S 38 SO 9/22

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Lüneburg (NSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Lüneburg (NSB)
Aktenzeichen
S 38 SO 9/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze

Schulkinder, die im Familienhaushalt leben, können auch Assistenzleistungen an den Nachmittagen, die sie zu Hause verbringen, erhalten. Die allgemeine Unterhaltspflicht der Eltern aus § 1601 BGB umfasst zwar auch pflegerische und medizinische Unterstützung. Der behinderungsbedingte Bedarf an Assistenzleistungen geht jedoch darüber hinaus und führt zu einer entsprechenden Pflicht des Eingliederungshilfeträgers, dieses Angebot zu erbringen. Insbesondere können Kinder nicht darauf verwiesen werden, den Familienhaushalt zu verlassen und in eine besondere Wohnform zu ziehen.

  1. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab Antragstellung Assistenzleistungen zu bewilligen sowie bereits angefallene Kosten zu erstatten.
  2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Assistenzleistungen an den Nachmittagen und 14tägig an den Wochenenden sowie während der Schulferien.

Der am F. geborene Kläger stellte mit Schreiben vom 5. Februar 2021, eingegangen beim Beklagten am 9. Februar 2021, einen Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe.

Beim Kläger ist ein Grad der Behinderung von 80 anerkannt, das Merkzeichen H ist zuerkannt. Seit dem 1. März 2017 besteht Pflegegrad 4. Als Diagnosen sind fragiles X-Chromosom, eine Intelligenzminderung und eine globale Entwicklungsetablierung gestellt. Ausweislich eines Pflegegutachtens des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 25. November 2019 hatte der Kläger im November 2019 noch keine Sprache entwickelt, er lautierte. Als Hilfsmittel waren unter anderem Inkontinenzhosen bewilligt. Auf das Gutachten wird Bezug genommen.

Der Kläger ist bei den Fachärztinnen für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie G. und H. in Behandlung. Ausweislich des Arztbriefes von G. vom 29. Oktober 2020 entwickelt sich der Kläger langsam. Die übrigen Befunde decken sich mit denen im Pflegegutachten.

Der Kläger besucht die Kurt-Löwenstein-Schule in Bleckede, ein Förderzentrum mit Schwerpunkt Geistige Entwicklung und Lernen, die mittags endet. Ein ganztägiges Schulangebot gibt es für die Förderschulkinder nicht.

Der Kläger lebt bei seiner Familie. Er hat drei Schwestern, wobei die älteste Schwester erwachsen ist und nicht mehr im Familienhaushalt lebt. Eine weitere Schwester ist zwei Jahre älter, I., geboren am J., die dritte Schwester ist drei Jahre jünger, K., geboren am L.. Die Eltern sind beide in Vollzeit berufstätig, die Mutter als Pflegekraft und der Vater als Soldat, mit Schichtdiensten, 14-tägigen Wochenenddiensten und auswärtigen Aufenthalten. Die Familie lebt in einem Einfamilienhaus mit sechs Zimmern und Garten, der Kläger hat ein eigenes Kinderzimmer.

Mit dem Antrag begehrt der Kläger Assistenzleistungen für die Nachmittage und 14tägig für die Wochenenden sowie während der Schulferien. Den für den Kläger gestellten Antrag begründeten die Eltern damit, dass der Kläger an den Nachmittagen von montags bis donnerstags für 4 Stunden und an den Freitagen für 2 Stunden sowie in den Ferien an den Wochentagen jeweils 4 Stunden Assistenzleistungen benötige, an jedem zweiten Wochenende von samstags 8 Uhr bis Sonntag 18:00 Uhr weitere Assistenzleistungen. Die Assistenz könne unter der Woche durch M., Diplomsozialarbeiterin, erbracht werden, bei der der Junge bereits in die Betreuung gehe und die bislang über die Verhinderungspflege finanziert worden sei. Dort seien auch andere Kinder. Frau N. nehme einen Stundensatz von 27,50 €. Sie habe bereits durch ihre Förderung Ziele in der Sauberkeitserziehung, beim Fahrradfahren, beim selbständigen An- und Ausziehen, bei der Verbesserung des Essverhaltens erreicht. Auch habe der Kläger durch ihre Förderung einige Ängste ablegen können. Der Kläger lerne dort darüber hinaus, mit anderen Kindern zu spielen. An den Wochenenden könne er 14tägig von O., Pflegefachkraft und seine Tante, betreut und gefördert werden, der Stundensatz läge bei sechs Euro.

