L 2 R 808/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 1578/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 808/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. Februar 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Gründe

I.
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die 1965 als Mann geborene Klägerin (Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens erfolgten im Jahr 2008 nach dem damals geltenden Transsexuellengesetz) hat den Beruf der Elektroinstallateurin erlernt und war zuletzt fast 20 Jahre in einer Firma für Leuchtenmontage tätig. Seit 2019 ist sie arbeitsunfähig krank bzw. arbeitslos und bezog zunächst Krankengeld, dann Arbeitslosengeld I und seit 2022 Arbeitslosengeld II bzw. Bürgergeld (vgl. Versicherungsverlauf Bl. 35 LSG-Akte).

Bereits vom 31.07.2017 bis 21.08.2018 hatte die Klägerin eine von der Beklagten gewährte Maßnahme der medizinischen Rehabilitation absolviert. Die Ärzte der dortigen Klinik stellten im Reha-Entlassungsbericht vom 28.08.2017 (Bl. 2 VerwA) folgende Diagnosen:
1. Degeneratives LWS-Syndrom bei Spondylolisthesis L5/S1
2. BSV L4/5 mit Irritation Wurzel L5 bds., Deg. HWS-Syndrom mit Osteochondrosen, Spondylarthrosen u. Foramenstenosen
3. Myofasciale Sympomatik der Schultergürtel- und lumboglutealen Muskulatur
4. Übergewicht
Nicht mehr möglich seien Tätigkeiten in gebückter Zwangshaltung, wiederholte oder längere Überkopfarbeiten, Klettern und Steigen auf Leitern oder Gerüste und auch keine Tätigkeiten in Vorhalte unter Gewichtsbelastung. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit sei nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich möglich, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten jedoch noch sechs Stunden und mehr.

Die Klägerin beantragte am 31.05.2019 (Bl. 106 VerwA) bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Klägerin wurde daraufhin im Auftrag der Beklagten am 26.11.2019 von der V1 ambulant untersucht. Diese stellte in ihrem Gutachten vom 27.11.2019 (Bl. 63 VerwA) folgende Diagnosen:
1. Psychische Minderbelastbarkeit bei Depressivität durch Mobbingerfahrung aufgrund Transsexualität Arbeitsplatzkonflikt,
2. Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule und Bandscheibenschäden bei Gleitwirbelbildung L4/5 mit Einengung der Nervenwurzelaustrittsöffnungen, ohne neurologisches Funktionsdefizit,
3. Bewegungseinschränkung.
Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass in Zusammenschau aller Befunde und der erfolgten symptombezogenen Untersuchung ein Leistungsvermögen der Klägerin derzeit von weiterhin über sechs Stunden gegeben sei. Folgende Funktionseinschränkungen seien hier bei zu berücksichtigen: möglich seien nur noch leichte Tätigkeiten im überwiegenden Gehen, Stehen und Sitzen, in Tages-, Früh-/Spätschicht, ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen und ohne Zeitdruck. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Elektroinstallateurin bzw. Lampenmonteurin sei nicht mehr leidensgerecht.

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 22.01.2020 den Rentenantrag der Klägerin ab. Die Einschränkungen, die sich aus den Krankheiten oder Behinderungen der Klägerin ergäben, führten nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Denn nach der medizinischen Beurteilung der Beklagten könne die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein.

Den hiergegen am 07.02.2020 erhobenen Widerspruch (Bl. 81 VerwA) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.06.2020 (Bl. 82 VerwA) als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 16.07.2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen erhoben und zur Begründung im Wesentlichen unter Bezugnahme auf Arztberichte ausgeführt, dass die Klägerin seit über 20 Jahren unter einer depressiven Erkrankung leide. Diese habe sich insbesondere im letzten Jahr weiter verschlimmert, so dass derzeit eine schwere depressive Episode bestehe.

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt.

Der B1 hat in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 12.10.2020 (Bl. 38 SG-Akte) von wiederkehrenden depressiven Störungen mit überwiegend mittelschweren Episoden ohne psychotische Symptome berichtet. Zudem bestünden Abnutzungserscheinungen der LWS mit Bandscheibenvorfall, eine chronische obstruktive Lungenerkrankung sowie eine vergrößerte Schilddrüse mit normaler Funktion. Die Klägerin sei nur noch in der Lage, leichte Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von weniger als sechs Stunden arbeitstäglich auszuüben. Dabei stehe das psychiatrische Fachgebiet im Vordergrund.
Der S1 hat mit Schreiben vom 16.11.2020 (Bl. 47 SG-Akte) angegeben, dass bei der Klägerin eine chronisch rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig schwerer Krankheitsepisode bestehe. Zusätzlich leide die Klägerin an den Folgen ihrer Transsexualität, Mann zu Frau. Die Klägerin könne leichte Tätigkeiten nur noch weniger als drei Stunden arbeitstäglich ausüben.

