L 7 KA 1/24

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 22 KA 4/22
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 1/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der den Zulassungsgremien bei einer Entscheidung über einen Antrag auf Sonderbedarfszulassung eröffnete Beurteilungsspielraum setzt als Grundlage einen ausreichend ermittelten Sachverhalt voraus. 

    2. Die Zulassungsgremien haben ausgehend von dem Praxissitz der begehrten Sonderbedarfszulassung unter Berücksichtigung des ihnen zustehenden Beurteilungsspielraums zunächst den zu versorgenden Einzugsbereich der Praxis zu bestimmen und sodann für diesen Bereich die tatsächliche Versorgungslage systematisch und strukturiert zu ermitteln. 

3. Die Auslastung der im Einzugsbereich befindlichen fachgleichen Praxen ist insbesondere auf Grundlage einer Analyse der Patientenfallzahlen zu ermitteln.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. November 2023 geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Sonderbedarfszulassung zur vertragsärztlichen Versorgung als Fachärztin für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.

 

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

 

Die Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte zu drei Vierteln und die Klägerin zu einem Viertel; die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Erteilung einer Sonderbedarfszulassung.

 

Die Klägerin ist Fachärztin für Innere Medizin mit der Spezialisierung Hämatologie / Onkologie und bereits seit 1. Juli 2019 im Umfange eines hälftigen Versorgungsauftrages zur vertragsärztlichen Versorgung im fachärztlichen Versorgungsbereich zugelassen. Sie ist seit Juli 2019 Mitinhaberin einer Praxis (Berufsausübungsgemeinschaft) für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie in Berlin-Wilmersdorf, B .

 

Ab dem Jahr 2020 beantragten zum einen mehrere im fachärztlichen Versorgungsbereich tätige Fachärzte für Innere Medizin mit der Spezialisierung Hämatologie / Onkologie, die über einen halben vertragsärztlichen Versorgungsauftrag verfügten, bei den Zulassungsgremien die Aufstockung auf einen vollen Versorgungsauftrag; zum anderen beantragten einige im hausärztlichen Versorgungsbereich tätige Fachärzte für Innere Medizin mit der Spezialisierung Hämatologie / Onkologie die Genehmigung ihres Wechsels in den fachärztlichen Versorgungsbereich. Letztere können als Hausärzte onkologische Leistungen auf Grundlage der Onkologie-Vereinbarung (Anlage 7 zum BMV-Ä) nur sehr eingeschränkt erbringen und abrechnen; seit dem 1. Juli 2011 können Ärzte zur Teilnahme an der Onkologie-Vereinbarung nur neu zugelassen werden, wenn sie dem fachärztlichen Versorgungsbereich angehören (§ 3 Abs. 6 der Onkologie-Vereinbarung).

 

Die Klägerin beantragte am 11. August 2020 die Aufstockung ihrer vertragsärztlichen Zulassung auf einen vollen Versorgungsauftrag im Wege der Sonderbedarfszulassung. Zur Begründung gab sie u.a. an, die Zahl onkologischer Patienten sei stark angestiegen und sie sei in der einzigen hämatologisch-onkologischen Facharztpraxis im Bezirk Wilmersdorf tätig.

 

Mit bestandskräftigen Beschlüssen vom 27. Januar 2021 genehmigte der Zulassungsausschuss die Anträge fünf anderer Ärzte auf Versorgungsbereichswechsel von der hausärztlichen Versorgung in die fachärztlich-internistische Versorgung im Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie mit Wirkung vom 1. Juli 2021.

 

Im März 2021 trat der Zulassungsausschuss im vorliegenden Verfahren in die Bedarfs­ermittlung ein, indem er folgende Stellen zur Versorgungssituation befragte:  

 

  • Beigeladene zu 1. (Kassenärztliche Vereinigung Berlin): In einer Stellungnahme vom 18. März 2021 nahm diese Bezug auf eine in Zusammenhang mit den Anträgen auf Versorgungsbereichswechsel abgegebene Einschätzung vom 25. Januar 2021 und stellte fest, dass ein Sonderbedarf bestehe. Weil ein beachtlicher Teil, nämlich 21,2 Prozent, der Versorgung der Krebspatienten durch bei der Versorgungsbeurteilung außer Betracht bleibende hausärztliche Internisten wahrgenommen werde, werde ein Sonderbedarf auch im vorliegenden Fall bejaht.
  • Berufsverband niedergelassener gynäkologischer Onkologen: Keine Rückäußerung.
  • Verein der niedergelassenen internistischen Onkologen Berlin: In einer Stellungnahme  vom 26. April 2021 führte dieser u.a. aus, dass die onkologischen Schwerpunktpraxen am Limit bzw. darüber hinaus arbeiteten und dass weitere Zulassungen nicht zur Leistungsmengenausweitung führen würden.
  • Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen und Krankenkassenverbände in Berlin: Keine Rückäußerung.

 

Mit Beschluss vom 19. Mai 2021 (schriftlicher Bescheid vom 26. August 2021) lehnte der Zulassungsausschuss den Antrag der Klägerin auf Sonderbedarfszulassung mit einem hälftigen Versorgungsauftrag ab. Die Dauerhaftigkeit eines Sonderbedarfs könne nicht erkannt werden, nachdem der Zulassungsausschuss in seiner Sitzung vom 27. Januar 2021 bereits fünf Versorgungsbereichswechsel von der hausärztlichen in die fachärztliche Versorgung mit dem Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie genehmigt habe. Diese Versorgungsbereichswechsel stünden für sich und gehorchten anderen Regeln als eine Sonderbedarfszulassung, weshalb der Antrag der Klägerin nicht in das dortige Verfahren habe einbezogen werden müssen.  

 

Zur Begründung ihres hiergegen gerichteten Widerspruchs führte die Klägerin an, zwischen den Versorgungsbereichswechslern und ihrem Antrag auf Sonderbedarfszulassung hätte eine einheitliche Auswahlentscheidung getroffen werden müssen, denn es bestehe eine Konkurrenzsituation. Sie erwäge, Drittwidersprüche einzulegen, zumal sie ihren Antrag schon im August 2020 und damit lange vor der Entscheidung des Zulassungsausschusses zu den Versorgungsbereichswechseln vom Januar 2021 gestellt habe. Zusätzlicher Versorgungsbedarf bestehe zweifellos. Bei dessen Ermittlung hätten hausärztliche Versorgungsangebote außer Betracht zu bleiben. Den Ausführungen der Beigeladenen zu 1. zur Versorgungssituation sei zu folgen; sie seien zudem vom einschlägigen Berufsverband bestätigt worden. Die Entscheidung des Zulassungsausschusses sei unhaltbar, denn es seien auch nach den Versorgungsbereichswechseln immer noch elf Hausärzte im Bereich der Onkologie-Vereinbarung tätig. Die Praxis der Klägerin verzeichne sehr großen Patientenandrang und sei im Rahmen von Plausibilitätsprüfungen von Honorarkürzungen bedroht. Das rechtfertige die Aufstockung auf einen vollen Versorgungsauftrag.

