Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der im Jahr 1966 geborene Kläger, der keinen Beruf erlernt hat, war zuletzt als Textilarbeiter tätig. Mit einer kurzen Unterbrechung ist er seit Juni 2001 arbeitslos. Er steht im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Anträge des Klägers auf die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente vom 17. Januar 2011 und vom 25. August 2014 verliefen für den Kläger erfolglos (Bescheid vom 24. Februar 2011, Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2011, klageabweisendes Urteil des Sozialgerichts Reutlingen [SG; - S 12 R 2372/11 -] vom 18. März 2014 bzw. Bescheid vom 4. September 2014, Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 2015; Rücknahme der hiergegen erhobenen Klage zum SG [- S 2 R 2006/15 -]).
Am 3. Dezember 2018 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer solchen Rente. Er gab hierzu an, an einer Panikstörung und Depressionen zu leiden.
Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 29. Januar 2019 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Einschränkungen, die sich aus den bestehenden Krankheiten oder Behinderungen ergäben, führten nicht zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da der Kläger noch in der Lage sei, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein zu können.
Hiergegen erhob der Kläger am 18. Februar 2019 Widerspruch.
Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung des Klägers bei ihrer ärztlichen Untersuchungsstelle. M1 diagnostizierte beim Kläger anlässlich einer persönlichen Untersuchung des Klägers eine generalisierte Angststörung, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und histrionen Anteilen, Bluthochdruck sowie wiederkehrende Rückenschmerzen ohne neurologisches Funktionsdefizit und ohne Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule. Der Gutachter führte in seinem Gutachten vom 26. Juli 2019 aus, dass der Kläger bei Beachtung qualitativer Einschränkungen in der Lage sei, mittelschwere Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten zu können.
Nach einer sozialmedizinischen Überprüfung auch weiterer ärztlicher Berichte wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2019 zurück. Begründend führte sie aus, unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitlich einschränkten. Dem Kläger sei die Ausübung einer leichten Tätigkeit sechs Stunden täglich und mehr möglich.
Hiergegen hat der Kläger am 20. November 2019 Klage zum SG erhoben. Aufgrund der bestehenden Erkrankungen, einer generalisierten Angststörung, einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, wiederkehrenden Rückenschmerzen und Bluthochdruck sei er, so der Kläger begründend, nicht mehr erwerbsfähig. Ergänzend hat er ausgeführt, dass eine Hypoglykämie, die zu großen Einschränkungen im alltäglichen Leben führe, noch nicht berücksichtigt worden sei. Er hat im Fortgang des Verfahrens weitere medizinische Unterlagen vorgelegt.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat hierzu eine sozialmedizinische Stellungnahme vorgelegt.
Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen. B1 hat in seiner Stellungnahme vom 26. Februar 2020 angegeben, den Kläger in der Zeit ab Mai 2018 lediglich einmalig am 20. Februar 2020 gesehen zu haben. Aufgrund der auf seinem Fachgebiet bestehenden Erkrankungen sei der Kläger noch in der Lage, leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden am Tag verrichten zu können. Die E1 hat unter dem 13. März 2020 angegeben, der Kläger sei dort seit 2010 in hausärztlicher Betreuung. Es bestünden eine rezidivierende depressive Störung in mittelgradiger Episode, eine Panikstörung, eine generalisierte Angststörung, ein zervikaler Schwindel, eine Osteochondrose und Spondylarthrose an der HWS sowie Lumboischialgien. Der Kläger leide unter einer schweren depressiven Episode; ob eine leichte Tätigkeit mit mindestens sechs Stunden verrichtet werden könne, müsse von psychiatrischer Seite entschieden werden. Die R1 hat mitgeteilt, der Kläger befinde sich dort seit März 2018 in ihrer regelmäßigen Behandlung. Dieser leide an generalisierten Ängsten sowie an einer Panikstörung auf dem Boden einer schwerwiegenden kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und ängstlich vermeidenden Anteilen; zudem komme es zu depressiven Einbrüchen. Maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens sei das Fachgebiet der Psychiatrie. Der Kläger sei aufgrund seines psychischen Zustandes nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten von mindestens sechs Stunden täglich verrichten zu können (Stellungnahme vom 2. April 2020).
