L 16 BA 1/25 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Betriebsprüfungen
Abteilung
16.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 82 BA 132/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 BA 1/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Dezember 2024 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 158.377,- € festgesetzt.

 

 

 

 

 

 

Gründe

 

 

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist nicht begründet. Das Sozialgericht (SG) hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 13. Mai 2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2024 zu Recht abgelehnt.

 

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese auf Antrag ganz oder teilweise anordnen. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine - wie hier erfolgte - Entscheidung über Beitragspflichten und die Anforderung von Beiträgen sowie der darauf entfallenden Nebenkosten haben gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung.

 

Die Entscheidung, ob eine aufschiebende Wirkung – ausnahmsweise - nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Suspensivinteresses der Antragstellerin einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsakts andererseits (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl § 86b Rn 12b ff mit Nachweisen aus der Rspr). Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung von Beitragsbescheiden zunächst einmal angeordnet hat, muss die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben (aaO Rn 12c). Solche Argumente kommen vorliegend nicht zum Tragen.

 

§ 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG verlagert das Vollzugsrisiko bei Beitragsbescheiden grundsätzlich auf den Adressaten. Es können mithin nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Suspensivinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlich erscheinen lassen, zB eine – hier nicht erkennbare – offensichtliche Rechtswidrigkeit des angegriffenen Beitragsbescheides. Hierfür reicht es indes nicht schon aus, dass im Rechtsbehelfsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen sind. Maßgebend ist vielmehr, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht. Gegenüberzustellen sind zudem die Folgen, die eintreten würden, wenn die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet würde, die Klage aber später Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, die Klage aber im Ergebnis keinen Erfolg hätte.

 

Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung der Klage nicht anzuordnen, da ein Erfolg im Rechtsbehelfsverfahren der Hauptsache nicht wahrscheinlich ist. Es spricht nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich (nur) gebotenen summarischen Prüfung derzeit nicht mehr dafür als dagegen, dass sich der von der Antragsgegnerin auf der Grundlage von § 28p Abs. 1 Sätze 1, 4 und 5 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) erlassene Bescheid vom 13. Mai 2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2024, mit dem sie von Antragstellerin für die Jahre 2017 und 2018 Sozialversicherungsbeiträge einschließlich Säumniszuschlägen nachfordert, als rechtswidrig erweisen wird.

 

Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung des SG Bezug, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin in deren Schriftsatz vom 14. Februar 2025, das sich im Wesentlichen in einer Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens erschöpft und dabei auf einen hier nicht in Rede stehenden Eilrechtsschutz in Vornahmesachen rekurriert („Anordnungsanspruch“, „Anordnungsgrund“), rechtfertigt keine andere Beurteilung.

 

Der grundsätzliche Rückgriff der Antragsgegnerin auf die Ermittlungen und Auswertungen des Hauptzollamts (HZA) ist nicht zu beanstanden (vgl §§ 20 Abs. 1, 21 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz <SGB X>; vgl auch § 6 Abs. 4 Nr 3 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung <SchwarzArbG>). Es besteht darüber hinaus aber auch keine grundsätzliche Bindung der Antragsgegnerin oder der Sozialgerichte an die juristische Beurteilung beitragsrechtlicher Sachverhalte durch die Behörden oder Gerichte anderer Bereiche. Der Sonderrechtsbereich sozialversicherungsrechtlicher Abwägungsentscheidungen und damit der statusrechtlichen Beurteilung erfordert eigenständige Würdigungen; eine uneingeschränkte Parallelität zu anderen (Teil-)Bereichen der Gesamtrechtsordnung liegt insofern von vornherein nicht vor (vgl zB Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 11. November 2015 - B 12 KR 13/14 R - juris - Rn 24 mwN).

 