 

Mit Beschluss vom 27. Oktober 2021 (schriftlicher Bescheid vom 22. Dezember 2021) wies der Berufungsausschuss den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Voraussetzungen für eine Sonderbedarfszulassung lägen nicht vor. Ein Versorgungsmangel sei nicht zu erkennen. Zum jetzigen Zeitpunkt sei der Bedarf gedeckt, selbst wenn die Mehrheit der Arztgruppe, der Fachverband und die Beigeladene zu 1. einen Mehrbedarf sähen. Ein Versorgungsproblem werde erst entstehen, wenn Hausarztsitze, auf denen gegenwärtig onkologische und hämatologische Leistungen erbracht würden, nachzubesetzen seien. Bedarf entstehe damit erst in mehreren Jahren und sei gegenwärtig nicht ermittelbar.

 

Hiergegen hat die Klägerin am 5. Januar 2022 Klage erhoben. Mit ihr verfolgt sie das Ziel, den Beklagten zu verpflichten, ihr die begehrte Sonderbedarfszulassung zu erteilen, hilfsweise ihn zur Neubescheidung zu verurteilen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Bei der Ermittlung des Versorgungsbedarfs müsse der Beklagte Versorgungsangebote durch im hausärztlichen Versorgungsbereich tätige Hämatologen und Onkologen außer Betracht lassen. Andererseits bestehe selbst unter Berücksichtigung der Versorgungsangebote von hausärztlich tätigen Hämatologen und Onkologen ein ungedeckter Versorgungsbedarf. Eine zwischenzeitlich durchgeführte Befragung der 60 Ärzte der Fachgruppe interpretiere der Beklagte unrichtig. Es dürfe nicht vermutet werden, dass die nicht antwortenden Ärzte noch über freie Kapazitäten verfügten. Vielmehr müsse berücksichtigt werden, dass Sonderbedarfszulassungen für die betroffene Fachgruppe eher mit finanziellen Nachteilen verbunden seien, da der Honorartopf sich nicht automatisch vergrößere. Entscheidend sei, dass 23 von 34 antwortenden Ärzten einen zusätzlichen Versorgungsbedarf sähen. Zudem hätte der Beklagte das Befragungsergebnis anhand von Fallzahl- und Abrechungsstatistiken verifizieren müssen, was aber unterblieben sei.

 

Der Beklagte ist der Klage entgegen getreten. Das Bestehen eines zusätzlichen Versorgungsbedarfs sei fraglich. Die Befragung der Facharztgruppe durch den Zulassungsausschuss belege freie Kapazitäten. Allein durch die Versorgungsbereichswechsel im Januar 2021 seien mehrere Fachärzte hinzugekommen. Zwar dürften hausärztliche Hämatologen und Onkologen nur ein stark eingeschränktes Leistungsspektrum erbringen, doch wirke auch ihre Tätigkeit entlastend. Hingewiesen hat der Beklagte auf eine nicht bei den Akten befindliche Umfrage des Zulassungsausschusses unter den 60 bereits zugelassenen Hämatologen / Onkologen des fachärztlichen Versorgungsbereichs (erwähnt in der Klageerwiderung vom 16. Juni 2022, Original von Anfrage und Antwort nicht bei den Akten): Es hätten 34 Ärzte geantwortet. Davon hätten 31 Ärzte eine Auslastung von 81 % bis 100 % und 13 Ärzte freie Kapazitäten angegeben. 23 Ärzte gingen von zusätzlichem Versorgungsbedarf aus.

 

Im Zuge mehrerer vor dem Sozialgericht Berlin geführter Klageverfahren, mit denen von weiteren hausärztlichen Onkologen ein Versorgungsbereichswechsel verfolgt wurde (S 83 KA 203/21, 204/21, 206/21, 207/21 und 208/21), hat der Beklagte eine erneute Bedarfsprüfung durchgeführt. In seine dort getroffene neue Entscheidung vom 28. Februar 2023 hat er die Klägerin des vorliegenden Verfahrens nicht einbezogen. In den genannten Verfahren hat das Sozialgericht den Beklagten am 27. September 2023 verurteilt, den dort begehrten Versorgungsbereichswechsel von der hausärztlichen in die fachärztliche Versorgung als Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie zu genehmigen. Berufung hat der Beklagte in keinem dieser Fälle eingelegt, sondern die erstinstanzlichen Entscheidungen befolgt (Ausführungsbescheide vom 31. Januar 2024). In der Folge gibt es gegenwärtig noch sieben im hausärztlichen Versorgungsbereich tätige Internisten mit dem Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie.

 

In jenen auf einen Versorgungsbereichswechsel gerichteten Verfahren hatte der Beklagte neue Ermittlungen zur Versorgungssituation angestellt, die im Wesentlichen folgende Ergebnisse hatten:

 

  • Anfrage an Terminservicestelle der Beigeladenen zu 1.: Dortiges Schreiben vom 5. Januar 2023; man könne keinen Beitrag zur Klärung der Versorgungssituation erbringen. Terminvermittlung erfolge typischer Weise durch die Krankenhäuser, um nahtlose ambulante Weiterbehandlung sicherzustellen.
  • Anfrage an Abteilung Qualitätssicherung der Beigeladenen zu 1., dortige Antwort vom 9. Dezember 2022: Man habe die Onkologie-Kommission einbezogen. Die onkologische Versorgung finde danach mittlerweile fast ausschließlich im ambulanten Sektor statt. Die Versorgung sei zwar zum jetzigen Zeitpunkt noch sichergestellt, werde in Zukunft aber durch den demografischen Wandel, die längeren Überlebenszeiten durch innovative Therapien und immer komplexere Behandlungen mehr ambulante onkologische Ärzte erfordeRdnr. Die onkologische Versorgung sei ohne die hausärztlich niedergelassenen Onkologen, die fast ausschließlich in der Versorgung von onkologischen Patienten arbeiteten, weder jetzt noch in Zukunft sichergestellt. Fachgruppenwechsel seien für die Gewährleistung der Sicherstellung der Versorgung zwingend erforderlich. In den nächsten fünf bis zehn Jahren würden alle hausärztlich niedergelassenen internistisch-onkologisch tätigen Fachärzte sowie die Fachärzte mit Sonderbedarfszulassung altersbedingt die Versorgungsstruktur in Berlin verlassen. Die Einnahmen aus der Onkologie-Vereinbarung stellten die Grundfinanzierung einer onkologischen Praxis dar. Da die Onkologie-Vereinbarung eine personengebundene, nicht auf den Nachfolger übertragbare Vereinbarung sei, sei die onkologische Versorgung mit einer hausärztlichen Zulassung nicht finanzierbar.
  • Eine Befragung der Hauptabteilung Abrechnung und Honorarverteilung der Beigeladenen zu 1. ergab, dass bei den fachärztlich tätigen Onkologen von 2017 auf 2021 ein Anstieg der abgerechneten Leistungen um 16 Prozent zu beobachten sei, während der Wert für die onkologische Leistungen abrechnenden Hausärzte um 13 Prozent gesunken sei. Im Jahr 2021 erbrächten Fachärzte 96 Prozent aller onkologischen Leistungen.
  • Auskunft der Abteilung Arztregister und Bedarfsplanung der Beigeladenen zu 1. vom 13. Dezember 2022: Im Zeitraum 2018 bis 2022 Zunahme der fachärztlich tätigen Onkologen von 59 auf 71, aber Abnahme von 32,5 Vollzeitäquivalenten auf 31,5  Vollzeitäquivalente. 
  • Schreiben der Verbände der Krankenkassen vom 16. Dezember 2022: Informationen über Versorgungsdefizite gebe es nicht. Der Bereich der Internisten sei zum 1. Juli 2022 mit 165,7 Prozent überversorgt. Das Angebot an ärztlichen Leistungen übertreffe die Patientennachfrage.
  • Mitteilung des Hausärzteverbandes vom 5. Januar 2023: Es seien keine Versorgungsengpässe bekannt.
  • Verein der niedergelassenen internistischen Onkologen Berlin: In einer Stellungnahme  vom 3. Januar 2023 führte dieser aus, dass die onkologische Versorgung gegenwärtig sichergestellt sei, wobei fast alle Praxen am Limit bzw. darüber hinaus arbeiteten. Ließe man die hausärztlich tätigen Onkologen außer Betracht, wäre die Versorgung nicht mehr gewährleistet.
  • Befragung der Fachärzte für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie zur Versorgungssituation im November 2022: Von 46 befragten Ärzten hätten 18 geantwortet. Die durchschnittliche Wartezeit auf ein Erstgespräch betrage 23 Tage. 13 Ärzte hätten angegeben, keine freien Kapazitäten zu haben. Die Hälfte der Antwortenden sah die Versorgung als sichergestellt an, die andere Hälfte nicht. Ein zusätzlicher Versorgungsbedarf wurde von 15 Ärzten bejaht.