Das SG hat sodann W1, zur gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens zur Leistungsfähigkeit des Klägers beauftragt. In ihrem nervenärztlichen Gutachten vom 18. Juni 2021 hat W1 ausgeführt, beim Kläger bestehe möglicherweise eine generalisierte Angststörung und möglicherweise eine chronische Lumbalgie ohne radikuläre Ausfälle. Sie hat u.a. ausgeführt, dass eine von ihr durchgeführte Bestimmung des Medikamentenspiegels keine nachweisbaren Spiegel des angeblich eingenommenen Medikaments gezeigt habe. Auch sei festzuhalten, dass beim Kläger ein erheblicher sekundärer Krankheitsgewinn bestehe, weil sich wegen der Erkrankung seine Tochter intensiv um ihn kümmere. In der Untersuchungssituation sei der Eindruck entstanden, dass der Kläger in der Darstellung seiner Symptome übertreibe. Auch seine Angabe, er könne sich sehr schlecht konzentrieren und habe kein Durchhaltevermögen, sei in der Untersuchungssituation nur teilweise nachvollziehbar geworden. Angesichts der hiernach fraglichen Glaubwürdigkeit der Angaben des Klägers lasse sich eine Diagnose nicht mit ausreichender Sicherheit stellen. Auch die Auswirkungen etwaiger Erkrankungen seien deswegen nicht feststellbar, so dass keine Einschränkung in Bezug auf die Dauer der täglichen Erwerbstätigkeit anzunehmen sei.
Der Kläger ist der gutachterlichen Einschätzung entgegengetreten.
Das SG hat noch eine ergänzende sachverständige Zeugenauskunft des B2 eingeholt, der am 13. Juli 2021 mitgeteilt hat, dass der Kläger vom 6. – 11. Mai 2021 stationär im Z1 Klinikum behandelt worden sei. Bei diesem bestünden anamnestisch ein Lendenwirbelsäulensyndrom sowie eine arterielle Hypertonie. Im Rahmen des stationären Aufenthalts seien Laboruntersuchungen sowie ein EKG, das unauffällig war, durchgeführt worden; eine Abdomensonographie sowie eine Darmspiegelung hätten ebenfalls keine wesentlichen Auffälligkeiten gezeigt. Ein oraler Glukosetoleranztest habe den Befund einer reaktiven Hypoglykämie gezeigt. Aus internistischer Sicht bestünden keine Bedenken gegen eine leichte Tätigkeit für mindestens sechs Stunden Dauer.
Mit Gerichtsbescheid vom 23. Dezember 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Eine rentenberechtigende Einschränkung der Erwerbsfähigkeit sei nicht nachgewiesen. Maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens sei vorliegend das psychiatrische Fachgebiet. Jedoch bestehe diesbezüglich beim Kläger nach dem durch W1 erstellten Gutachten lediglich die Möglichkeit für das Bestehen einer generalisierten Angststörung. Angesichts fraglicher Glaubwürdigkeit habe sich bereits eine Gesundheitsstörung nicht mit ausreichender Sicherheit feststellen lassen. So habe die Gutachterin u.a. angegeben, der Kläger habe seine Situation dramatisch und übertrieben geschildert. Eine Validierung der beklagten Beschwerden sei der Gutachterin nicht möglich gewesen. Die gegenüber W1 geklagten Beschwerden seien auch nicht mit den objektivierbaren Befunden vereinbar gewesen. Auch die Angaben des Klägers, sich sehr schlecht konzentrieren zu können und kein Durchhaltevermögen zu haben, seien angesichts des psychischen Befundes nur teilweise nachvollziehbar. Schließlich habe der Kläger ausdrücklich die Einnahme des Antidepressivums Paroxetin auch am Untersuchungstag angegeben; eine durchgeführte Blutspiegelbestimmung habe jedoch gegen eine Einnahme gesprochen. Unter Mitberücksichtigung der Tatsache, dass bei dem Kläger ein erheblicher sekundärer Krankheitsgewinn bestehe, weil sich seine Tochter wegen seiner Erkrankung intensiv um ihn kümmere, könne nach den Angaben vom W1 eine Angsterkrankung in dem vom Kläger geschilderten Ausmaß nicht mit hinreichender Sicherheit objektiviert und festgestellt werden. Eine rentenbegründende Leistungseinschränkung sei daher nicht nachgewiesen; dies gehe zu Lasten des Klägers.