Das SG hat im Anschluss den L1 mit der Erstellung eines Gutachtens von Amts wegen beauftragt. Dieser hat die Klägerin am 27.06.2022 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 26.07.2022 (Bl. 128 SG-Akte) folgende Diagnosen gestellt: Eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert sowie eine fortbestehende Dysthymie, dazu auf neurologischem Fachgebiet eine Migräne ohne Aura. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin aus neurologisch-psychiatrischer Sicht in der Lage sei, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben, Tragen und Bewegen von Lasten bis 15 kg ohne entsprechende Hilfsmittel zu verrichten. Die Arbeiten könnten dabei überwiegend im Gehen, Stehen oder Sitzen erfolgen, auch hinsichtlich gleichförmiger Körperhaltungen oder häufigem Bücken ergäben sich keine Einschränkungen. Aufgrund der psychischen Gesundheitsstörungen könne die Klägerin Arbeiten unter hohem Zeitdruck sowie besonders monotone Arbeiten (wie Akkord- und Fließbandarbeiten) nicht mehr verrichten, verschlossen blieben ihr aus prophylaktischen Gesichtspunkten auch Nachtschichten. Wechselschichten hingegen seien leistbar. Aufgrund der Migräne seien Arbeiten unter Einfluss von Hitze, Kälte, Zugluft, Nässe und Lärm sowie unter Einwirkung von Staub, Gasen und Dämpfen nicht mehr zumutbar, Arbeiten im Freien jedoch ohne weiteres. Keine Einschränkungen ergäben sich der Befundlage nach für Arbeiten mit besonderer Verantwortung oder besonderer geistiger Beanspruchung. Eine Stellungnahme zu sozialen Beziehungen und zum Tagesablauf in Zusammenhang mit den Einschränkungen seien nur schwerlich möglich, da die Klägerin sich wie schon bei der Vorbegutachtung sehr wortkarg gegeben habe und kaum konkrete und nachvollziehbare Informationen preisgegeben habe. Es ergäben sich aus neurologisch-psychiatrischer Sicht keine Gründe, die die Klägerin nicht 4 x 500 m arbeitstäglich in zumutbarem Zeitaufwand zurücklegen ließen. Ebenso seien keine betriebsunüblichen Pausen erforderlich. Alles in allem sei die Klägerin durchaus in der Lage, bei Beachtung der genannten qualitativen Leistungseinschränkungen Erwerbstätigkeiten mindestens sechs Stunden arbeitstäglich auszuüben. Die in der Vergangenheit von Behandlerseite immer wieder attestierte aufgehobene Leistungsfähigkeit sei dabei jeweils nicht unter Bezugnahme auf konkrete Befunde und ausgeschöpfte Therapiemaßnahmen gestützt worden.

Nachdem die Klägerin hiergegen unter Vorlage von Attesten ihres behandelnden S1 (Bl. 169 SG-Akte) Einwendungen gegen die Einschätzung von L1 erhoben hat, sind diese dem Sachverständigen vorgelegt worden. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28.11.2022 (Bl. 179 SG-Akte) hat L1 im Ergebnis an seiner Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin festgehalten. Seine Beurteilung, dass die Klägerin unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen weiterhin in der Lage sei, Erwerbstätigkeiten mindestens sechs Stunden arbeitstäglich auszuüben, beruhe nicht allein auf offenen Therapiemöglichkeiten, sondern auch darauf, dass sich auf Befundebene die behauptete schwere depressive Störung eben nicht sichern lasse. Vielmehr sei die rezidivierende depressive Störung unter Berücksichtigung der hier erhobenen Befunde zum Untersuchungszeitpunkt remittiert. Lediglich eine fortbestehende Dysthymie lasse sich nachvollziehen. Auch sei bereits in der Vergangenheit durch die Behandler die behauptete aufgehobene Leistungsfähigkeit jeweils nicht befundlich begründet worden.

Mit Schriftsätzen vom 13.12.2022 und 27.12.2022 hat die Klägerin erneut Atteste von S1 vorgelegt (Bl. 188 und 191 SG-Akte).

Das SG hat sodann aufgrund mündlicher Verhandlung die Klage mit Urteil vom 28.02.2023 abgewiesen (Bl. 259 SG-Akte). Die näher dargelegten Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor. Die Klägerin sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Zwar gingen sowohl der behandelnde B1 unter Verweis darauf, dass im Vordergrund das psychiatrische Fachgebiet bestehe, wie auch der behandelnde S1 von einer Erwerbsminderung aus. Jedoch habe das Gericht im Ergebnis nicht zu der Auffassung gelangen können, dass der hierfür beweisbelasteten Klägerin der Vollbeweis des Bestehens einer Erwerbsminderung gelungen sei. Hiergegen spreche nach Auffassung des Gerichts das überzeugende und schlüssige Gutachten des L1. Insbesondere weise dieser für das Gericht überzeugend darauf hin, dass die Einschätzung des S1 allein deswegen nicht zum Nachweis des Bestehens einer Erwerbsminderung ausreiche, weil dieser weder die konkreten Beschwerden mitteile und zudem keine Dokumentation vollständiger psychischer Befunde vorlege, ohne die das Bestehen einer schweren therapieresistenten Depression nicht nachvollziehbar sei. Auch führe der behandelnde Psychiater nicht konkret aus, welche konkreten Therapiemaßnahmen mit welchem Ergebnis versucht worden seien. Hier führe L1 aus, dass die mitgeteilte Medikation in der Vergangenheit nur niedrig dosiert gewesen sei, dabei nur gering antidepressiv wirksam und dass augenscheinlich abgesehen von der aktuellen Medikation ein medikamentöser Therapieregimewechsel unter Medikamentenspiegelkontrollen nicht angestrengt werde. Ebenso würden nicht medikamentöse Therapieverfahren, die auch im Rahmen einer stationären Behandlung erfolgen könnten, wie Magnetstimulation, Schlafentzug, Lichttherapie aber auch invasivere Verfahren wie eine Elektrokonvulsionstherapie nicht in Betracht gezogen. So führe L1 aus, dass, ausgehend von den in der Akte befindlichen Befunden, eine rezidivierende depressive Störung nicht nachgewiesen werden könne. Hinzu komme der Umstand, dass nach der von ihm erhobenen laborchemischen Untersuchungen die verordnete Medikation nicht eingenommen werde. Vor dem Hintergrund dieser schlüssigen Ausführungen sei das Gericht letztlich nicht zu der Auffassung gelangt, dass der nötige Vollbeweis des Bestehens einer Erwerbsminderung von der Klägerin geführt werden könne, weshalb die Klage abzuweisen gewesen sei.