 

In zwei Parallelverfahren, die ebenfalls die Erteilung von Sonderbedarfszulassungen zur vertragsärztlichen Versorgung als Facharzt für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrages zum Gegenstand haben, hat die 87. Kammer des Sozialgerichts Berlin den Beklagten durch Urteile vom 11. Oktober 2023 verpflichtet, die Sonderbedarfszulassungen zu erteilen (S 87 KA 27/22 [Praxis Standort Janusz-Korczak-Straße] und S 87 KA 5/22 [Praxiskollege der Klägerin Standort Bundesallee], Berufungen des Beklagten anhängig zu L 7 KA 36/23 und L 7 KA 35/23).

 

In der vorliegenden Streitsache hat die 22. Kammer des Sozialgerichts Berlin den angefochtenen Bescheid mit Urteil vom 1. November 2023 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, der Klägerin eine Sonderbedarfszulassung zur vertragsärztlichen Versorgung als Fachärztin für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrages mit der Maßgabe zu erteilen, dass nur Leistungen abrechnungsfähig sind, die im Zusammenhang mit der Behandlung hämatologischer und onkologischer Erkrankungen stehen. Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt: Weil maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt derjenige der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung sei, dürfe die Kammer Erkenntnisse aus wegen Versorgungsbereichswechseln geführten Parallelverfahren verwerten, nämlich die im dortigen Rahmen durchgeführte Bedarfsprüfung, die sich im Beschluss des Beklagten vom 28. Februar 2023 manifestiere. Die Ablehnung der beantragten Sonderbedarfszulassung im Umfange eines halben Versorgungsauftrages sei beurteilungsfehlerhaft, denn der Beklagte habe keine tragfähige Bedarfsprüfung vorgenommen. Es fehle die Abgrenzung der relevanten Versorgungsregion ebenso wie eine Prüfung der Erreichbarkeit der Versorgungsregion durch potentielle Patienten. Es dürfe nicht ohne nähere Begründung auf den gesamten Planungsbereich abgestellt werden. Da es sich hier um eine spezialisierte fachärztliche Versorgung handele, seien Fahrzeiten von rund 45 Minuten zumutbar. Vorhandene Angaben zu bestehenden oder zu erwartenden Versorgungsdefiziten seien nicht durch Ermittlungen zur realen Auslastung der Leistungserbringer anhand von Fallzahlen kritisch überprüft worden. Vor allem aber habe es der Beklagte unterlassen, bei der Deckung des offenen Bedarfs an fachärztlichen hämatologisch-onkologischen Leistungen die erforderliche Auswahlentscheidung zwischen der eine Sonderbedarfszulassung begehrenden antragstellenden Ärztin und solchen zu treffen, die die Erbringung dieser Leistungen im Wege des Versorgungsbereichswechsels anstrebten. Weder sei ein Versorgungsbereichswechsel der Sonderbedarfszulassung vorgelagert noch bestehe zwischen beiden ein Unterschied, der einer Auswahl zwischen beiden Formen der Bedarfsdeckung in einem Verfahren entgegenstehe. Dies gelte umso mehr, wenn, wie vorliegend, eine Vielzahl von entscheidungsreifen Begehren für beide Formen der Bedarfsdeckung vorlägen. Der Beklagte müsse  sachgerechte Kriterien entwickeln, etwa durch ein Abstellen auf den konkreten Praxisstandort, um über die eine oder die andere Form der Bedarfsdeckung zu entscheiden. In Fällen wie dem vorliegenden sei der Sonderbedarf sogar in besonderer Weise geeignet, einen bestehenden Bedarf zu decken, da er einen quantitativen und nicht nur qualitativen Beitrag zur Schließung einer bestehenden Versorgungslücke leiste. Soweit der Beklagte meine, den Fachgruppenwechslern sei Vorrang einzuräumen, weil diese bereits “im System” tätig seien, finde dies keine rechtliche Grundlage. Zum maßgeblichen Zeitpunkt hätten die Voraussetzungen für die begehrte Sonderbedarfszulassung vorgelegen; es habe ein ungedeckter Versorgungsbedarf an internistischer Versorgung mit dem Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie bestanden, der die Zulassung weiterer Versorger unerlässlich erscheinen lasse. So habe die Beigeladene zu 1. wiederholt angegeben, dass weiterhin ein ungedeckter Bedarf im hämatologisch-onkologischen Versorgungsbereich bestehe. Dem liege die Einschätzung ihrer Onkologie-Kommission zugrunde, die noch Ende 2022 bekundet habe, dass sieben beantragte Versorgungsbereichswechsel für die Sicherstellung der Versorgung zwingend erforderlich seien. Die Abteilung Arztregister und Bedarfsplanung der Beigeladenen zu 1. habe im Dezember 2022 mitgeteilt, dass die Vollzeitäquivalente bei den fachärztlich tätigen Onkologen zwischen 2018 und 2022 von 32,5 auf 31,5 abgenommen hätten, wobei die fünf Fachgruppenwechsler von Anfang 2021 sogar schon Berücksichtigung gefunden hätten. Weiter habe der Verein der niedergelassenen Internistischen Onkologen Berlin e.V. noch mit Schreiben vom 3. Januar 2023 (erneut) mitgeteilt, dass fast alle Praxen am Limit oder darüber hinaus arbeiteten; dieser Stellungnahme werde besonderes Gewicht beigemessen, da sie nur im Interesse der Patientenversorgung abgegeben worden sein könne. Auch das Ergebnis der Befragung der Facharztgruppe lasse auf einen bestehenden zusätzlichen Versorgungsbedarf schließen. Danach sei der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf eine Sonderbedarfszulassung selbst unter Berücksichtigung des auf Grundlage der Onkologie-Vereinbarung erbrachten hausärztlichen Versorgungsanteils spruchreif. Die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung der Sonderbedarfszulassung sei schließlich auch im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten. Denn im September und Oktober 2023 hätten zwei andere Kammern des Sozialgerichts Berlin in den genannten Parallelverfahren Verpflichtungen zur Genehmigung des Fachgruppenwechsels bzw. zur Erteilung von Sonderbedarfszulassungen ausgesprochen. Erfolgte vorliegend nur eine Verurteilung zur Neubescheidung, würden aber zeitgleich die anderweitigen stattgebenden Urteile umgesetzt, erleide die hiesige Klägerin einen erheblichen Nachteil. Auch nach den Ermittlungen des Beklagten bestehe ohne Weiteres Bedarf für den hier streitigen hälftigen Versorgungsauftrag.