Im Verlauf des Antragsverfahrens unternahm der Kläger einen Versuch, ein Wochenende in den Rotenburger Werken zu verbringen. Ziel war, 14tägig an den Wochenenden eine Unterbringung dort zu erreichen. Dieses scheiterte daran, dass der zu dem Zeitpunkt achtjährige Kläger zurück in seine gewohnte Umgebung wollte und einen weiteren Aufenthalt dort unter Tränen verweigerte. Von Seiten des Beklagten wurde hierauf insoweit reagiert, dass weitere Versuche zu empfehlen seien und man generell eine vollstationäre Unterbringung des Klägers für zielführender halte (E-Mail vom 25. Februar 2021). Mit E-Mail vom 10. August 2021 konkretisierte die Mutter des Klägers den Antrag dahingehend, dass wöchentlich 12,75 Stunden Assistenzleistungen während der Schulzeit begehrt werden.

Mit Bescheid vom 16. August 2021 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte er unter anderem aus: „Ein den Bedürfnissen von Henry entsprechendes innerfamiliäres Bezugssystem ist Voraussetzung für die Sicherstellung der Wirkung und Wirksamkeit von Leistungen der Eingliederungshilfe, da hierdurch erst die notwendigen Strukturen geschaffen werden, die eine zielgerichtete Leistung erst ermöglichen. Somit ist aktuell davon auszugehen, dass Leistungen der sozialen Teilhabe erst wirksam werden können, wenn entsprechend der von Ihnen formulierten Zielsetzungen innerhalb des Familiensystems, welches aktuell P. engstes Bezugssystem darstellt, Strukturen geschaffen werden, mittels derer Q. die Möglichkeit geboten wird, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu kommunizieren sowie sich in dem innerfamiliären Regelsystem zu orientieren. Sind diese Rahmenbedingungen geschaffen, besteht die Möglichkeit, unterstützt durch Leistungen zur sozialen Teilhabe, wirksam einen Transfer der für Q. im Familiensystem erprobten Umweltbedingungen (zum Beispiel Strukturen, die ihm das Zeigen erwünschter Verhaltensweisen ermöglichen) auch außerhalb des familiären Bezugssystems zu schaffen. Dem entsprechend kann aktuell eine die Betreuung und Förderung von Q. im elterlichen Haushalts ergänzende Assistenzleistung nicht als Bedarfsdeckung der Eingliederungshilfeleistung eingeschätzt werden. Als wirksame Eingliederungshilfemaßnahme würden zum aktuellen Zeitpunkt ausschließlich Assistenzleistungen in einer besonderen Wohnform (Betreuung über Tag und Nacht) zur Verfügung stehen, sofern sie die alltägliche Betreuungs- und Förderungsverantwortung abgeben möchten, da dieses Setting eine ganzheitliche Deckung der erzieherischen und behinderungsbedingten Bedarf ermöglicht.“

Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein, den er unter anderem damit begründete, dass Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen die Möglichkeit gegeben werden sollte, bei ihren Familien zu wohnen und nicht in entsprechenden Wohneinrichtungen.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 2022 (Empfangsbestätigung des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 11. Januar 2022) zurück. Zur Begründung wurde die Begründung aus dem Ablehnungsbescheid vom 16. August 2021 nahezu wortgleich wiederholt. Der Beklagte betonte dabei wie folgt: „wie bereits mitgeteilt, kämen als wirksame Eingliederungshilfemaßnahmen zum aktuellen Zeitpunkt ausschließlich Assistenzleistungen in einer besonderen Wohnform (Betreuung über Tag und Nacht) als Möglichkeit in Betracht, sofern die Eltern die tägliche Betreuung-und Förderung Verantwortung als Entlastung abgeben möchten, da nur dieses Setting momentan eine ganzheitliche Deckung der erzieherischen, pflegerischen und behinderungsbedingten Bedarfe ermöglicht. Diese Möglichkeit wurde von den Eltern aber abgelehnt. Als Begründung wurde hierfür ein gescheiterter Versuch einer stationären Wochenendbetreuung angeführt. Anzumerken hierzu ist aber, dass eine entsprechende Unterbringung, gerade für ein Kind in dem Alter, nicht einfach kurzfristig ausprobiert werden kann, wenn sie erfolgreich sein soll, sondern sie müsste stattdessen sehr sorgfältig und behutsam vorbereitet werden. Auch eine Gewährung der beantragten Eingliederungshilfe/Teilhabeleistungen nach dem SGB VIII kann nicht erfolgen, da diese gemäß § 35a SGB VIII nicht für Kinder mit einer geistigen, sondern mit einer seelischen Behinderung gewährt werden können, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen.“

Mit der am 11. Februar 2022 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Der Kläger beantragt,

       wie erkannt.