Gegen das ihrem Bevollmächtigten am 03.03.2023 gegen Empfangsbekenntnis (Bl. 218 SG-Akte) zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14.03.2023 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erheben lassen. Zur Begründung hat sie u.a. vorgetragen, dass aus ihrer Sicht eine schwere Depression und nicht die Transsexualität im Vordergrund stehe. Es sei geplant, dass die Klägerin sich ab dem 02.05.2023 für mehrere Wochen in einer psychiatrischen Tagesklinik behandeln lasse. Entgegen den Angaben des Gutachters nehme sie ihre Medikamente zudem regelmäßig ein. Das Medikament Opipramol sei in der Regel laborchemisch nicht nachweisbar, zudem habe sie die Medikamente vor der Corona-Impfung, die am 24.06.2022 stattgefunden habe, absetzen müssen. Sie hat zudem einen Befundbericht über einen stationären Aufenthalt in der Klinik für Psychiatrie R1 vom 20.08.2003 bis 29.08.2003, sowie Ärztliche Atteste der behandelnden Ärzte S1 (vom 12.10.2022 und vom 16.12.2022) und B1 (vom 18.02.2021) beigefügt. Zudem ist eine an das SG Reutlingen verfasste Stellungnahme der Klägerin vom 15.10.2022 (Bl. 49 LSG-Akte) vorgelegt worden. Darin hat die Klägerin von Anfeindungen und Mobbing an ihrem alten Arbeitsplatz aufgrund ihrer Transsexualität berichtet. Sollte sie heute eine neue Arbeit aufnehmen, so sei es für sie auch nicht so einfach, die Zeugnisse seien auf ihren alten Namen ausgestellt, Anschreiben und der Lebenslauf auf den neuen Namen. Die Firmen seien zwar dazu verpflichtet, queere Menschen einzustellen, aber sie täten es nicht, weil die Vorurteile in der Gesellschaft gegen Transmenschen immer noch präsent seien und schlimmer würden. Sie sei psychisch nicht mehr in der Lage, sich den Anfeindungen auszusetzen.

Im Anschluss ist ein Bericht der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R2, Tagesklinik Depression, vom 07.06.2023 über eine teilstationäre Behandlung vom 02.05.2023 bis 09.06.2023 vorgelegt worden (Bl. 57 LSG-Akte). Die Ärzte der dortigen Klinik haben folgende Diagnosen gestellt:
1. Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome
2. Kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen
Die Ärzte haben weiter angegeben, dass man die Klägerin in teilstabilisiertem Zustand aus der tagesklinischen Behandlung entlassen könne. Im Fokus des Aufenthaltes hätten vor allem die diagnostische Einordnung sowie die Erarbeitung eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells unter Einbezug der biographischen Erfahrungen, die von Ablehnungs- und Abwertungserfahrungen stark geprägt seien und zu starken Insuffizienzgedanken und Ungerechtigkeitserleben führten. Zum Zeitpunkt der Entlassung bestehe weiterhin eine Arbeitsunfähigkeit, man sehe aktuell keine Hinweise für die Besserung der Erwerbsprognose. Außerdem halte man die Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie als dringend indiziert.

Die Berichterstatterin hat sodann am 19.07.2023 mit den Beteiligten einen Termin zur Erörterung des Sachverhaltes durchgeführt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift (Bl. 60 LSG-Akte) verwiesen.