 

Ebenfalls am 1. November 2023 hat die 22. Kammer des Sozialgerichts Berlin einem Arzt der Praxis J-K-Straße eine Sonderbedarfszulassung zur vertragsärztlichen Versorgung als Facharzt für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrages zugesprochen (S 22 KA 26/22, Berufung anhängig zu L 7 KA 39/23).

 

Gegen das ihm am 29. November 2023 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3. Januar 2024 (Mittwoch) Berufung eingelegt. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 29. Januar 2024 hat der Senat dem Beklagten Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewährt.

 

Zur Begründung seiner Berufung führt der Beklagte an: Zu Unrecht habe das Sozialgericht ihn zur Erteilung der Sonderbedarfszulassung verpflichtet. Der Planungsbereich Berlin als ganzer und auch der Verwaltungsbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf seien mit Internisten überversorgt, nämlich zu 166,9 Prozent bzw. zu 227,8 Prozent, Stand 1. Juli 2023 (“Letter of Intent”). Zwar lasse das “keine direkten Rückschlüsse auf die primär tätigen Onkologen” zu, denn diese würden nicht gesondert aufgeführt; es sei aber eine deutliche Überversorgung feststellbar und das umfasse auch die Internisten mit dem Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie. Die Stellungnahmen der Onkologie-Kommission und des Vereins der niedergelassenen Onkologen müssten außer Betracht bleiben, da ihnen aufgrund kollegialer Verflechtungen die notwendige Objektivität fehle und sie nicht auf fundiertem Zahlenmaterial beruhten. Zudem müsse auf gegenwärtigen und nicht auf künftigen Versorgungsbedarf abgestellt werden. Entscheidend sei das Zahlenwerk des Letter of Intent, das eine Überversorgung und damit keinen aktuell bestehenden Versorgungsbedarf belege. Betrachtet werden müsse die onkologische Versorgung insgesamt, was auch die an der Onkologie-Vereinbarung teilnehmenden Hausärzte umfasse. Zudem habe der Beklagte nicht zeitgleich über die Anträge auf Versorgungsbereichswechsel sowie auf Sonderbedarfszulassung entscheiden müssen. Das ergebe sich schon aus den unterschiedlichen Rechtsgrundlagen, selbst wenn auch bei einem Versorgungsbereichswechsel die Zulassungsbeschränkungen zu beachten seien. Im Gegensatz zur Sonderbedarfszulassung erhalte der die Fachgruppe wechselnde Facharzt keine neue zusätzliche Zulassung und es handele sich nur um einen Wechsel innerhalb des Versorgungssystems. Damit sei der Versorgungsbereichswechsel der Sonderbedarfszulassung vorgelagert und die Sonderbedarfszulassung sei nachrangig. Ausgehend von seinem Standpunkt hätte das Sozialgericht den Beklagten nur zur Neubescheidung verpflichten dürfen. Die Verpflichtung zur Erteilung einer Sonderbedarfszulassung stelle einen absoluten Ausnahmefall dar, dessen Voraussetzungen hier nicht vorlägen. Zudem sei es nicht darstellbar, den in Parallelverfahren ergangenen Entscheidungen anderer Kammern des Sozialgerichts für den vorliegenden Fall Bindungswirkung beizumessen.   

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. November 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

          die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten seien Anträge auf Sonderbedarfszulassung nicht nachrangig gegenüber Anträgen auf Versorgungsbereichswechsel, denn beide Begehren seien auf dasselbe gerichtet, nämlich die Tätigkeit als Hämatologe bzw. Onkologe im fachärztlichen Versorgungsbereich. Daher sei es beurteilungsfehlerhaft gewesen, den Antrag der Klägerin nicht zusammen und gleichberechtigt mit den Anträgen auf Versorgungsbereichswechsel zu behandeln. Beurteilungsfehlerhaft sei es auch, pauschal mit den Zahlen für Fachinternisten in Berlin zu arbeiten, denn diese ermöglichten keinen tragfähigen Rückschluss auf die Versorgungssituation im Schwerpunktbereich Hämatologie / Onkologie. Der Beklagte dürfe auch nicht die Mitglieder der Onkologie-Kommission oder des einschlägigen Berufsverbandes spekulativ als parteiisch diskreditieren. Umgekehrt seien die vom Beklagten herangezogenen Stellungnahmen der Krankenkassenverbände und des Hausärzteverbandes interessengeleitet, denn erstere scheuten vermeintliche Zusatzausgaben im Bereich der Onkologie-Vereinbarung und letztere hätten kein Interesse daran, dass Mittel vom Hausärzte- in den Facharzttopf flössen; mittlerweile befürworte aber sogar der Hausärzteverband einen Versorgungsbereichswechsel im Bereich Hämatologie / Onkologie.  Ganz maßgeblich müsse dagegen das Ergebnis der Befragung der bereits fachärztlich zugelassenen Hämatologen und Onkologen sowie der nicht onkologisch tätigen Hausärzte in die Betrachtung einfließen. Nur eine Sonderbedarfszulassung führe maßgeblich zu einer Verbesserung der Versorgung der Versicherten, denn sie erweitere das Versorgungsangebot quantitativ, während ein Versorgungsbereichswechsel nur dazu führe, dass die betroffenen Ärzte bessere Abrechnungsmöglichkeiten erhielten. Eine Auskunft der Beigeladenen zu 1. vom 14. Mai 2024 zeige, dass die Zahl von Terminanfragen im Bereich Hämatologie / Onkologie auch gegenwärtig noch signifikant steige, was belege, dass bloße Versorgungsbereichswechsel nicht zu einer spürbaren Verbesserung der Versorgungssituation führten. Es müsse berücksichtigt werden, dass die Nachfrage nach ambulanter hämatologisch-onkologischer Versorgung stetig wachse, weil Leistungserbringung sich zunehmend vom stationären in den ambulanten Sektor verlagere, die medizinische Entwicklung immer weitere Behandlungsmöglichkeiten anbiete und auch die Altersentwicklung der Bevölkerung Auswirkungen habe. Zu Recht habe das Sozialgericht schließlich den Beklagten nicht nur zur Neubescheidung verurteilt und sich hierbei zutreffend an der einschlägigen Rechtsprechung des Senats orientiert (Hinweis auf das Urteil vom 18. Mai 2022, L 7 KA 12/20). Das gewonnene Ermittlungsergebnis trage die Verpflichtung zur Erteilung einer Sonderbedarfszulassung in jedem Falle.    

 

Die Beigeladenen haben sich im Berufungsverfahren nicht geäußert und keine Anträge gestellt.

 

In seiner Sitzung vom 31. Januar 2024 (schriftlicher Bescheid vom 6. Februar 2024) hat der Beklagte das Urteil des Sozialgerichts Berlin zur vorliegenden Sache ausgeführt und die Klägerin vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Antragsverfahrens im Wege der Sonderbedarfszulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung als Fachärztin für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie im Umfang eines weiteren hälftigen Versorgungsauftrages zugelassen.

 

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.   

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Beigeladenen zu 2. bis 6. im Termin zur mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil diese zum Termin ordnungsgemäß geladen wurden und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

 

Die gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. November 2023 ist zulässig, aber nur teilweise begründet.