Die Beklagte beantragt,

       die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Die Kammer hat die Beteiligten vor Entscheidung durch Gerichtsbescheid ordnungsgemäß angehört und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid gegeben (§ 105 Abs. 1 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Gemäß § 105 SGG konnte das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten vor Erlass ordnungsgemäß angehört wurden.

Die zulässige Klage hat Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Assistenzleistungen nach § 113 Abs. 2, § 78 Abs. 1, 2 SGB IX.

Unstreitig gehört der Kläger zum leistungsberechtigten Personenkreis nach §§ 98, 99 SGB IX. Nach § 99 Abs. 1 SGB IX erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX Leistungen der Eingliederungshilfe, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann. Nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen solche, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit Einstellung-und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate ändern können. Der Gesetzgeber definiert die genannte Beeinträchtigung als eine solche, wenn der Körper-und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Der Kläger leidet an einem fragilen X-Syndrom, einer Intelligenzminderung und Entwicklungsretardierung. Für seinen Alltag bedeutet dies, dass er in nahezu allen Bereichen Unterstützung und Begleitung benötigt und nicht altersentsprechend Selbstständigkeit entwickelt. Der Kläger ist motorisch sehr unruhig, immer in Bewegung, zersört in kürzester Zeit um in herumstehendes Essen, Spielzeug, Gegenstände. Spielsteine werden durch die Gegend geworfen. Mehrfach am Tag kommt es zu schweren Wutausbrüchen mit Zerstörungswut und autoaggressivem Verhalten. Der Kläger haut, schimpft und kratzt seine Pflegepersonen. Alle Mahlzeiten können nur unter kontinuierlicher Anleitung und Beaufsichtigung eingenommen werden. Der Kläger versteht alltägliche Regeln und Strukturen nicht, Gefahren im Haushalt und Straßenverkehr sind ihm nicht bekannt und können nicht eingehalten werden. Körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Harndrang oder Stuhldrang kann er nicht spüren und äußern und fordert die nötige Hilfestellung nicht ein. Es besteht kein ausreichendes Sättigungsgefühl, Schmerzen werden nicht ausreichend wahrgenommen. Insgesamt ist der Kläger impulsgesteuert und zeigt kein altersentsprechendes Spielverhalten. Die Nächte schläft der Kläger nicht durch und muss mehrfach ins Bett zurückgebracht werden. Nachts steht er auf und verwüstet das Haus. Eine Fortbewegung außerhalb der Wohnung ist auf allen Wegen nur mit personeller Hilfe möglich, genauso wie die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Nahverkehr und selbst das Mitfahren in einem Kraftfahrzeug ist nur mit einem zusätzlichen Fahrer möglich, da der Kläger auch während der Fahrt Hilfe benötigt. Eine Teilnahme an kulturellen, religiösen oder sportlichen Veranstaltung ist nur mit unterstützender Begleitung möglich genauso wie die Teilnahme an sonstigen Aktivitäten mit anderen Menschen.

So ist sein Bedarf, an Toilettengänge erinnert zu werden, beim Essen Unterstützung zu erhalten, beim Spielen beaufsichtigt und gefördert zu werden in einem Maße vorhanden, wie es bei gleichaltrigen Kindern ohne Behinderung nicht der Fall ist. Auch beim Spielen muss er angeleitet und insbesondere beim Spielen mit anderen Kindern begleitet und unterstützt werden. Seine Fähigkeiten sind insgesamt im Vergleich zur Altersgruppe deutlich retardiert.

Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse vom 25. November 2019 sowie aus der gesamten Verwaltungsakte.

Die Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 90 Abs. 1 und 5 SGB IX, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können. Besondere Aufgabe der sozialen Teilhabe ist es, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Diese Aufgabe konkretisiert der Gesetzgeber in einem Anspruch für die Leistungsberechtigten in § 113 SGB IX. Nach § 113 Abs. 1 Satz 2 SGB IX gehört dazu, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen.

Nach § 113 Abs. 2 Nummer 2 SGB IX sind Leistungen zur Sozialen Teilhabe insbesondere Leistungen, die gemäß § 113 Abs. 3 nach § 78 SGB IX bestimmt werden.

Nach § 78 Abs. 1 SGB IX werden zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe an gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportliche Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.