Im Anschluss hat der Senat ein Gutachten von Amts wegen eingeholt und hierfür den Chefarzt der Klinik Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik I, Psychiatrisches Zentrum N1, S2 beauftragt. Nachdem die Klägerin zwei angebotene Termine nicht hat wahrnehmen können, hat der Sachverständige sie am 25.07.2024 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 24.10.2024 (Bl. 76 LSG-Akte) folgende Diagnosen gestellt: 1. Dysthymia, 2. rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert.
In der gutachterlichen Untersuchung hätten sich auf Befundebene eine geringe depressive Symptomatik gezeigt. Die Stimmungslage sei subdepressiv herabgemindert, die emotionale Schwingungsfähigkeit leicht eingeengt, jedoch nicht aufgehoben gewesen. Es habe sich eine deutliche Störung der Vitalgefühle mit vermindertem Erleben von Vitalität und Frische gezeigt, zugleich sei der Antrieb situationsadäquat gewesen. Zeichen erhöhter Ermüdbarkeit auf psychomotorischer oder kognitiver Ebene hätten sich nicht gezeigt, ebensowenig Zeichen gravierender Depressivität. So sei der Gedankengang in formaler und inhaltlicher Hinsicht ungestört gewesen. Kognitive Funktionsdefizite in Bezug auf das Auffassungsvermögen, die Aufmerksamkeit, die Konzentration, die Erinnerung und die Merkfähigkeit seien nicht festzustellen. Zeichen schwerer Depressivität - wie etwa Ich-Störungen, Wahnerleben, Wahrnehmungsstörungen oder Suizidalität - seien hier auszuschließen. Gegen eine krankheitswertige Beeinträchtigung von Antrieb und kognitiven Fähigkeiten (einschließlich Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit) spreche hier auch die Angaben der Klägerin, zum Termin selbstständig (in Begleitung der Ehefrau als Beifahrerin) mit dem Pkw gekommen zu sein (Fahrzeit 1 Stunde 50 Minuten). Hinsichtlich der Beschwerdeschilderung seien die klaren Hinweis auf eine eingeschränkte Authentizität hinsichtlich der Angaben zu Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen zu beachten. So hätten sich bei Analyse der Ergebnisse der klinischen Exploration, der körperlich-neurologische Untersuchung sowie der testpsychologischen Untersuchungen Hinweise auf gewisse negative Antwortverzerrungen im Sinne von nicht bzw. in der geklagten Weise nicht plausiblen Beschwerden ergeben. Nach Art und Ausprägungsgrad diese Auffälligkeiten sei von minderschweren Verdeutlichungstendenzen auszugehen. Aufgrund dieser Auffälligkeiten müsse mit den eigenanamnestischen Angaben zu Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen kritisch umgegangen werden, gleichzeitig sei die Beurteilung in diagnostischer und leistungsbezogener Hinsicht nicht grundsätzlich beeinträchtigt. Bei fehlender objektivierbarer Antriebsstörung und fehlender ausgeprägter Herabstimmung seien schon die Eingangskriterien für eine depressive Episode nicht erfüllt. Nachvollziehbar sei auch vor dem Hintergrund aktenkundiger Vorbefunde - ein sozialer Rückzug, eine Verminderung von subjektiv interessierenden und freudestiftenden Aktivitäten bei Angabe von Schlafstörungen und sexueller Alibidimie sowie eine subjektive Überforderung durch alltägliche Routineanforderungen. Das festgestellte Syndrom einer subdepressiven Verstimmung sei langjährig zurückzuverfolgen. Es liege daher eine Dysthymia vor, eine eigentliche depressive Episode sei aktuell nicht festzustellen. Rückblickend sei allerdings schon davon auszugehen, dass - insbesondere in Zeiten massiver psychosozialer Belastung - auch die Merkmale depressiver Episoden erfüllt gewesen seien. Dies ergebe sich nichts zuletzt aus den dokumentierten stationär-psychiatrischen Behandlung im August 2003 in R1 sowie aus dem Bericht zur tagesklinischen Behandlung in der Klinik R2 vom 02.05.2023 bis 09.06.2023. Rückblickend sei somit zusätzlich zu diagnostizieren: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert. Es liege somit eine „double depression"-Konstellation vor mit langjährig bestehender dysthymer Herabstimmung einerseits und sich gleichsam darauf auflagernden, vorübergehenden Phasen gravierenderer Depressivität andererseits. Rückblickend sei davon auszugehen, dass nach den eigenanamnestischen Angaben und den aktenkundigen Vorbefunden depressive Verstimmungen ab 2003 aufgetreten seien in Zusammenhang mit eskalierenden Konflikten nach Coming-out, ehelicher Krise und Offenbarung der Transidentität am Arbeitsplatz einerseits. Später - ab 2005 - habe die Behandlung mit dem antiandrogen wirkenden Medikament Androcur (Wirkstoff: Cyproteronacetat) die Depression verstärkt. Eine häufige Nebenwirkung der - im vorliegenden Fall klar indizierten - langfristigen Gabe von Cyproteronacetat seien anhaltende depressive Verstimmungen und eine Störung der Libido sexualis.
Die auf psychiatrisch-psychotherapeutischem Fachgebiet bei der Klägerin diagnostizierten Gesundheitsstörungen führten zu einer Minderung der Fähigkeit zur Bewältigung psychovegetativer Belastungen. Für die Klägerin kämen daher Tätigkeiten, die mit einer erhöhten psychovegetativen Stressbelastung einhergingen - zum Beispiel durch erhöhten Zeitdruck (z.B. Akkordarbeit) oder durch unphysiologische psychovegetative Belastungen (z.B. Nachtarbeit) - nicht in Frage. Auch Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte oder Tätigkeiten mit anhaltend hohen Anforderungen an die Daueraufmerksamkeit (etwa Kontrollaufgaben mit der Notwendigkeit sofortiger Reaktion in definierten Fallkonstellationen) seien aufgrund der damit verbundenen psychovegetativen Daueranspannung aus gesundheitlichen Gründen auszuschließen. Eine Überforderung in diesem Bereich würde mit dem Risiko einer Verstärkung der depressiven Symptomatik bis hin zur Ausbildung einer depressiven Episode im Rahmen der rezidivierenden depressiven Störung einhergehen. Aufgrund der aus vordiagnostizierten orthopädischen Leiden resultierenden Beschwerden in Bezug auf den Bewegungsapparat seien Tätigkeiten mit besonderen Belastung für die Wirbelsäule - somit auch Überkopfarbeiten, Arbeiten mit häufigerem oder anhaltendem Bücken oder Knien, ebenso Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten - auszuschließen. Vermieden werden sollten häufiges und länger dauerndes Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 10 kg ohne Einsatz technischer Hilfen, häufiges und länger dauerndes Bücken, häufige und länger dauernde Tätigkeiten in Zwangshaltungen. Diese festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen resultierten aus der „double depression" mit Dysthymie und rezidivierender Depression. Diese Gesundheitsstörungen lägen rückblickend seit 2003 vor. Dementsprechend dürften die qualitativen Leistungsdefizite rückblickend ebenso lange bestehen.
Bei Berücksichtigung der bestehenden qualitativen Einschränkung sei die Ausdauerleistung der Klägerin jedoch nicht signifikant gemindert. Hier ergäben sich eben keine Hinweise auf Störungen basaler Motivations- und Antriebsfunktionen, wie sie sich etwa in primär gemindertem Antrieb oder pathologisch erhöhte Ermüdbarkeit hätten zeigen können. Auch vor dem Hintergrund des in der mehrstündigen Untersuchung gezeigten Leistungsvermögens sei die Klägerin weiterhin dazu in der Lage, ihr qualitativ mögliche Arbeiten vollschichtig, d.h. auch acht Stunden pro Tag an fünf Tagen pro Woche abzuleisten. Diese Leistungsbeurteilung entspreche definitiv nicht der leistungsbezogenen Selbsteinschätzung der Klägerin, die sich in dieser Hinsicht jedoch nicht realistisch selbst beschrieben habe.
Relevante Beschränkungen des Arbeitsweges resultieren aus den hier diagnostizierten Gesundheitsstörungen nicht. Die Klägerin habe selbst angegeben, etwa 30 Minuten am Stück gehen zu können. Sie könne öffentliche Verkehrsmittel nutzen und verfüge über einen Pkw und Führerschein und nutze diesen auch.
Die Klägerin ist der Einschätzung im Gutachten mehrfach entgegengetreten. Mit Schreiben vom 21.11.2024 (Bl. 134 LSG-Akte) hat sie u.a. ausführen lassen, dass die Einschätzung des Sachverständigen, dass keine schwere depressive Erkrankung bestehe, gegen die Einschätzung der Behandler spreche. So sei dem Entlassbericht der Tagesklinik für Depressionen in R2 vom 07.06.2023 zu entnehmen, dass die Klägerin unter einer schweren Depression und Persönlichkeitsstörung leide. S2 zweifele die Diagnose an und stelle lediglich eine Dysthymie und rezidivierende depressive Störung gegenwärtig remmitiert fest. Zudem schreibe er in seinem Gutachten, dass die medikamentöse Behandlung nicht ausgeschöpft ist. Aus dem Entlassbericht der Tagesklinik R2 sei die aktuelle Medikation ersichtlich. Es sei zudem falsch, dass die Klägerin alleine zur Begutachtung gefahren sei. Zu dem Gutachter sei sie zwar selbst mit dem Auto gefahren, jedoch zusammen mit der Ehefrau als Begleitperson, die bereits berentet sei.