Gegen den ihm am 29. Dezember 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 1. Februar 2022, einem Dienstag, Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung hat er eine ärztliche Stellungnahme der R1 (Psychiatrische Institutsambulanz B3) vom 12. April 2022 vorgelegt, in der ausgeführt wird, dass beim Kläger eine Panikstörung im Vordergrund stehe und aufgrund einer schwerwiegenden kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstisch-ängstlich-vermeidenden Anteilen keine weiterführende Therapie möglich sei. Der Kläger sei nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten zu verrichten. In der mündlichen Verhandlung vom 18. März 2025 hat der Kläger weitere ärztliche Unterlagen, u.a. einen Bericht über eine Thorax- Computertomographie am 22. März 2024, eine Computertomographie der LWS am 26. März 2024, eine Herzkatheteruntersuchung am 25. September 2023, den vorläufigen Arztbrief betr. einer stationären Behandlung vom 6. – 11. Mai 2021 in der Klinik für Innere Medizin am Z1 Klinikum B3 sowie Arztbriefe des B1 vorgelegt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. Dezember 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2019 zu verurteilen, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 1. Dezember 2018 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung ihres Antrages verweist die Beklagte auf ihren erstinstanzlichen Vortrag und die aus ihrer Sicht zutreffenden Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides. Ergänzend hat sie eine sozialmedizinische Stellungnahme der H1 vom 29. Juni 2022 vorgelegt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insb. des Vorbringens der Beteiligten wird auf die (elektronisch geführten) Prozessakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 18. März 2025 geworden sind und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18. März 2025 verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte (vgl. § 143 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) Berufung des Klägers ist zulässig.
Zwar ist die Berufung nicht fristgerecht erhoben worden, dem Kläger ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Nach § 151 Abs. 1 i.V.m. § 105 Abs. 3 Hs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGG ist die Berufung beim LSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Gemäß § 151 Abs. 2 Satz 1 SGG ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem SG schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Der Gerichtsbescheid des SG vom 23. Dezember 2021, dem eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung (vgl. § 66 SGG) angeschlossen war, ist dem Kläger ausweislich der aktenkundigen Postzustellungsurkunde am 29. Dezember 2021 (durch eine persönliche Übergabe) zugestellt worden. Die Monatsfrist des § 151 Abs. 1 SGG begann hiernach mit dem 30. Dezember 2021 zu laufen (§ 64 Abs. 1 SGG). Sie endete nach § 64 Abs. 2 SGG mit dem Ablauf desjenigen Tages des (folgenden) Monats, welcher nach seiner Benennung dem Tag entspricht, in den der Zeitpunkt der Zustellung fällt. Dies bedeutet, dass die Frist grds. am 29. Januar 2022 abgelaufen ist. Da dieser Tag jedoch ein Samstag war, endete die Berufungsfrist nach § 64 Abs. 3 SGG mit Ablauf des nächsten Werktags, vorliegend am Montag, dem 31. Januar 2022. Da das Berufungsschreiben des Klägers vom 28. Januar 2022 jedoch erst am 1. Februar 2022 beim Landessozialgericht eingegangen ist, ist die Berufung verfristet eingelegt worden.
