L 2 SO 702/25 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SO 4431/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 702/25 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. Januar 2025 aufgehoben und der Antrag der Antragstellerin auf Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihr vorläufig höhere Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu gewähren, insgesamt abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Gründe


Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Stuttgart vom 29. Januar 2025 hat Erfolg.

I.

Mit diesem Beschluss hat das SG die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin über die bereits bewilligten Leistungen hinaus Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form der nicht von der Pflegeergänzungsregelung abgedeckten Pflegekosten seit dem 25. November 2024 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 31. Juli 2025, zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt.

Mit Bescheid vom 24. November 2023 hat die Antragsgegnerin der Antragstellerin Leistungen der Hilfe zur Pflege (Leistungen der häuslichen Pflegehilfe nach § 64b SGB XII) für die Monate Juni bis Dezember 2023 bewilligt. Der dagegen erhobene Widerspruch der Antragstellerin, mit welchem sie höhere Leistungen der häuslichen Pflegehilfe begehrt, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2024 zurückgewiesen. Hiergegen hat die Antragstellerin am 11. Juni 2024 Klage (Az.: S 6 SO 2154/24) zum SG erhoben. Diese Klage ist gegen den Bescheid vom 24. November 2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Mai 2024 gerichtet. Diese Klage hat die Antragstellerin erstmals mit Schreiben vom 21. November 2024 - eingegangen beim SG am 25. November 2024 - begründet. Es werden laufende höhere Leistungen der Hilfe zur Pflege - also auch über den Dezember 2023 hinaus - begehrt.

Mit weiterem Bescheid vom 16. Januar 2024 hat die Antragsgegnerin für den Zeitraum Januar bis Juni 2024 Leistungen der Hilfe zur Pflege bewilligt. Den hiergegen am 26. Januar 2024 erhobenen Widerspruch hat sie mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2024 zurückgewiesen.

Schließlich hat die Antragsgegnerin noch mit Bescheid vom 19. Juli 2024 Leistungen der Hilfe zur Pflege für den Zeitraum von Juli 2024 bis Juni 2025 gewährt. Gegen diesen Bescheid wurde kein Widerspruch erhoben. In ihrem Schriftsatz vom 27. Dezember 2024 im Klageverfahren geht die Antragsgegnerin (jedoch) davon aus, dass „in der Klage gleichzeitig die Einlegung des Widerspruchs liege, sodass noch das Vorverfahren durchgeführt werden müsse“.

Am 25. November 2024 hat die Antragstellerin beim SG den Antrag gestellt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig höhere Leistungen der Hilfe zur Pflege im von ihr benötigten Umfange zu gewähren.

II.

Die am 28. Februar 2025 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingegangene Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 20. Januar 2025 ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 173 SGG insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.

Die Beschwerde ist auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Auflage 2023, § 86b Rd. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 02.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (BVerfG, Beschluss vom 14.03.2019 - 1 BvR 169/19 - juris Rn. 15; Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg vom 13.10.2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 06.09.2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - <beide juris> jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

Das SG hat unzutreffend dem Antrag der Antragstellerin in dem Umfange stattgegeben, wie es sich aus dem Beschluss vom 29. Januar 2025 ergibt.

Die Antragstellerin hat nämlich einen Anordnungsanspruch insgesamt nicht glaubhaft gemacht.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 19. Juli 2024 hat die Antragsgegnerin über die Höhe der der Antragstellerin zu gewährenden Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII entschieden. Es ist für den Zeitraum Juli 2024 bis Juni 2025 somit verbindlich und abschließend zwischen den Beteiligten die Höhe der zu gewährenden Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII geregelt. Wird der gegen einen Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt, so ist der Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist (vgl. § 77 SGG). Der Bescheid vom 19. Juli 2024 ist der Antragstellerin gemäß § 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) am 22. Juli 2024 bekanntgegeben worden. Einen Widerspruch hat die Antragstellerin gegen diesen Bewilligungsbescheid vom 19. Juli 2024 gegenüber der Antragsgegnerin nicht erhoben.