Sie hat zudem ein ärztliches Attest des H1 vom 16.07.2024 (Bl. 144) vorgelegt, in dem dieser u.a. ausgeführt hat, dass die Klägerin aus psychiatrischer Sicht nach wie vor nicht in der Lage sei, mindestens drei Stunden täglich einer geregelten Arbeit nachzugehen. lm Vordergrund der komplexen Erkrankungen stehe die chronifizierte und schwere Depression mit dauerhafter Arbeitsunfähigkeit als Folge der chronischen seelischen Erkrankung. Letzter Behandlungstermin sei der 12.03.2024 gewesen.

Die Klägerin hat zudem ein Attest der H2, Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R2 vom 18.01.2025 (Bl. 152 LSG-Akte) in der über eine ambulante Vorstellung an diesem Tag berichtet wird, vorgelegt. Dort sind folgende Diagnosen gestellt worden: Anhaltende depressive Störung und Transsexualität. Weiter ist angegeben worden, dass in der Frage der Arbeitsfähigkeit vor allem die psychischen Leistungsblockaden berücksichtigt werden müssten, mehr als testpsychologische Ergebnisse zu Konzentration etc., die nicht die realen Alltags- und Arbeitsplatzsituationen wiederspiegelten, da die Klägerin seit Jahren nicht mehr mit den benannten Anfeindungen bzw. Infragestellungen zurechtkomme. Hierbei sei es unwichtig, ob das Auftreten von der Klägerin Fragen aufwerfe, sondern die Tatsache der psychischen Reaktion der Klägerin, die nicht in der Lage sei, sich zu positionieren, zu klären oder einfach weiterzugehen. Die Klägerin sei sicher im klassischen Sinne nicht schwer depressiv, aber anhaltend niedergestimmt, verzweifelt, ängstlich, stark in der Auseinandersetzungsfähigkeit und Beziehungsgestaltung eingeschränkt. Außer der Ehefrau scheine es kein auffangendes Umfeld zu geben, keine positiven Ressourcen und auch keine wirkliche Zukunftsplanung, denn die Klägerin vergrabe sich in Verbitterung und Abwehr der „Welt" gegenüber. Eine Arbeitsfähigkeit unter Standardbedingungen sei so nicht gegeben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. Februar 2023 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Mit Schreiben vom 05.11.2024 und 25.01.2025 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass beabsichtigt ist, die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuweisen. Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor (§ 144 SGG). Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Gemäß § 153 Abs. 4 SGG kann das LSG - nach vorheriger Anhörung der Beteiligten - die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des Senats einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Die Beteiligten sind auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG hingewiesen und ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Eine Zustimmung der Beteiligten ist nicht erforderlich.
Das angefochtene Urteil des SG Reutlingen vom 28.02.2023 und der Bescheid vom 22.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2020 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier von der Klägerin beanspruchte Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch
[SGB VI]) dargelegt und zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nicht besteht, weil die Klägerin nicht nachweisen konnte, dass er nicht mehr für noch mindestens sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig ist. Der Senat schließt sich dem nach eigener Prüfung uneingeschränkt an, sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück.