 

A. Streitgegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (BSG, Urteil vom 23. Februar 2015, B 6 KA 81/03 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13) ist der Beschluss des Berufungsausschusses vom 27. Oktober 2021 (schriftlicher Bescheid vom 22. Dezember 2021), mit dem der Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Beschluss des Zulassungsausschusses vom 19. Mai 2021 (schriftlicher Bescheid vom 26. August 2021) zurückgewiesen und ihren Antrag vom 11. August 2020 auf Erteilung einer um 0,5 „aufstockenden“ Sonderbedarfszulassung als Fachärztin für Innere Medizin mit der Spezialisierung Hämatologie / Onkologie abgelehnt hat. In vertragsärztlichen Zulassungssachen wird der Berufungsausschuss mit seiner Anrufung gemäß § 96 Abs. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) funktionell ausschließlich zuständig. § 95 SGG findet in diesen Verfahren keine Anwendung (ständige Rechtsprechung seit Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Januar 1993, RKa 40/91, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13). Mit einer gerichtlichen Aufhebung des Beschlusses des Berufungsausschusses lebt die Entscheidung des Zulassungsausschusses nicht mehr auf (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2012, B 6 KA 49/11 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18). Demgemäß ist dann, wenn das Verfahren mit einer Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung endet, allein der Berufungsausschuss und nicht der Zulassungsausschuss zur erneuten Entscheidung zu verpflichten. Der Bescheid des Berufungsausschusses bildet den alleinigen Gegenstand jeder weiteren  gerichtlichen – bei aufhebendem Gerichtsurteil jedoch auch erneuten verwaltungsmäßigen – Beurteilung der Sache (Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Januar 1993, RKa 40/91, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 – 21).

 

B. Die Berufung ist teilweise begründet. Das Sozialgericht hat den Beschluss des Beklagten vom 27. Oktober 2021 (schriftlicher Bescheid vom 22. Dezember 2021) zwar zu Recht aufgrund von Beurteilungsfehlern aufgehoben, hätte den Beklagten aber nur zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts und nicht zur Erteilung der Sonderbedarfszulassung verurteilen dürfen.  

 

I. 1. In Planungsbereichen, für die der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen – wie im einheitlichen Planungsbereich Berlin/Bundeshauptstadt für im fachärztlichen Versorgungsbereich tätige Internisten  – nach § 103 Abs. 1 Satz 2 SGB V aufgrund von Überversorgung Zulassungsbeschränkungen angeordnet hat (zuletzt bestätigt im Beschluss vom 17. Mai 2024 Nr. 09-2024-LA), sind Zulassungen für die hiervon betroffenen Arztgruppen nur ausnahmsweise möglich.

 

§ 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V bestimmt, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in Richtlinien Vorgaben für die ausnahmsweise Besetzung zusätzlicher Vertragsarztsitze zu beschließen hat, soweit diese zur Gewährleistung der vertragsärztlichen Versorgung in einem Versorgungsbereich unerlässlich sind, um einen zusätzlichen lokalen oder einen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf insbesondere innerhalb einer Arztgruppe zu decken. Der G-BA ist der ihm übertragenen Aufgabe zum Erlass konkretisierender Vorgaben in Bezug auf § 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V durch die ab 1. Januar 2013 geltenden, zuletzt mit Beschluss vom 16. Mai 2024 (BAnz AT 12. November 2024, B 1) geänderten und am 13. November 2024 in Kraft getreten Regelungen in den §§ 36, 37 Bedarfsplanungsrichtlinie (BedarfsplRL) nachgekommen.

 

§ 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V gewährleistet in Planungsbereichen, in denen die Zulassung einzelner Arztgruppen beschränkt ist, dass angeordnete Zulassungssperren die Berufsausübung nicht unverhältnismäßig beschränken und die Versorgung der Versicherten gewährleistet bleibt. Dies im Einzelnen zu konkretisieren hat der Gesetzgeber in § 101 Abs. 1 Satz 1 SGB V dem G-BA übertragen, der dementsprechend in der BedarfsplRL die Voraussetzungen für solche ausnahmsweisen Zulassungen festgelegt hat. Gegen die Übertragung der Befugnis zur Normkonkretisierung auf den G-BA bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken, zumal der Gesetzgeber Inhalt, Zweck und Ausmaß der Regelung präzise vorgegeben und damit die wesentlichen Fragen selbst entschieden hat (st. Rspr. BSG, Urteil vom 28. Juni 2000, B 6 KA 35/99 R, zitiert nach juris, Rdnr. 31; Urteil vom 5. November 2008, B 6 KA 56/07 R, zitiert nach juris, Rdnr. 14).

Nach § 36 Abs. 1 der BedarfsplRL darf der Zulassungsausschuss unbeschadet der Anordnung von Zulassungsbeschränkungen durch den Landesausschuss dem Zulassungsantrag eines Arztes der betreffenden Arztgruppe auf Sonderbedarf nach Prüfung entsprechen, wenn die in §§ 36 bis 37 BedarfsplRL geregelten Vorausset-zungen erfüllt sind und die ausnahmsweise Besetzung eines zusätzlichen Vertragsarztsitzes unerlässlich ist, um die vertragsärztliche Versorgung in einem Versorgungsbereich zu gewährleisten und dabei einen zusätzlichen lokalen oder einen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf zu decken. Sonderbedarf ist als zusätzlicher Versorgungsbedarf für eine lokale Versorgungssituation oder als qualifikationsbezogener Versorgungsbedarf festzustellen (Satz 2). Die Feststellung dieses Sonderbedarfs bedeutet die ausnahmsweise Zulassung eines zusätzlichen Vertragsarztes in einem Planungsbereich trotz Zulassungsbeschränkungen (Satz 3). Gemäß § 36 Abs. 2 BedarfsplRL ist die Zulassung aufgrund eines lokalen oder qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarfs an den Ort der Niederlassung gebunden. Ein lokaler oder qualifikationsbezogener Sonderbedarf setzt nach § 36 Abs. 4 Satz 3 BedarfsplRL voraus, dass aufgrund der durch den Zulassungsausschuss festzustellenden Besonderheiten des maßgeblichen Planungsbereichs (z.B. Struktur, Zuschnitt, Lage, Infrastruktur, geographische Besonderheiten, Verkehrsanbindung, Verteilung der niedergelassenen Ärzte) ein zumutbarer Zugang der Versicherten zur vertragsärztlichen Versorgung nicht gewährleistet ist und aufgrund dessen Versorgungsdefizite bestehen. Bei der Beurteilung ist den unterschiedlichen Anforderungen der Versorgungsebenen der §§ 11 bis 14 BedarfsplRL Rechnung zu tragen (§ 36 Abs. 4 Satz 4 BedarfsplRL, hausärztliche/fachärztliche Versorgung). Die Sonderbedarfszulassung setzt außerdem voraus, dass der Versorgungsbedarf dauerhaft erscheint (§ 36 Abs. 5 Satz 1 BedarfsplRL).

Nach § 37 Abs. 1 BedarfsplRL erfordert die Anerkennung eines qualifikationsbezogenen Sonderbedarfs die Prüfung und Feststellung einer bestimmten Qualifikation und die Prüfung und Feststellung eines entsprechenden besonderen Versorgungsbedarfs in einer Region durch den Zulassungsausschuss.