Die Antragstellerin hat somit seit Stellung des Antrages auf vorläufige Gewährung von höheren Leistungen der Hilfe zur Pflege am 25. November 2024 und bis einschließlich Juni 2025 keinen Anspruch auf höhere Leistungen der Hilfe zur Pflege.

Die Antragstellerin hat auch nicht durch die Erhebung der Klage am 11. Juni 2024 gegen den Bescheid vom 24. November 2024 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Mai 2024 Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 19. Juli 2024 erhoben. Zulässig ist ein Widerspruch nämlich nur dann, wenn er sich gegen einen Verwaltungsakt richtet und der Widerspruchsführer durch den Verwaltungsakt beschwert ist. Der Verwaltungsakt muss zum Zeitpunkt der Erhebung des Widerspruchs bereits ergangen sein; ein vorsorglich eingelegter Widerspruch wird auch dann nicht zulässig, wenn der Verwaltungsakt später ergeht (vgl. dazu Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 14. Aufl., § 83 Rdnr. 3 m.w.N.). Der Bescheid vom 19. Juli 2024 ist nach der Erhebung der Klage am 11. Juni 2024 bekanntgegeben worden. Er ist auch nicht gem. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand der Klage geworden. Eine analoge Anwendung des § 96 SGG auf Bescheide, die nachfolgende Bewilligungszeiträume betreffen, kommt nicht in Betracht (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 27. Februar 2008 - B 14/7b AS 64/06 R -).

An der (bereits) eingetretenen Bestandskraft des Bewilligungsbescheides vom 19. Juli 2024 ändert sich auch nichts dadurch, dass die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 27. Dezember 2024 offenbar davon ausgeht, dass zwar gegen den Bescheid vom 19. Juli 2024 kein Widerspruch erhoben worden sei, jedoch in der Klage vom 11. Juni 2024 (Az.: S 6 SO 2154/24) gleichzeitig die Einlegung des Widerspruchs liege, sodass das Vorverfahren noch durchgeführt werden müsse. Dem folgend könnte allenfalls in der Klagebegründung des Bevollmächtigten der Antragstellerin vom 21. November 2024 - beim SG eingegangen am 25. November 2024 - eine „gleichzeitige“ Widerspruchserhebung gegen den Bewilligungsbescheid vom 19. Juli 2024 gesehen werden (vgl. dazu Schmidt, a.a.O., § 78 Rdnr. 3b m.w.N.). Denn selbst dann, wenn in der Klagebegründung vom 21.Novemnber 2024 mit welcher die Antragstellerin deutlich gemacht hat, dass sie nicht nur für den streitgegenständlichen Zeitraum Juni bis Dezember 2023, sondern auch darüber hinaus höhere Leistungen der Hilfe zur Pflege begehrt, eine Widerspruchserhebung gesehen wird, müsste dieser Widerspruch zulässig sein, um die Bestandskraft des Bewilligungsbescheides vom 19. Juli 2024 nicht eintreten zu lassen. Gemäß § 84 Abs. 1 SGG ist der Widerspruch binnen eines Monats, auf den der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Abs.2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Gemäß § 64 Abs. 2 SGG endet eine nach Wochen oder Monaten bestimmte Frist mit dem Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monats, welcher nach seiner Benennung oder Zahl dem Tag entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt. Davon ausgehend endete die einmonatige Widerspruchsfrist bezüglich des Bewilligungsbescheides vom 19. Juli 2024 am 22. August 2024. Deshalb wäre eine Widerspruchserhebung, die in der Klagebegründung vom 21. November 2024 zu sehen wäre, jedenfalls nicht fristgemäß. Somit verbleibt es bei der Bestandskraft des Bewilligungsbescheides vom 19. Juli 2024, woraus folgt, dass die Antragstellerin für den genannten Zeitraum jedenfalls keinen Anspruch auf höhere Leistungen der Hilfe zur Pflege hat.

Nach alledem war der Beschwerde stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).  


 

Rechtskraft
Aus
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