War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm jedoch nach § 67 Abs. 1 SGG auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 67 Abs. 2 Satz 1 SGG). Nach § 67 Abs. 2 Satz 3 SGG ist die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist ist nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung nach 67 Abs. 2 Satz 4 SGG auch ohne Antrag gewährt werden. Da der Kläger innerhalb der Antragsfrist die Berufung erhoben hat, entscheidet der Senat auch ohne entsprechenden Antrag des Klägers. Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Es ist dem Senat glaubhaft, dass dem Kläger i.S.d. § 67 Abs. 1 SGG kein Verschulden zur Last gelegt werden kann. Gemäß § 276 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bedeutet Verschulden u.a. Fahrlässigkeit. Fahrlässig handelt gemäß § 276 Abs. 2 BGB, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. § 67 Abs. 1 SGG liegt ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab zugrunde. Ein Fristversäumnis ist deshalb dann nicht verschuldet, wenn ein Beteiligter die ihm zumutbare Sorgfalt beachtet, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zur gewissenhaften Prozessführung nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise erforderlich ist (Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 27. März 2017 - B 9 V 68/16 B – in juris, dort Rn. 10). Umgekehrt ist eine Fristversäumnis dann schuldhaft, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten ist. Vorliegend hat der Kläger zur Überzeugung des Senats die Berufungsfrist nicht schuldhaft versäumt. Ihm ist insb. in Zusammenhang mit der Beförderung seines Berufungsschreibens durch die Deutsche Post AG kein Verschulden anzulasten. Das Berufungsschreiben des Klägers datiert auf den 28. Januar 2022. Ausweislich des aktenkundigen Briefumschlags, mit dem die Berufungsschrift versandt worden ist, hat der Kläger das Schreiben am 29. Januar 2022 zur Post aufgegeben. Bei einem Transport durch die Deutsche Post AG darf der Absender darauf vertrauen, dass die Post die normalen Postlaufzeiten einhält. Nach § 2 Nr. 3 Satz 1 der Postuniversaldienstleistungsverordnung vom 15. Dezember 1999 (BGBl. I. S. 4218) müssen die Postunternehmen sicherstellen, dass sie an Werktagen aufgegebene Inlandsendungen im ganzen Bundesgebiet im Jahresdurchschnitt mindestens zu 80 v.H. am ersten Tag nach der Einlieferung ausliefern. Der Absender darf deshalb bei werktags aufgegebenen Schriftstücken mit der Auslieferung am nächsten Werktag rechnen (BSG, Beschluss vom 27. November 2018 - B 2 U 17/18 B - in juris, dort Rn. 9; BSG; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Schmidt, SGG, 4. Aufl.2023, § 67 Rn. 6a m.w.N.). Dies gilt auch bei Aufgabe zur Post an einem Freitag (BSG, Beschluss vom 9. Mai 2022 - B 5 R 11/22 BH -, in juris, dort Rn. 10). Dies bedeutet, dass der Kläger darauf vertrauen durfte, dass sein am 29. Januar 2022 zur Post aufgegebenes Schriftstück am folgenden Werktag, d.h. am 31. Januar 2022, einem Montag, beim LSG eingehen wird. Da den Kläger mithin kein Verschulden an der Versäumung der Klagefrist trifft, ist ihm Widereinsetzung in die Berufungsfrist zu gewähren.
Die Berufung führt jedoch für den Kläger inhaltlich nicht zum Erfolg; das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2019 (Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2019), mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat. Dieser Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; dieser hat keinen Anspruch auf die begehrte Erwerbsminderungsrente.
Nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) oder Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeinen Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer - unabhängig von der Arbeitsmarktlage - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Hieraus folgt, dass grundsätzlich allein eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher (quantitativer) Hinsicht eine Rente wegen Erwerbsminderung zu begründen vermag, hingegen der Umstand, dass bestimmte inhaltliche Anforderungen an eine Erwerbstätigkeit aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht mehr verrichtet werden können, einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung grundsätzlich nicht zu begründen vermag.
Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss hierbei im Wege des sog. Vollbeweises erfolgen. Vom Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R -, in juris). Wird die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung geltend gemacht, muss mithin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass das Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist; bloße Zweifel an der Erwerbsfähigkeit genügen nicht (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2020 - L 5 R 3680/17 -, in juris, dort Rn. 30). Können Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Feststellungslast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (vgl. BSG, Urteil vom 23. Oktober 1996 - 4 RA 1/96 -, in juris).
In Anlegung dieser Maßstäbe ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers in quantitativer Hinsicht eingeschränkt ist. Der Senat kann hierbei offenlassen, ob beim Kläger Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet, insb. eine generalisierte Angststörung und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, bestehen, da es im Kontext der Frage des Vorliegens einer Erwerbsminderung nicht maßgebend ist, ob und welche Gesundheitsstörung in welcher Graduierung vorliegt, entscheidend ist vielmehr einzig, ob Leistungseinschränkungen bestehen, die der Ausübung einer Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden täglich entgegenstehen. I.d.S. kommt es (bei Rentenbegutachtungen) weniger auf die Diagnosestellung, als auf bestehende Leistungseinschränkungen an (vgl. Thüringer LSG, Urteil vom 30. Juni 2015 - L 6 R 166/08 ZVW -, in juris), ob diese gesichert bestehen und ggf. überwunden werden können. Maßgebend für die Annahme einer rentenrechtlich relevanten Leistungseinschränkung ist vielmehr, ob das in Ansehung der funktionellen Auswirkungen der psychischen Erkrankung verbleibende Fähigkeitsprofil des Versicherten, insb. im Hinblick auf Struktur, Teilhabe und Aktivität, eine Teilnahme am Erwerbsleben zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erlaubt. Grundlage dieses Abgleichs bildet der psychische Befund und die individuelle Ausprägung der verschiedenen psychischen Qualitäten (Bewusstsein, Orientierung, Auffassung/Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen, Gedächtnis, formales und inhaltliches Denken, Wahrnehmung, Ich-Erleben, Affektivität, Antrieb, Flexibilität und subjektives Krankheitsverständnis und Krankheitserleben). Funktionsbeeinträchtigungen, in gegebenem Kontext insb. die geistig-psychische Belastbarkeit, sind im Recht der Erwerbsminderungsrenten nur dann relevant, wenn sie sich auf die Fähigkeit zur Teilhabe unter besonderer Berücksichtigung des Erwerbslebens quantitativ (im Gegensatz zur bloß qualitativen Einschränkungen) auswirken. Das verbleibende qualitative Leistungsvermögen (positiv wie negativ) hat i.d.R. keine prägende Bedeutung für die rentenrechtlich erforderliche Reduzierung des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht. Erst wenn die Beeinträchtigungen durch die psychische Störung so gravierend sind, dass die Lebensführung durch sie geprägt wird, ist von einem quantitativ geminderten Leistungsvermögen auszugehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Regel nicht nur in der Teilhabe am Erwerbsleben manifestieren, sondern in allen Lebensbereichen mehr oder weniger starke Auswirkungen zeitigen. Hieraus folgt, dass von einer Minderung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben auszugehen ist, wenn die psychische Störung die gesamte Lebensführung übernommen hat.