 

Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die fachlichen Voraussetzungen des § 37 BedarfsplRL im Falle der Klägerin vor. Sie verfügt als Fachärztin für Innere Medizin mit der Spezialisierung Hämatologie / Onkologie unstreitig über die besondere Qualifikation i.S. des § 37 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 BedarfsplRL. Eine besondere Qualifikation ist danach anzunehmen, wie sie durch den Inhalt des Schwerpunktes, einer fakultativen Weiterbildung oder einer besonderen Fachkunde für das Facharztgebiet nach der Weiterbildungsordnung beschrieben ist. § 37 BedarfsplRL richtet die besondere Qualifikation eng an den Subspezialisierungen des ärztlichen Weiterbildungsrechts aus (BSG, Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 20).Die Klägerin hat die Facharztausbildung Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, wie sie in der Weiterbildungsordnung z.B. der Ärztekammer Berlin als Subspezialisierung vorgesehen ist, mit Erfolg abgeschlossen und ist in diesem Bereich (vertrags-)ärztlich tätig.  

 

2. Bei der Beurteilung, ob unter Berücksichtigung der besonderen Qualifikation der Klägerin im Bereich Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie ausnahmsweise die Erteilung einer weiteren hälftigen Sonderbedarfszulassung auch „unerlässlich“ im Sinne der Vorgaben des § 36 Abs. 1 BedarfsplRL ist, um die vertragsärztliche Versorgung im betroffenen Versorgungsbereich zu gewährleisten und einen zusätzlichen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf zu decken, steht den Zulassungsgremien ein der gerichtlichen Nachprüfung nur eingeschränkt zugänglicher Beurteilungsspielraum zu. Ausschlaggebend dafür ist der Umstand, dass es sich bei den Zulassungs- und Berufungsausschüssen um sachverständige, gruppenplural zusammengesetzte Gremien handelt, die bei der Entscheidung über das Vorliegen eines besonderen Versorgungsbedarfs eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen haben(vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 13. August 2014, B 6 KA 33/13 R, zitiert nach juris, Rdnr. 17 bis 19; Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, zitiert nach juris, Rdnr. 20; Urteile des Senats vom 13. November 2019, L 7 KA 31/17, zitiert nach juris, Rdnr. 34/35 und vom 18. Mai 2022, L 7 KA 12/20, zitiert nach juris, Rdnr. 61)Der Beurteilungsspielraum erstreckt sich zum einen auf die Bewertung, Gewichtung und Abwägung der ermittelten Tatsachen, zum anderen - und vor allem - auf die schlussfolgernde Bewertung, ob und inwieweit der Versorgungsbedarf bereits durch das Leistungsangebot der zugelassenen Ärzte gedeckt ist oder ob noch ein Versorgungsbedarf besteht. Soweit die Zulassungsgremien dem Umfang der Leistungserbringung durch die bereits zugelassenen Leistungserbringer oder ihrer Kapazität entscheidende Bedeutung beimessen, muss ihr Beurteilungsergebnis auf ausreichend fundierte Ermittlungen gegründet sein. Ein Beurteilungsspielraum besteht daher nicht bei der Frage, wie weit die Zulassungsgremien ihre Ermittlungen erstrecken. Der Umfang ihrer Ermittlungen ist (allgemein) durch § 21 Abs. 1 SGB X zwingend vorgegeben. Die Ermittlung des Sachverhalts muss das nach pflichtgemäßem Ermessen erforderliche Maß ausschöpfen, d.h. sich so weit erstrecken, wie sich Ermittlungen als erforderlich aufdrängen (BSG, Urteil vom 18. Dezember 2010, B 6 KA 36/09 R, zitiert nach juris, Rdnr. 18 ff.; Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, zitiert nach juris, Rdnr. 21 ff.; vgl. auch Urteil des Senats vom 18. Mai 2022, L 7 KA 12/20, zitiert nach juris, Rdnr. 61)Diese Obliegenheit wird speziell für die Zulassungstatbestände durch § 36 Abs. 4 Satz 1 BedarfsplRL konkretisiert. Danach hat der Zulassungsausschuss bei der Ermittlung aller entscheidungsrelevanten Tatsachen eine umfassende Ermittlungspflicht. Dabei stehen ihm zwar grundsätzlich verschiedene Ermittlungsmethoden zur Verfügung. Jene sollten aber, so er sie ergreift, korrekt, umfassend und auch konsequent angewendet werden.

Mit Blick darauf kann die Prüfung und Feststellung eines besonderen Versorgungsbedarfs durch den Zulassungs- wie auch den Berufungsausschuss nicht durch ein Gericht ersetzt werden. Die Gerichte haben jedoch zu prüfen, ob die Zu-lassungsgremien ihrer Ermittlungspflicht nachgekommen sind, mithin der Entscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Entscheidung verfahrensfehlerfrei erging und ob der Zulassungs-/Berufungsausschuss unzutreffende Rechtsmaßstäbe zugrunde gelegt hat (vgl. Urteil des Senats vom 18. Mai 2022, L 7 KA 12/20, zitiert nach juris, Rdnr. 63).

II. Gemessen daran kann die Entscheidung des Beklagten keinen Bestand haben.  Seine Beurteilung, dass kein Sonderbedarf für Fachinternisten mit der Spezialisierung Hämatologie / Onkologie im Bereich der von der Praxis der Klägerin aus zu versorgenden Region bestehe, beruht auf einem nicht tragfähig ermittelten Sachverhalt sowie auf Fehlwertungen (unten 1.). Im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts ist die Sache allerdings nicht spruchreif (unten 2.).

 

1. Auch bei Beachtung der nur eingeschränkten gerichtlichen Nachprüfbarkeit von Entscheidungen über Anträge auf Sonderbedarfszulassung kann der angefochtene Bescheid des Beklagten keinen Bestand haben, weil die erforderlichen Feststellungen zur Bedarfslage nicht getroffen worden sind und weil es deshalb an der erforderlichen Grundlage für die sachgerechte Ausfüllung des ihm zukommenden Beurteilungsspielraums gefehlt hat. Die Ermittlung des Sachverhalts muss das nach pflichtgemäßem Ermessen erforderliche Maß ausschöpfen, d.h. sich so weit erstrecken, wie sich Ermittlungen als erforderlich aufdrängen (§ 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 36 Abs. 4 Satz 1 BedarfsplRL; vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 22).

 

Dieser  Ermittlungspflicht ist der Beklagte nicht im Ansatz nachgekommen. Weder hat er eine Region abgegrenzt, die vom beantragten Ort der Niederlassung aus versorgt werden soll (unten a), noch hat er die vorhandene Versorgungslage tragfähig ermittelt (unten b), noch hat er die angestellten Ermittlungen fehlerfrei gewürdigt (unten c). Ob der Beklagte in der Durchführung des Verwaltungsverfahrens mit dem gleichzeitigen Vorliegen von Anträgen auf Wechsel des Versorgungsbereichs und Anträgen auf Sonderbedarfszulassung fehlerfrei umgegangen ist, kann der Senat offen lassen (unten d).

 

a) Es ist beurteilungsfehlerhaft, dass der Beklagte nicht bereits im Vorfeld seiner (insgesamt sehr zurückhaltenden) Ermittlungen zur tatsächlichen Versorgungslage die konkrete Region bestimmt hat, die die Klägerin ausgehend von ihrem Praxissitz versorgen kann. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 30) und ihm folgend des Senats (Urteil vom 18. Mai 2022, L 7 KA 12/20, juris, Rdnr. 66; s.a. Urteil vom 4. Dezember 2024, L 7 KA 43/21) haben die Zulassungsgremien bei der Feststellung von Sonderbedarf gemäß § 36 Abs. 3 Nr. 1 BedarfsplRL zur Feststellung einer unzureichenden Versorgungslage zunächst eine Region abzugrenzen, die vom beantragten Ort der Niederlassung aus versorgt werden soll und die dortige Versorgungslage zu bewerten. Dieser relevante Einzugsbereich der in Wilmersdorf gelegenen Praxis der Klägerin ist nicht zwingend identisch mit dem Planungsbereich (ganz Berlin).