Zu einem anderen Ergebnis führen auch nicht der Vortrag und die Ermittlungen im Berufungsverfahren. Der Senat kann sich nach der Gesamtwürdigung aller vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht davon überzeugen, dass die Klägerin unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage ist, einer leichten körperlichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für sechs Stunden und mehr nachzugehen oder aus anderen Gründen eine rentenrelevante Leistungseinschränkung vorliegt. Vielmehr hat das von Amts wegen im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten des Chefarztes der Klinik Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik I, Psychiatrisches Zentrum N1, S2 ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen für zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bestätigt.

Bei der Klägerin bestehen Gesundheitsstörungen vor allem auf psychiatrischem Fachgebiet. S2 hat zunächst eine aktuell bestehende Dysthymia diagnostiziert. Weiter hat S2 hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass insbesondere in Zeiten massiver psychosozialer Belastung neben der bestehenden Dysthymia auch die Merkmale depressiver Episoden erfüllt gewesen sind. Diese ergeben sich nach den Ausführungen des Gutachtes insbesondere aus der dokumentierten stationär-psychiatrischen Behandlung im August 2003 in R1 sowie aus dem Bericht zur tagesklinischen Behandlung in der Klinik R2 vom 02.05.2023 bis 09.06.2023, so dass zudem eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert, zu diagnostizieren ist. Es liegt somit eine „double depression"-Konstellation vor mit langjährig bestehender dysthymer Herabstimmung einerseits und sich gleichsam darauf auflagernden, vorübergehenden Phasen gravierenderer Depressivität andererseits.

Diese Erkrankungen bedingen qualitative Einschränkungen dahingehend, dass Tätigkeiten, die mit einer erhöhten psychovegetativen Stressbelastung einhergehen - zum Beispiel durch erhöhten Zeitdruck (z.B. Akkordarbeit) oder durch unphysiologische psychovegetative Belastungen (z.B. Nachtarbeit) - nicht mehr möglich sind. Auch Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte oder Tätigkeiten mit anhaltend hohen Anforderungen an die Daueraufmerksamkeit (etwa Kontrollaufgaben mit der Notwendigkeit sofortiger Reaktion in definierten Fallkonstellationen) sind aufgrund der damit verbundenen psychovegetativen Daueranspannung aus gesundheitlichen Gründen auszuschließen. Eine Überforderung in diesem Bereich würde mit dem Risiko einer Verstärkung der depressiven Symptomatik bis hin zur Ausbildung einer depressiven Episode im Rahmen der rezidivierenden depressiven Störung einhergehen.
Aufgrund der daneben bestehenden Beschwerden in Bezug auf den Bewegungsapparat, die aus den vordiagnostizierten orthopädischen Leiden resultieren, sind der Klägerin zudem Tätigkeiten mit besonderen Belastung für die Wirbelsäule - somit auch Überkopfarbeiten, Arbeiten mit häufigerem oder anhaltendem Bücken oder Knien, ebenso Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten - nicht mehr möglich. Vermieden werden sollten außerdem häufiges und länger dauerndes Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 10 kg ohne Einsatz technischer Hilfen; häufiges und länger dauerndes Bücken; häufige und länger dauernde Tätigkeiten in Zwangshaltungen.

Diese Leistungseinschätzung entnimmt der Senat dem Gesamtergebnis der Ermittlungen, insbesondere dem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten von S2.
Die Ausführungen von S2 sind schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Der Gutachter hat den Krankheitsverlauf unter Auswertung der vorliegenden Befundunterlagen ausführlich geschildert, ist den Beschwerden nachgegangen und hat die Klägerin sorgfältig und umfassend untersucht. Er hat eine ausführliche Anamnese erhoben, hat die Klägerin umfassend zu ihren Beschwerden, ihrer Biographie, ihrer Familie, den ausgeübten Erwerbstätigkeiten und ihrer Krankheitsgeschichte und ihrem Tagesablauf befragt. Im Anschluss ist ein umfassender psychischer und ein körperlich-neurologischer Befund erhoben sowie eine umfassende psychologische Testung (Mini-Mental-Status-Test [MMST], Beck-Depressionsinventar II [BDI-11], Hamilton Depression Scale [HAMD], Funktionsfragebogen HannoverRücken, testpsychologisches Beschwerdevalidierungsverfahren SRSI, Rey-15-Item-Recognition-Test [FIT, TOMM]) durchgeführt worden. Der Gutachter hat hier weiter ausgeführt, dass zusammenfassend festgehalten werden müsse, dass sich bei Analyse der Ergebnisse der klinischen Exploration, der körperlich-neurologische Untersuchung sowie der testpsychologischen Untersuchungen Hinweise auf gewisse negative Antwortverzerrungen im Sinne von nicht bzw. in der geklagten Weise nicht plausiblen Beschwerden ergaben. Nach Art und Ausprägungsgrad diese Auffälligkeiten ist von minderschweren Verdeutlichungstendenzen auszugehen. Aufgrund dieser Auffälligkeiten muss mit den eigenanamnestischen Angaben zu Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen kritisch umgegangen werden, gleichzeitig ist die Beurteilung in diagnostischer und leistungsbezogener Hinsicht nicht grundsätzlich beeinträchtigt.