Nach § 78 Abs. 2 entscheiden die Leistungsberechtigten auf der Grundlage des Teilhabeplan nach § 19 über die konkrete Gestaltung der Leistungen hinsichtlich Ablauf, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme. Die Leistungen umfassen

1. Die vollständige und teilweise Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung sowie die Begleitung der Leistungsberechtigten und

2. Die Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung. Die Leistungen nach Nummer 2 werden von Fachkräften als qualifizierte Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere die Anleitungen und Übungen in den Bereichen nach Abs. 1 Satz 2.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor. Der Kläger benötigt in nahezu allen Lebensbereichen eines 8 bzw. inzwischen 11jährigen Kindes Begleitung, Anleitung und Unterstützung weit über dem Maße Gleichaltriger. Die in § 90 SGB IX beschriebenen Ziele der Ermöglichung einer individuellen Lebensführung und der Förderung einer vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft konkretisieren sich im vorliegenden Einzelfall in einem Anspruch auf qualifizierte Assistenz nach § 78 Abs. 2 Nummer 2 SGB IX. Der Kläger hat Bedarf in der selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung seines Alltags und insbesondere in der Gestaltung seiner sozialen Beziehen. Er muss hierin unterstützt und befähigt werden.

Diese Leistungen werden von keiner anderen Stelle erbracht, der behinderungsbedingte Bedarf des Klägers ist aber gegeben. Vormittags wird der Kläger schulisch gefördert. Auch wenn im Rahmen der Förderschule Überschneidungen zu den Bereichen Assistenzleistungen gegeben sind, ist das Ziel dort die schulische Förderung und die Entwicklung des Klägers in intellektuellen Fähigkeiten wie Rechnen und Schreiben. Neben der schulischen Förderung hat der Kläger einen darüber hinausgehenden Bedarf zur Erlangung von Fertigkeiten insbesondere zur Tagesstrukturierung, zur Gestaltung sozialer Beziehungen zur Befähigung einer eigenständigen Alltagsbewältigung. Hierzu zählen insbesondere die Sauberkeitserziehung, die Essenserziehung, die Überwindung von Ängsten, das Spielen allein oder mit anderen Kindern.

Dieser Bedarf besteht beim Kläger in umfassender Weise, da er bislang zu keiner eigenständigen Erledigung des Alltags, der Gestaltung seiner sozialen Beziehungen, der Tagesstrukturierung und einer altersentsprechenden eigenständigen Lebensführung in der Lage ist, sondern hierfür eine ständige Betreuung und Förderung auch an den Wochenenden benötigt. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den vorliegenden Unterlagen Gutachten. So lässt sich bereits dem Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenkassen vom 25. November 2019 entnehmen, dass der Kläger motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten aufweist, täglich nächtliche Unruhe, selbstschädigenden des und autoaggressives Verhalten, Gegenstände beschädigt, physisch und aggressiv gegenüber anderen Personen ist, pflegerische und andere unterstützende Maßnahmen abwehrt. Er ist vollkommen unselbstständig bei der Benutzung einer Toilette und überwiegend unselbstständig beim Essen und Trinken, völlig unselbstständig beim An- und Auskleiden. Er kann sich außerhalb der Wohnung nur mit personeller Hilfe weiterbewegen, selbst das Mitfahren in einem Kraftfahrzeug ist mit einem zusätzlichen Fahrer möglich, da er auch während der Fahrt Hilfe benötigt. Die Teilnahme an Veranstaltungen und sonstigen Aktivitäten mit anderen Menschen ist nur mit unterstützender Begleitung möglich. Damit liegen alle Voraussetzungen Gewährung einer qualifizierten Assistenz vor, die sowohl begleitet als auch die Ausbildung entsprechender Fähigkeiten fördert und sicherstellt. Gestützt wird dieses Ergebnis durch den Arztbrief der behandelnden Neuropädiatrie G. vom 29. Oktober 2020. Diese beschreibt ein motorisch unruhiges, zum Teil sehr lautes Kind mit deutlich eingeschränktem Sprachverständnis und Umsetzungsvermögen.