Auch fehlt es dem Bescheid entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht an einer - bei summarischer Prüfung - hinreichend nachvollziehbaren Berechnung der Beitragsnachforderung. Die Beitragsschätzung der Antragsgegnerin ist nicht zu beanstanden und stützt sich nach eigenständiger Würdigung der Ermittlungsergebnisse des HZA (Vermerk des Finanzamtes für Fahndung und Strafsachen B über die Qualifizierung der S  GmbH als „Servicefirma“, Protokolle über die Vernehmungen insbesondere der Zeugen M M und RS, Auszüge aus der Finanzbuchhaltung der Antragstellerin, sichergestellte Scheinrechnungen, Zeugenaussagen von Auftraggebern, Ermittlungsberichte der Steuerfahndung und des HZA) zu Recht darauf, dass die Antragstellerin in den hier streitgegenständlichen Jahren weit mehr Arbeitnehmer beschäftigt als sie angemeldet haben dürfte. So wurde zB im Ergebnis der Ermittlungen des HZA festgestellt, dass etwa im Jahr 2018 bis zu 22 Arbeitnehmer für die Antragstellerin tätig waren, wobei diese im Zeitraum von Januar 2018 bis Mai 2018 zeitgleich an vier bis sechs Bauvorhaben arbeiteten (in dieser Zeit waren nur drei bis fünf Arbeitnehmer der Antragstellerin ordentlich angemeldet). Demgegenüber hatte die Antragstellerin bei einem Gesamtumsatz des Unternehmens von 2,8 Mio €  nach den Mitteilungen der Sozialkasse des Berliner Baugewerbes nur gewerbliche Arbeitnehmer mit einem Arbeitsentgelt von insgesamt 122.509,- € gemeldet. Das entspricht einer völlig unrealistischen Lohnquote von weniger als 5% des Gesamtumsatzes. Die gemeldeten Arbeitnehmer waren überwiegend in Teilzeit mit einer monatlichen Arbeitszeit zwischen 40 und 90 Stunden angemeldet. Eine solche bei dem Volumen der durchgeführten Bauaufträge nicht plausible gemeldete Arbeitszeit ist typisch für Beschäftigungsverhältnisse mit ergänzender Schwarzarbeit und deutet zudem auf eine nicht unerhebliche Zahl illegal ohne Meldung beschäftigter weiterer Arbeitnehmer hin. Dafür, dass die Antragstellerin – wie von ihr behauptet – im Streitzeitraum tatsächlich Subunternehmer beauftragt hatte, bestehen keine konkret plausiblen Anhaltspunkte. Diese lassen sich auch nicht den von der Antragstellerin in der Beschwerdebegründung erneut, indes nur teilweise zitierten Aussagen der Zeugen M und S entnehmen. Denn der Zeuge S hatte bei seiner weiteren Vernehmung am 3. Juni 2019 – auch dieses Protokoll findet sich in der Ermittlungsakte des HZA - auf den Vorhalt der Aussage des Zeugen M, dieser habe nichts von einer Personalgestellung für die Antragstellerin seitens der S  GmbH gewusst, seine vorherigen Einlassungen dahingehend berichtigt, dass die Personalgestellung (ua für die Antragstellerin), von der er gesprochen habe, nur Mitarbeiter betroffen habe, die gar nicht gemeldet waren, „quasi echte Schwarzarbeiter“, die nur bei Bedarf, etwa nach einer Baustellenkontrolle, angemeldet worden seien. Hierauf durfte sich das SG daher zu Recht stützen.

 

Liegen (wie hier) somit keine hinreichend verlässlichen Anknüpfungstatsachen für die nähere Bestimmung der Bemessungsgrundlagen vor, so kann eine an Wahrscheinlichkeitskriterien ausgerichtete Schätzung erfolgen. Es begegnet keinen grundsätzlichen Bedenken, dass sich die Antragsgegnerin an der vom Bundesgerichtshof (BGH) entwickelten Rechtsprechung orientiert hat, wonach im Bereich des lohnintensiven Baugewerbes bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen in Form der Schwarzarbeit grundsätzlich zwei Drittel des Nettoumsatzes als Nettolohnsumme veranschlagt werden können (vgl zB BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09 - juris - Rn 21 ff mwN). Die Antragsgegnerin durfte danach zutreffend 66,667% der Nettorechnungsbeträge der dem Finanzamt gemeldeten Umsätze der Antragstellerin als Lohnkostenanteil zugrunde legen. Dass eine entsprechende Vorgehensweise die Antragstellerin in nicht angemessener Weise belasten könnte, ist nicht ersichtlich. Der Antragstellerin bleibt es unbenommen, im Hauptsacheverfahren nachzuweisen bzw substantiiert vorzutragen, welche einzelnen konkreten sonstigen Umstände bei der Schätzung ggf noch Berücksichtigung finden müssten. Im Rahmen des Eilverfahrens führen etwaige, gegebenenfalls punktuell erforderliche Berichtigungen der Beitragsberechnung im Übrigen nicht dazu, den Erfolg des Widerspruchs bzw der Klage insgesamt für wahrscheinlicher als deren Misserfolg anzusehen.