Der Senat hat keinen Anlass, an der Vollständigkeit der erhobenen Befunde, der ausführlichen Darstellung der Krankheitsgeschichte und dem Tagesablauf des Klägers sowie an der Richtigkeit der daraus gefolgerten Leistungsbeurteilung von S2 zu zweifeln.

Auffällig sind die von S2 aufgezeigten Diskrepanzen zwischen Angabe massiver Beschwerden und objektivierbarem klinischem bzw. testpsychologischem Befund. So hat der Gutachter aufgeführt, dass sich einzelne Diskrepanzen zwischen massiven subjektiven Beschwerden einerseits und dem objektivierbaren klinischen bzw. testpsychologischen Befund andererseits gezeigt hätten. Die von der Klägerin geschilderten erheblichen Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen seien auf psychopathologischer Befundebene gar nicht zu bestätigen; mit ungestörtem Auffassungsvermögen, ungestörter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung sowie fehlenden mnestischen Funktionsdefiziten seien hier überhaupt keine relevanten kognitiven Funktionsdefizite festzustellen gewesen. Die Klägerin habe auch berichtet, dass sie selbstständig mit dem Pkw - und ihrer Frau als Beifahrerin - angereist sei. Das Zurücklegen der Fahrstrecke von 1 Stunde 50 Minuten sei erheblich belastend gewesen. Unabhängig von der subjektiv erlebten Belastung ist das Zurücklegen einer solchen Fahrstrecke mit erheblichen Konzentrationsstörung gar nicht vorstellbar.
Weiterhin habe die Klägerin hier einen verminderten Antrieb und eine erhebliche Tagesmüdigkeit geltend. Hierfür habe es auf Ebene des psychischen Befundes kein Korrelat ergeben. Der Antrieb sei situationsadäquat, Zeichen von erhöhter Ermüdbarkeit - wie Schläfrigkeit oder Sekundenschlaf - hätten sich nicht gefunden. Auch hier gelte hinsichtlich der von der Klägerin berichteten Pkw-Fahrleistung vor der Untersuchung (1 Stunde 50 Minuten), dass eine solche Leistung bei klinisch relevante Antriebsstörung und gar erheblicher Tagesmüdigkeit nicht vorstellbar sei. Weitere Diskrepanzen haben sich zwischen den Ergebnissen in psychometrischen Selbstbeurteilungsverfahren und dem erkennbaren klinischen Bild gezeigt. In der Erfassung des depressionsbezogenen Erlebens mittels Testfragebögen hat sich rein formal und ausschließlich nach Selbstbeschreibung ein schwer ausgeprägtes depressives Erleben gezeigt. Dagegen lässt sich dem psychischen Befund, in dem sich lediglich eine subdepressive Verstimmung und leicht eingeengte emotionale Schwingungsfähigkeit, mäßigem Insuffizienzerleben sowie Minderung der Vitalgefühle bei ansonsten im Wesentlichen unauffälligen psychischen Befunden findet, eine solch schwere Einschränkung gerade nicht entnehmen. Auch in psychopathologischer Hinsicht ergab sich nur eine depressive Teilsymptomatik, ebenso lässt die strukturierte Fremdbeurteilung mittels der Hamilton Depression Scale lediglich für eine geringgradig ausgeprägte depressive Symptomatik vermuten. Die im Funktionsfragebogen Hannover-Rücken (FHR) abgefragten Bewegungsabläufe wie z.B. sich im Bett aus der Rückenlage aufsetzen, sich Strümpfe an- und ausziehen, im Sitzen einen kleinen heruntergefallenen Gegenstand aufheben, hat die Klägerin im Rahmen der körperlich-neurologischen Untersuchung bei S2 ohne jede beobachtbare besondere Mühe, flüssig und ohne Hilfestellung demonstrieren können. Angegeben hat sie dagegen, diese „nur mit Mühe" bewältigen zu können. Nicht zuletzt hat der Sachverständige ausgeführt, dass eine relevante Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der geschilderten Beschwerden einerseits und der Intensität der Inanspruchnahme therapeutischer Hilfen andererseits bestehe. Hinweise auf eine leitliniengemäße Pharmakotherapie finden sich nicht; zu stationären Behandlung ist es bisher ebenfalls nicht gekommen.

Zu keinem anderen Ergebnis führen die von der Klägerin gegen das Gutachten erhobenen Einwände.