Der Beklagte hat diesen Anspruch ausweislich des angegriffenen Ausgangsbescheides in Gestalt des Widerspruchsbescheides bereits anerkannt, als es dort heißt: „wie bereits mitgeteilt, kämen als wirksame Eingliederungshilfemaßnahmen zum aktuellen Zeitpunkt ausschließlich Assistenzleistungen in einer besonderen Wohnform (Betreuung über Tag und Nacht) als Möglichkeit in Betracht (…)“.  Soweit der Beklagte dabei der Auffassung ist, diese Leistungen könnten lediglich in einer vollstationären Einrichtung erbracht werden, so ist dies falsch. Assistenzleistungen können auch ambulant erbracht werden. Dies ergibt sich zum einen aus dem Gesetz, wonach es auf den Ort der Assistenzleistung nicht ankommt. Darüber hinaus ist nach dem Willen des Gesetzgebers den Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen, soweit diese angemessen sind, § 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Der Kläger war bei Antragstellung erst acht Jahre alt und ist mittlerweile elf Jahre alt. Es ist fernliegend, einem so jungen Kind den Auszug aus dem Familienhaushalt nahezulegen. Dass der Gesetzgeber das Teilhaberecht gerade dafür entwickelt hat, die Selbstbestimmung der Menschen in den Vordergrund zu stellen und insbesondere durch den Tatbestand der Assistenzleistungen zu entwickeln bzw. sicherzustellen (Torsten Schaumberg in: Hauck/Noftz SGB IX, 4. Ergänzungslieferung 2024, § 78 SGB 9 2018, Rz 6), macht dies überdeutlich. Darüber hinaus sollte mit Einführung des Tatbestands klargestellt werden, dass die in vollstationären Einrichtungen gewährten Leistungen auch für außerhalb von Einrichtungen lebende Menschen mit Behinderungen umfänglich gesichert werden (Fuchs/Ritz/Rosenow/Fuchs, 7. Aufl. 2021, SGB IX § 78 Rn. 4).

Unschädlich ist, dass kein Teilhabeplan erstellt wurde. Dieser ist insoweit nur ein Hilfsinstrument für die Konkretisierung des Bedarfs, soweit erstellt wurde. Die Aufstellung eines Teilhabeplan ist nicht Voraussetzung für die Gewährung von Assistenzleistungen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass kein Teilhabeplan aufgestellt werden muss, wenn der Betroffene keinen Wunsch dahingehend geäußert hat. Für den Anspruch auf Assistenzleistungen ist dies unschädlich (Torsten Schaumberg in: Hauck/Noftz SGB IX, 4. Ergänzungslieferung 2024, § 78 SGB 9 2018, Rz 14). Der Kläger hätte im Übrigen auch gar nicht in der Hand, dass der Beklagte einen Teilhabeplan erstellt.

Der Anspruch des Klägers besteht darüber hinaus unabhängig von seinem Alter. Insbesondere hat er keinen diesen Bedarf ersetzenden oder vorrangig geltend zu machen Anspruch gegen seine Eltern. Die sich aus § 1601 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ergebende Unterhaltspflicht der Eltern beinhaltet zwar auch eine grundlegende medizinische und pflegerische Unterstützung. Das Maß der hier für den Kläger erforderlichen Unterstützung und Begleitung geht jedoch weit über das hinaus, was die Eltern zu erbringen gesetzlich verpflichtet sind. Im Übrigen besteht eine Unterhaltspflicht im engeren Sinne immer nur insoweit, als die Eltern leistungsfähig sind (BeckOGK/Selg, 15.11.2024, BGB § 1601 Rn. 11-12). Diese Leistungsfähigkeit ist vorliegend angesichts der Berufstätigkeit der Eltern und der weiteren im Haushalt lebenden und der Unterstützung ebenfalls bedürfenden Geschwister eingeschränkt.

Der Nachrang der Eingliederungshilfe nach § 91 SGB IX bleibt gewahrt. Nach § 91 Abs. 1 SGB IX erhält Eingliederungshilfe nicht, wer die erforderliche Leistung von anderen oder von anderen Sozialleistungsträgern erhält. Im Falle des Klägers ist der Anspruch auf Verhinderungspflege gegenüber der Pflegekasse ausgeschöpft.

Die Entscheidung des Beklagten steht dem Anspruch nicht entgegen. Soweit der Beklagte darauf verweist, der Kläger benötige zunächst eine Tagesstrukturierung, so ist genau dies eine der Aufgaben der zu gewährenden Assistenzleistungen.

Soweit Kosten bereits angefallen sind, so sind diese zu erstatten, weil sie notwendig waren und der Kläger die Assistenzleistungen Tag für Tag seit Antragstellung benötigte. Die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung nach § 18 Abs. 6 SGB IX liegen vor. Die Leistungen wurden vorliegend auch von Fachkräften erbracht. Der Gesetzgeber definiert insoweit selbst nicht, was unter einer Fachkraft zu verstehen ist (Torsten Schaumberg in: Hauck/Noftz SGB IX, 4. Ergänzungslieferung 2024, § 78 SGB 9 2018, Rz 20). Pflegefachkräfte und Diplomsozialarbeiter dürften unstreitig dazu zählen. Den Beklagten trifft ohnehin der personenzentrierte Sicherstellungsauftrag nach § 95 SGB IX.

Die Entscheidung zu den Kosten ergibt sich aus §§ 193 Abs. 1, 183 SGG.

 

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