 

Nach Lage der Akten ist nicht erkennbar, dass der Beklagte in Ausübung seines Beurteilungsspielraumes bereits zu Beginn seiner Ermittlungen den zu versorgenden Einzugsbereich hinreichend bestimmt hat. Die eine Sachverhaltsermittlung einleitenden Schreiben an die Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen und Krankenkassenverbände in Berlin, an den Verein der niedergelassenen internistischen Onkologen Berlin e.V. und an den Berufsverband niedergelassener gynäkologischer Onkologen in Deutschland e.V. vom 7. April 2021 enthielten keinerlei örtliche Begrenzung; das Schreiben an die Hauptabteilung vertragsärztliche Versorgung der Beigeladenen zu 1. vom 11. März 2021 hat einerseits auf den gesamten Planungsbereich Berlin abgestellt und andererseits auf den Verwaltungsbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Anhand welcher Kriterien die Eingrenzung in dieser Anfrage erfolgt ist, ist unklar. Damit hängt die Frage des zu versorgenden Einzugsbereichs vollständig in der Luft und den nachfolgenden Entscheidungen der Zulassungsgremien fehlte der unabdingbare räumliche Bezugspunkt. Es ist auch nicht erkennbar, dass sich der Beklagte bei seinen Ermittlungen seiner Befugnis zur Bestimmung der Kriterien einer zumutbaren Erreichbarkeit bewusst war und er die zu versorgende Region anhand dieser bestimmt hat. Diese Festlegungen wird der Beklagte nachzuholen haben und dabei berücksichtigen müssen, welcher Anfahrtsweg den Patientinnen und Patienten der Klägerin, die in der Regel akut an Krebs erkrankt sind, zumutbar ist. 

 

b) Entgegen seiner Verpflichtung aus § 36 Abs. 3 Nr. 1 BedarfsplRL hat der Beklagte auch die konkrete Versorgungslage – ausgehend von welchem Einzugsbereich auch immer – nicht ausreichend ermittelt.

 

Im gesamten Planungsbereich bewegt sich die Anzahl der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Internisten mit Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie auf 50 bis 70. Genauere Angaben sind den Akten nicht zu entnehmen. Es liegt aber auf der Hand, dass es ein Leichtes wäre, bei dieser Größenordnung die lokale Verteilung der spezialisierten Facharztgruppe genau örtlich zu erfassen und u.a. anhand von Abrechnungszahlen (die von Seiten der Beigeladenen zu 1. beizubringen sind) zu ermitteln, wie die Auslastung der im Einzugsbereich ansässigen zugelassenen Fachkollegenschaft zu bewerten ist. Hier ist allgemein eine ganze Spannbreite denkbar von der Nichterfüllung des Versorgungsauftrages bis hin zur Arbeit an der maximalen Belastungsgrenze, die eine Praxis in die Gefahr der Auffälligkeit im Sinne einer Plausibilitätsprüfung bringt. Selbst wenn zu beachten ist, dass nur reale, nicht aber potenzielle Versorgungsangebote zu berücksichtigen sind (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 25), ist eine solche Analyse von Abrechnungsdaten (und hier insbesondere der Fallzahlen) unerlässlich, um einen von subjektiven Einschätzungen unabhängigen ersten Zugang zur Versorgungssituation zu finden, vor allem wenn die betroffene Arztgruppe so überschaubar ist wie vorliegend (siehe zur Verifizierungsfunktion der Fallzahlanalyse: BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 51; s.a. Urteil des Senats vom 4. Dezember 2024, L 7 KA 43/21). So ist der Beklagte aber nicht vorgegangen, denn er hat auf eine örtliche Analyse sowie auf valides Zahlenmaterial gänzlich verzichtet. Das ist nicht belastbar und muss nachgeholt werden.

 

In diesem Zusammenhang ist es auch beurteilungsfehlerhaft und viel zu unspezifisch, die Versorgungslage im Sinne von § 36 Abs. 3 Nr. 1 BedarfsplRL an der Versorgung des Planungsbereichs bzw. des Stadtbezirks pauschal mit “Internisten” zu messen. So hat der Beklagte noch seine Berufung im Schriftsatz vom 20. März 2023 zentral damit begründet, dass der Planungsbereich Berlin als ganzer und auch der Verwaltungsbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf “in der Arztgruppe der Internisten” überversorgt sei, nämlich zu 166,9 Prozent bzw. zu 227,8 Prozent, Stand 1. Juli 2023. Fehlerhaft ist dies, weil – was sich ohne weiteres aufdrängt – die Versorgungslage speziell im Bereich der besonderen Qualifikation der Klägerin zu untersuchen ist (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, zitiert nach juris, dort RdnRdnr. 29, 33). Es darf also allein die Versorgung mit Internisten, die zugleich Hämatologen und Onkologen sind und an der Onkologie-Vereinbarung teilnehmen – unabhängig davon, welchem Versorgungsbereich sie angehören – , in die Betrachtung eingestellt werden, denn nur dies wird der Sache gerecht. In sich unlogisch und nicht tragfähig ist die ausdrücklich vertretene Auffassung des Beklagten, zwar lasse der Letter of Intent “keine direkten Rückschlüsse auf die primär tätigen Onkologen zu”, es sei aber “anhand der oben aufgeführten Zahlen eine deutliche Überversorgung feststellbar”. Damit ist eine Überversorgung mit Internisten, die zugleich Hämatologen und Onkologen sind und an der Onkologie-Vereinbarung teilnehmen, nicht beanstandungsfrei begründet.

 

c) Auch hat der Beklagte die vorhandenen Ermittlungsergebnisse nicht beurteilungsfehlerfrei gewürdigt. In den Blick zu nehmen sind hier insbesondere die im Laufe des Verfahrens abgegebenen Stellungnahmen des Vereins der niedergelassenen internistischen Onkologen Berlin e.V. sowie der Hauptabteilung vertragsärztliche Versorgung der Beigeladenen zu 1., die sich wiederum an einer Stellungnahme der Onkologie-Kommission orientiert. Alle diese Stellungnahmen weisen plausibel in die Richtung einer bestehenden Unterversorgung. Im streitgegenständlichen Bescheid vom 22. Dezember 2021 streift der Beklagte zwar diese Stellungnahmen („…auch wenn die Mehrheit der antwortenden Ärzte, des befragten Fachverbandes und der Kassenärztlichen Vereinigung einen Mehrbedarf bestätigen“), setzt sich mit ihnen aber nicht inhaltlich auseinander, sondern klammert sie letztlich vollständig aus der Entscheidungsfindung aus. Das wird dem Erfordenis einer kritischen Würdigung des Ermittlungsergebnisses nicht gerecht, weil nicht einmal im Ansatz zu erkennen ist, warum der Beklagte die erwähnten Standpunkte außer Betracht lässt.