Das ärztliche Attest des H1 vom 16.07.2024 hat bereits zum Zeitpunkt der Begutachtung, die danach stattgefunden hat, vorgelegen und ist vom Sachverständigen S2 berücksichtigt worden (vgl. Bl. 10 des Gutachtens, Bl. 85 LSG-Akte). Die darin getroffene Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin sieht der Senat durch das eingeholte Gutachten als widerlegt an. Hierbei ist auch zu beachten, dass der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige grundsätzlich ein höherer Beweiswert als der Einschätzung der behandelnden Ärzte zukommt (vgl. hierzu Hessisches LSG, Urteil vom 04.09.2019 - L 6 R 264/17 - juris Rn. 85; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 10.03.2011 - L 3 R 545/06 - juris, Rn. 48; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.02.2002 - L 10 B 30/01 SB - juris, Rn. 5). Bei der Untersuchung von Patienten unter therapeutischen Gesichtspunkten spielt die Frage nach der Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens in der Regel keine Rolle. Dagegen ist es die Aufgabe des Sachverständigen, die Untersuchung gerade im Hinblick darauf vorzunehmen, ob und in welchem Ausmaß gesundheitliche Beschwerden zu einer Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens führen. In diesem Zusammenhang muss der Sachverständige auch die Beschwerdeangaben eines Versicherten danach überprüfen, ob und inwieweit sie sich mit dem klinischen Befund erklären lassen.

Soweit die Klägerin sich weiter auf den Entlassungsbericht der Tagesklinik für Depressionen in R2 vom 07.06.2023 beruft und vorträgt, dort sei eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode diagnostiziert worden, ist ebenfalls zunächst zu beachten, dass dieser Bericht dem Sachverständigen vorgelegen hat und von diesem auch berücksichtigt worden ist (vgl. Bl. 8 d. Gutachtens, Bl. 83 LSG-Akte). Darüber hinaus verkennt die Klägerin, dass der Sachverständige nicht ausgeschlossen hat, dass insbesondere in Zeiten massiver psychosozialer Belastung neben der bestehenden Dysthymia auch die Merkmale depressiver Episoden erfüllt gewesen sind. Offenlassen kann der Senat in diesem Zusammenhang weiter, ob zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich eine schwere depressive Episode vorgelegen hat, denn selbst wenn, ist nicht nachgewiesen, dass diese länger als sechs Monate angedauert hat. Voraussetzung für das Vorliegen einer rentenrelevanten Erwerbsminderung ist aber, dass diese gesundheitlichen Einschränkungen „auf nicht absehbare Zeit“ (vgl. § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI) bestanden haben, d.h. dies bedeutet grundsätzlich, dass die Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens für länger als sechs Monate vorliegen muss (BeckOGK/Gürtner, [Stand 15.2.2025], SGB VI § 43 Rn. 27, beck-online). Liegt eine zwar (teil)stationär behandlungsbedürftige schwere depressive Episode vor und dauert diese wie hier weniger als sechs Monate an, begründet dies demnach keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI (Stand: 03.04.2024), Rn. 105).

Auch aus dem zuletzt vorgelegten Attest der H2, Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R2 vom 18.01.2025 ergibt sich nichts anderes. Zunächst ist auffällig, dass die Schwere der depressiven Störung nicht näher diagnostiziert, sondern nur eine „anhaltende depressive Störung“ genannt wird. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder das Hinzutreten weiterer Erkrankungen lassen sich dem Bericht nicht entnehmen, zumal diese Ärztin gezielt nach der Vorlage des Sachverständigengutachtens aufgesucht worden ist. Auch der darin getroffenen Leistungseinschätzung kann der Senat nicht folgen. Auch hier ist zu beachten, dass der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige grundsätzlich ein höherer Beweiswert als der Einschätzung der behandelnden Ärzte zukommt (s.o.).

Der Senat ist nach alledem der Überzeugung, dass die Klägerin leichte Tätigkeiten mit den bereits vom SG aufgeführten qualitativen Einschränkungen noch sechs Stunden und mehr arbeitstäglich zumutbar verrichten kann.

Aufgrund der bestehenden qualitativen Einschränkungen ist auch weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung feststellbar (vgl. BSG, Urteil vom 01.03.1984, 4 RJ 43/83 = SozR 2200 § 1246 Nr. 117 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 30.11.1982, 4 RJ 1/82 = SozR 2200 § 1246 Nr. 104), noch die Erwerbsfähigkeit der Klägerin aufgrund einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes - beispielsweise wegen eingeschränkter Wegefähigkeit oder dem Erfordernis betriebsunüblicher Pausen - beeinträchtigt.
Alle Gutachter haben die Wegefähigkeit bejaht und keine Einschränkungen bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und der Fähigkeit vier Mal täglich jeweils mehr als 500 m in weniger als 20 Minuten zurückzulegen, festgestellt. Die Klägerin verfügt zudem über einen Führerschein und Pkw und nutzt diesen auch. Gegenüber S2 hat sie angegeben, dass sie selbst, in Begleitung der Ehefrau, zur Untersuchung gefahren sei. Der Senat kann auch keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die Klägerin betriebsunübliche Pausen benötigt.

Weitere Ermittlungen waren nicht geboten. Der Senat sieht den Sachverhalt durch die eingeholten Gutachten in erster und zweiter Instanz, im Verwaltungsverfahren als umfassend aufgeklärt an. Darüber hinaus ergibt sich weder aus dem Vortrag noch den nach Erhalt des Gutachtens vorgelegten medizinischen Unterlagen ein von dem zum Zeitpunkt der Begutachtung festgestellten Leistungsvermögen abweichender Gesundheitszustand.

Nach alledem besteht kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit besteht schon deshalb nicht, weil die Klägerin 1965 und damit nach dem maßgeblichen Stichtag des § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI geboren ist.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).  


 

Rechtskraft
Aus
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