erhöhten Zeitdruck (z.B. Akkordarbeit) oder durch unphysiologische psychovegetative Belastungen (z.B. Nachtarbeit) - aktuell nicht in Frage kommen. Auch Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte oder Tätigkeiten mit anhaltend hohen Anforderungen an die Daueraufmerksamkeit (etwa Kontrollaufgaben mit der Notwendigkeit sofortiger Reaktion in definierten Fallkonstellationen) sind aufgrund der damit verbundenen psychovegetativen Daueranspannung aus gesundheitlichen Gründen auszuschließen. Eine Überforderung in diesem Bereich würde mit dem Risiko einer Verstärkung der depressiven Symptomatik, gegebenenfalls mit der Ausbildung einer gravierenderen depressiven Episode, einhergehen. Bedingt durch das Zusammenwirken von depressiver Störung, spezifischer Angststörung und ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.6) sind die sozialen Kompetenzen reduziert. Vor diesem Hintergrund sind Tätigkeiten mit erhöhtem Konfliktpotenzial (z.B. unmittelbar Kundenkontakt, Arbeiten in eng kooperierenden Gruppen) sowie Tätigkeiten, die die Fähigkeit voraussetzen, sich auf spezifische Bedürfnisse Dritter einzustellen und das eigene Verhalten darauf auszurichten (unmittelbar Publikumskontakt, pflegende/beratende Tätigkeiten) nicht mehr leidensgerecht. Solche zumutbaren Arbeiten - am ehesten auf einem Einzelarbeitsplatz - können vollschichtig verrichtet werden. Hier ergaben sich laut. S1 keine Hinweise auf Störungen basaler Motivations- und Antifunktionen, wie sie sich etwa in primär gemindertem Antrieb oder pathologisch erhöhter Ermüdbarkeit hätten zeigen können. Dieses Ergebnis entspricht im Wesentlichen auch dem des H1 im Gutachten vom 19.12.2019, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet, und dem des H2 vom 04.04.2021. Dabei geht der Senat - in Übereinstimmung mit H1, H2 und S1 - davon aus, dass die beim Kläger bestehende Agoraphobie mit Panikstörung und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung nicht so weit reichen, dass der Kläger seine Wohnung zum Aufsuchen einer beruflichen Tätigkeit nicht mehr verlassen kann. Zwar lebt der Kläger weitgehend sozial zurückgezogen und verlässt im Grunde nicht mehr das Haus. Dieser Zustand hat sich in den letzten Jahren - ausweislich des Gutachtens S1 - sogar verschlimmert. Jedoch hat S1 hier auf explizite Nachfrage in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 22.05.2024 überzeugend dargelegt, der Kläger habe, solange er noch in ärztlicher Behandlung gewesen sei, selbstständig mit dem Pkw zum Arzt fahren können. Er sei auch in der Lage gewesen, die erhebliche Pkw-Fahrstrecke zu dem Gutachter R2 im eigenen Pkw zurückzulegen. Der Kläger habe hierzu bemerkt, dies „sei seine Pflicht gewesen“. Sofern der Kontakt zu Dritten für den Kläger berechenbar sei, seien ihm auch das selbstständige Verlassen der Wohnung, die Fortbewegung mit dem Pkw und definierte Tätigkeiten möglich. So traue sich der Kläger hier durchaus zu, zukünftig wieder selbst zur Apotheke und zum Arzt zu fahren. Wie S1 abschließend für den Senat nachvollziehbar gefolgert hat, ist der Kläger vor diesem Hintergrund dazu in der Lage, tatsächlich seine Wohnung zu verlassen und einen Arbeitsplatz aufzusuchen, solange hier den oben angeführten qualitativen Anforderungen Rechnung getragen wird. Dass der Kläger außerhalb der Wohnung nicht essen, trinken oder eine Toilette aufsuchen kann, hat S1 nicht bestätigt.