Bezugspunkt der für die Rentengewährung erforderlichen (quantitativen) Leistungsreduzierung ist hierbei der „allgemeine Arbeitsmarkt“. Der Arbeitsmarktbegriff des § 43 SGB VI erfasst alle denkbaren Tätigkeiten, für die es faktisch ein „Angebot“ und eine „Nachfrage“ gibt. „Allgemein“ grenzt hierbei den ersten Arbeitsmarkt von dem zweiten - öffentlich geförderten – Arbeitsmarkt sowie von Sonderbereichen, wie bspw. Werkstätten für behinderte Menschen und anderen geschützten Einrichtungen ab. Übliche Bedingungen umschreibt die Faktoren, die wesentliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses sind. Neben den gesetzlichen Regelungen (bspw. zur Dauer und Verteilung der Arbeitszeit) rechnen auch individuelle Umstände wie kognitive Grundfähigkeiten, die krankheitsbedingt herabgesetzt sein können, hierzu. Mithin ist für die Annahme einer quantitativen Leistungseinschränkung erforderlich, dass die für die Ausübung einer Tätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz nicht (mehr) vorliegen (vgl. Freudenberg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl. [Stand 1. April 2021], § 43 SGB VI, Rn. 164 ff.).
Dass diese Fähigkeiten beim Kläger nicht mehr vorhanden sind, ist für den Senat nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit belegt. Die von W1 anlässlich der persönlichen Untersuchung des Klägers erhobenen psychopathologischen Befunde belegen keine derart schwerwiegende Beeinträchtigung des Klägers. So hat die Gutachterin ein gutes Aufmerksamkeitsniveau, einen erhaltenen Antrieb und eine nur mäßig reduzierte affektive Resonanzfähigkeit beschrieben. Störungen des Gedächtnisses hat sie nicht beschrieben. Die Gutachterin hat in diesem Zusammenhang, wie auch bei der Diagnose, vielmehr darauf verwiesen, dass die erhobenen Befunde nicht mit den geklagten Beschwerden in Einklang zu bringen sind, der Kläger überdies, anders als von ihm mitgeteilt, die ihm verordneten Medikamente nach einer durchgeführten Bestimmung des Medikamentenspiegels nicht eingenommen hat und schließlich ein erheblicher sekundärer Krankheitsgewinn beim Kläger bestehe. In Ansehung dieser Befundlage sowie der Auffälligkeiten ist der Senat nicht vom Bestehen einer quantitativen Leistungsreduzierung überzeugt. Die Angaben der behandelnden Ärzte, auch die im Berufungsverfahren vorgelegte Stellungnahme der R1 vom 12. April 2022 benennen gleichfalls keine gravierenden Befunde.
Soweit der Kläger auch an Gesundheitsstörungen auf anderen Fachgebieten leidet, begründen auch diese zur Überzeugung des Senats keine quantitative Leistungsreduzierung. Weder betr. der Wirbelsäulenerkrankung noch betr. die Erkrankungen auf internistischem Fachgebiet sind schwerwiegende Befunde mitgeteilt worden. Auch die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 18. März 2025 beigebrachten medizinischen Unterlagen geben Befunde wieder, die eine rentenbegründende Einschränkung belegen.
Mithin ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers durch die bestehenden Gesundheitsstörungen in quantitativer Hinsicht eingeschränkt ist. Der Kläger ist daher weder teilweise, noch voll erwerbsgemindert.
Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger unter dem Aspekt einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer spezifischen Leistungsbehinderung bzw. eines verschlossenen Arbeitsmarktes eine Verweisungstätigkeit zu benennen ist. liegen nicht vor.
Der Kläger hat mithin keinen Anspruch auf die Gewährung einer vollen oder einer teilweisen Rente wegen Erwerbsminderung.
Ein Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit) scheidet bereits deswegen aus, weil der Kläger nicht vor dem 2. Januar 1961 geboren ist (vgl. § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI).
Der Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2019 erweist sich daher als rechtmäßig, weswegen die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 23. Dezember 2021 zurückzuweisen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt im Rahmen der anzustellenden gerichtlichen Ermessensentscheidung (vgl. BSG, Beschluss vom 25. Mai 1957 - 6 RKa 16/54 -, in juris, dort Rn. 8), dass der Kläger mit seinem Begehren nicht durchgedrungen ist und die Beklagte keine Veranlassung für die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens gegeben hat.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 2598/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 276/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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