 

Deutlich zu kurz greift es auch, wenn der Beklagte noch im Berufungsverfahren anführt, die Stellungnahmen der Onkologie-Kommission und des Vereins der niedergelassenen Onkologen müssten außer Betracht bleiben, da ihnen aufgrund kollegialer Verflechtungen die notwendige Objektivität fehle. Auf diese Weise drängt der Beklagte die genannten Stellen zu pauschal und ohne hinreichend konkreten Anlass in die Besorgnis der Befangenheit.

 

Zwar dürfen sich Sachverhaltsermittlungen typischerweise nicht in Befragungen der im Einzugsbereich tätigen Vertragsärzte erschöpfen, weil die Gefahr besteht, dass die Äußerungen der befragten Ärzte in starkem Maße auf deren subjektiven Einschätzungen beruhen und von deren individueller Interessenlage beeinflusst sein können. Daher fordert das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung (Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 24), dass die Zulassungsgremien die Antworten kritisch würdigen und sie objektivieren und verifizieren.

 

Es handelt sich aber bei den Bekundungen der Onkologie-Kommission nicht einfach nur um eine “Befragung der im Einzugsbereich tätigen Vertragsärzte”; vielmehr steht die Onkologie-Kommission nach § 10 der Onkologie-Vereinbarung als Gremium der Qualitätssicherung im Lager der Beigeladenen zu 1. und ist keine Lobbyvertretung der Onkologen und Hämatologen; ihre Mitglieder werden vom Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung berufen. Daher hätte der Beklagte das entsprechende Votum ernsthaft in Erwägung ziehen und diskutieren müssen.

 

Weiter wird der Beklagte in den Blick zu nehmen haben, dass Äußerungen der befragten Fachgruppe besonderes Gewicht erhalten, wenn sie im Rahmen der durchgeführten Befragung zur Versorgungslage auf einen Versorgungsmangel deuten, denn naturgemäß dürfte eine befragte Berufsgruppe eher dazu neigen, sich zum Erhalt von Vergütungschancen gegen hinzutretende Konkurrenz abzuschotten (vgl. BSG, Urteil vom 5. November 2008, B 6 KA 10/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 19).

 

Unabhängig davon ist weiter in Erwägung zu stellen, dass im Bereich der Hämatologie / Onkologie keine Gefahr einer angebotsinduzierten Erweiterung der Nachfrage nach fachärztlichen Leistungen bestehen kann. Denn die Nachfrage nach ambulanten hämatologisch-onkologischen Leistungen ist einzig und “hart” diagnosegesteuert und steht nicht im Belieben der Versicherten. Es verbietet sich daher, mit einem Antrag auf Sonderbedarfszulassung in diesem Bereich zur Begrenzung der Leistungsmenge besonders restriktiv umzugehen.

 

d) Unter Berücksichtigung der Aspekte oben a) bis c) wird der Beklagte den Antrag der Klägerin auf erweiternde Sonderbedarfszulassung individuell neu zu bescheiden haben. Offen bleiben kann insoweit der vom Sozialgericht als entscheidungstragend herangezogene Aspekt, ob nämlich die zahlreichen Anträge auf Versorgungsbereichswechsel einerseits und die Anträge auf Erteilung von Sonderbedarfszulassungen andererseits in einem gemeinsamen Verwaltungsverfahren hätten beschieden werden müssen. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für das Zulassungsbegehren der Klägerin ist nämlich derjenige der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Ganz allgemein sind für Anträge auf Sonderbedarfszulassung die Grundsätze über “Vornahmeklagen” anzuwenden. Danach sind alle Tatsachenänderungen bis zur mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz zu berücksichtigen, Rechtsänderungen sogar bis zum Abschluss der Revisionsinstanz (st. Rspr., siehe nur BSG, Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats kommt es auf die vom Sozialgericht aufgeworfene Frage schon deshalb nicht mehr an, weil die im Tatbestand erwähnten auf einen Wechsel vom hausärztlichen in den fachärztlichen Versorgungsbereich zielenden Verwaltungsverfahren nunmehr bestandskräftig abgeschlossen und die Versorgungsbereichswechsel vollzogen sind. Sie können damit nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der Beklagte wird die Versorgungslage im Bereich der fachinternistischen Hämatologie/Onkologie im Zeitpunkt seiner Neuentscheidung auf der Basis einer zu ermittelnden aktuellen Sachlage zu beurteilen haben.

 

2. Angesichts all dessen hat der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Aufstockung ihrer vertragsärztlichen Zulassung auf einen vollen Versorgungsauftrag im Wege der Sonderbedarfszulassung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden, § 131 Abs. 3 SGG. Spruchreife im Sinne von § 131 Abs. 2 Satz 1 SGG liegt aber im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts nicht vor, so dass das Sozialgericht den Beklagten nicht zur Erteilung der begehrten Sonderbedarfszulassung hätte verpflichten dürfen.

 

Nicht tragfähig ist insoweit das vom Sozialgericht herangezogene Argument, die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung der Sonderbedarfszulassung sei für eine Gewährung effektiven Rechtsschutzes unerlässlich, da die hiesige Klägerin – sinngemäß – nicht hinter das in parallel geführten Streitsachen gefundene Ergebnis zurückfallen dürfe. Denn erstens ist jede an einen hierfür zuständigen gerichtlichen Spruchkörper herangetragene Streitsache für sich zu beurteilen. Abweichende Ergebnisse sind im Zweifel in Kauf zu nehmen und gegebenenfalls vom jeweils zuständigen Obergericht zu vereinheitlichen. Das gilt zweitens erst recht, wenn – wie hier – von (rechtskräftig) entschiedenen Parallelsachen keine formelle Bindungswirkung für das aktuell zu entscheidende Streitverfahren ausgeht. Mit anderen Worten hätte die 22. Kammer des Sozialgerichts Berlin sich bei Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits eine eigene Meinung bilden müssen und hätte seine Auffassung zur Spruchreife nicht an den Ergebnissen von Parallelverfahren orientieren dürfen.

 

Soweit das Sozialgericht unabhängig davon Spruchreife angenommen hat, ist auch dies rechtlich nicht beanstandungsfrei. Zwar bestanden erhebliche Anhaltspunkte für eine tatsächliche Unterversorgung im fachlichen Tätigkeitsbereich der Klägerin, insbesondere auf der Grundlage der Stellungnahmen der Beigeladenen zu 1. sowie des Vereins der niedergelassenen internistischen Onkologen Berlin. Es gab aber, wie bereits ausgeführt, kein vollständiges bzw. valides Zahlenmaterial zur aktuellen Versorgungssituation, das dem Sozialgericht eine verlässliche Grundlage dafür hätte geben können, einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Sonderbedarfszulassung als spruchreif anzusehen.

 

In diesem Zusammenhang sieht der Senat Anlass, die allzu weitgehende Heranziehung seines Urteils vom 18. Mai 2022, L 7 KA 12/20 (juris) zu bremsen. Es kann nicht dafür herangezogen werden, in Streitigkeiten um Sonderbedarfszulassungen die Annahme von Spruchreife zu Lasten des Beklagten gleichsam zur Regel werden zu lassen. In jener sehr besonders gelagerten  Streitsache, die die Sonderbedarfszulassung eines psychologischen Psychotherapeuten betraf, hatte der Senat ausnahmsweise Spruchreife angenommen, da aufgrund einer wiederholten und anhaltenden groben Verletzung der Ermittlungspflicht durch den Beklagten im Einzelfall eine eingeschränkte Umkehr der Beweislast griff. Die vorliegende Fallkonstellation kann mit jener nicht verglichen werden.

 

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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