Soweit hier der im Rahmen des die private Berufsunfähigkeitsversicherung betreffenden Zivilverfahrens mit der Erstellung eines Gutachtens betraute L1 und auch der nach § 109 SGG tätig gewordene R1 zu gegenteiligen Leistungseinschätzungen kommen, überzeugen diese den Senat nicht. L1 hat in seinem Gutachten aus Juni 2020 eine aktuell mittelschwer bis schwer ausgeprägte rezidivierende depressive Störung diagnostiziert, ohne indes diese Einschätzung hinreichend zu begründen. Vielmehr fehlen jegliche Angaben zu Vigilanz, Bewusstsein, Orientierung, kognitiven Funktionen (Auffassungsvermögen, Aufmerksamkeit, Konzentrationsvermögen, mnestische Funktionen mit Merkfähigkeit und Gedächtnisstörungen), Antrieb, Ich-Störungen und Suizidalität. Insofern fußt die Beurteilung durch L1 hauptsächlich auf der Selbstbeurteilung des Klägers. Die Aussagekraft von Selbstbeurteilungsverfahren ist indes gering und kann keine Diagnose begründen, wie S1 für den Senat schlüssig und überzeugend ausgeführt hat. Auch im Gutachten des R1 fehlt es an der Beurteilung wesentlicher psychopathologischer Kategorien (wie Zwänge, Ich-Störungen, Aufmerksamkeit, Auffassungsvermögen und Ausdrucksverhalten). Eine Plausibilitätsprüfung sowie eine kritische Konsistenzprüfung sind nicht dokumentiert. Während die Agoraphobie mit Panikstörung sowie die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung hinreichend gut begründet wurden, gilt dies – und auch hier folgt der Senat S1 – nicht in Bezug auf die diagnostizierte depressive Anpassungsstörung, da ein depressives Syndrom im psychopathologischen Befund als aktuelle Symptomatik gar nicht angegeben wurde. Vielmehr waren die Stimmung ausgeglichen, der Antrieb nicht reduziert, Gedächtnisfunktionen und Konzentration ungestört und zeigten sich keine formalgedanklichen Störungen. Der Kläger war selbst zum Termin gefahren, wirkte im Gesprächskontakt kooperativ und offen, war bei klarem Bewusstsein und zu Zeit, Ort, Person und Situation vollständig orientiert. Anamnestisch berichtete der Kläger zwar über ausgeprägte depressive Verstimmungen und Panikattacken, doch kann eine Diagnose selbstredend nicht allein auf anamnestische Angaben gestützt werden.
Der Senat stellt somit fest, dass der Kläger noch in der Lage ist, eine seinen Fähigkeiten und Einschränkungen entsprechende Tätigkeit im Umfang von sechs Stunden und mehr zu verrichten.
Der Kläger ist auch wegefähig im rentenrechtlichen Sinne. Da eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich ist, gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (BSG 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr. 2 m.w.N.; 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R). Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 43 SGB VI versicherten Risikos (BSG 17.12.1991, 13/5 RJ 73/90, SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10; 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr. 2; 14.03.2002, B 13 RJ 25/01 R, juris); das Defizit führt zur vollen Erwerbsminderung. Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - möglich sein muss, nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel und vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, vier Mal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand (ca. 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (BSG 17.12.1991, 13/5 RJ 73/90, juris; BSG 30.01.2002, B 5 RJ 36/01 R, juris m.w.N.). Körperliche Defizite, die der Wegefähigkeit entgegenstehen, liegen beim Kläger unstreitig nicht vor. Allerdings hindern die Agoraphobie mit Panikstörung und sowie die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung den Kläger daran, mit öffentlichen Verkehrsmitteln einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Dies ergibt sich aus sämtlichen Gutachten. Es ist dem Kläger aber möglich, mit seinem Pkw, über den er unstreitig verfügt, zum Arbeitsplatz zu fahren. Wie S1 sehr anschaulich dargelegt hat, zeigt sich beim Kläger ein für selbstunsichere und phobische Personen nicht ungewöhnliches Erleben von Sicherheit beim Aufenthalt im und Fahren mit dem eigenen Pkw. Das eigene Fahrzeug ist gleichsam ein sicherer Ort und Extension der eigenen Wohnung, in der der Proband sich hinreichend wohl fühlt. Insofern ist die Wegefähigkeit zu bejahen (vgl. zum Einsatz eines Pkw z.B. BSG 14.03.2002, B 13 RJ 25/01 R, juris).
Soweit die Klägerbevollmächtigte nun aktuell vorträgt, der Pkw des Klägers sei nicht mehr gebrauchsfähig, ändert dies am Ergebnis nichts. Wie sich dem Versicherungsverlauf des Klägers entnehmen lässt (Bl. 195 ff. Senatsakte), waren die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (drei Jahre Pflichtbeitragszeiten in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung) zuletzt am 30.11.2022 erfüllt, da dann in der Zeit vom 01.11.2017 bis 31.10.2022 (Fünf-Jahres-Zeitraum) exakt 36 Monate an Pflichtbeiträgen vorliegen (11/17 bis 12/17: 2 Monate; 1/18 bis12/18: 12 Monate; 01/19 bis 6/19: 6 Monate; 9/19 bis 12/19: 4 Monate; 1/20 bis 12/20: 12 Monate, zusammen 36 Monate). Insofern kommt es auf den heutigen Zustand des Pkw nicht an.
Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person des Klägers eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre, bestehen nicht. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (vgl. BSG 19.12.1996, GS 2/95, juris; BSG 19.10.2011, B 13 R 78/09 R, juris; BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18, juris).
Der Sachverhalt ist in medizinischer Hinsicht vollständig aufgeklärt. Die vorliegenden Gutachten des H1, H2 und S1 haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 Zivilprozessordnung [ZPO]). Die Gutachten gehen von zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus, enthalten keine unlösbaren inhaltlichen Widersprüche und geben auch keinen Anlass, an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Gutachter zu zweifeln; weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.
Eine erneute Befragung des S1 hatte nicht zu erfolgen. Es fehlt diesbezüglich an einem formgerechten Beweisantrag i.S.d. § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 373 ff. Zivilprozessordnung (ZPO). Ein förmlicher Beweisantrag setzt ein hinreichend konkretes Beweisthema, ein zulässiges Beweismittel und die Angabe des voraussichtlichen Beweisergebnisses voraus. Die unter Beweis gestellte Tatsache ist möglichst präzise und bestimmt zu behaupten (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2024, § 103 Rn. 149 m.w.N.). Hieran fehlt es hier, da lediglich beantragt worden ist, S1 zum Schriftsatz des Klägers vom 17.06.2023 Stellung nehmen zu lassen. Welches Ergebnis hier konkret erwartet wird, ergibt sich aus diesem Antrag nicht. Insofern handelt es sich allenfalls um eine Beweisanregung. Dieser war bereits deshalb nicht nachzukommen, weil S1 in seinem Gutachten vom 25.01.2024 ausführlich zum Gesundheitszustand und Leistungsvermögen des Klägers Stellung genommen hatte und zudem noch die abschließende Nachfrage der Berichterstatterin („Ist der Kläger noch dazu in der Lage, täglich seine Wohnung zu verlassen, mit seinem Pkw eine Arbeitsstelle aufzusuchen, die den von Ihnen aufgezeigten qualitativen Anforderungen genügt, dort mindestens 6 Stunden (zzgl. Pausen) zu arbeiten und anschließend mit seinem Pkw wieder nach Hause zurückzukehren?“) im Schriftsatz vom 22.05.2024 ausdrücklich bejaht hat. Es erschließt sich daher dem Senat nicht und drängt sich erst recht nicht auf, S1 nun noch einmal zum Leistungsvermögen des Klägers zu befragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 911/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 104/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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