 

Auch die Hochrechnung von Netto- auf Bruttolohnbeträge nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV ist nicht zu beanstanden. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich nicht auf die Fälle des § 1 Abs. 2 SchwarzArbG. Vielmehr liegen illegale Beschäftigungsverhältnisse im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV auch vor, wenn - wie hier - objektiv zentrale arbeitgeberbezogene Pflichten des Sozialversicherungsrechts (Zahlungs-, Melde-, Aufzeichnungs-, Nachweispflichten) verletzt werden, namentlich nach den §§ 28f Abs. 1 Satz 1, 28n Nr. 4 SGB IV iVm § 8 Beitragsverfahrensordung  (vgl zB BSG, Urteil vom 9. November 2011 - B 12 R 18/09 R - juris - Rn 18, 24). Auf die Einschätzung des Finanzamtes für Fahndung und Strafsachen über das Vorliegen von „Schwarzarbeit“ kommt es insoweit nicht an. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ist auch eine zumindest bedingt vorsätzlich begangene Pflichtverletzung iSv § 14 SGB IV anzunehmen. Dabei genügt es, dass die Antragstellerin ihre Beitragspflicht als Arbeitgeberin für möglich gehalten und die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hat (vgl BSG aaO Rn 28). Hieran hat der Senat nach den aktenkundigen Umständen unbeschadet einer weiteren Klärung im Hauptsacheverfahren keine derart durchgreifenden Zweifel, die eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auch insoweit als überwiegend wahrscheinlich erscheinen ließen. Ausgehend davon ist auch die Festsetzung der Säumniszuschläge nicht zu beanstanden (vgl § 24 Abs. 2 SGB IV).

 

Etwaige Voraussetzungen einer unbilligen Härte sind von der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren nicht substantiiert dargelegt worden. Auch insoweit ist daher auf die Ausführungen des SG zu verweisen. Allein die mit der Zahlung auf eine Beitragsforderung für die Antragstellerin verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen führen nicht zu einer solchen Härte, da sie lediglich Ausfluss der Erfüllung gesetzlich auferlegter Pflichten sind. Eine beachtliche Härte in diesem Sinne ist regelmäßig nur dann denkbar, wenn es dem Beitragsschuldner gelingt darzustellen und glaubhaft zu machen, dass das Beitreiben der Forderung aktuell die Insolvenz und/oder die Zerschlagung seines Geschäftsbetriebes zur Folge hätte, die Durchsetzbarkeit der Forderung bei einem Abwarten der Hauptsache aber zumindest nicht weiter gefährdet wäre als zurzeit. Dabei ist vom Beitragsschuldner auch darzulegen und glaubhaft zu machen, dass er bei Fortsetzung seines Geschäftsbetriebs und Einhaltung aller rechtlichen Bestimmungen in der Lage ist, derart rentabel zu wirtschaften, dass die noch offene Beitragsforderung in überschaubarer Zeit beglichen werden kann (vgl zB LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21. Oktober 2020 - L 8 BA 143/19 B ER – juris – Rn 22); hierzu fehlt es an konkretem und plausiblem Vortrag auch im Beschwerdeverfahren. Liegt aber grundsätzlich keine ausreichende Ertragssituation vor, scheidet eine unbillige Härte aus. Der alleinige Verweis auf eine existenzbedrohende Härte, die „unweigerlich“ die Insolvenz zur Folge hätte, reicht hierfür nicht aus, zumal auch die von der Antragstellerin vorgebrachten Erwägungen, weshalb sie keine Stundungs- oder Ratenzahlungsvereinbarung mit der zuständigen Einzugsstelle treffen könne, nicht durchgreifen. Ist nämlich eine tragfähige Fortführung des Geschäftsbetriebs auch in Ansehung der Beitragsforderungen ohnehin nicht zu erwarten, scheidet die Annahme einer unbilligen Härte von vornherein aus. Wenn die Antragstellerin – wofür die vorliegenden Jahresabschlüsse und betriebswirtschaftlichen Auswertungen sprechen - auch prognostisch nicht in der Lage wäre, ihren festgesetzten Beitragspflichten ggf auch unter Abschluss einer Stundungs- bzw Ratenzahlungsvereinbarung nachzukommen, stellt eine Insolvenz keine unbillige Härte bezogen auf die Beitragszahlungspflicht dar, sondern ist rechtliche Konsequenz der mangelnden Tragfähigkeit des Geschäftsbetriebs.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

 

Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 4, 52 Gerichtskostengesetz und berücksichtigt, dass in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, die Beitragsangelegenheiten betreffen, regelmäßig nur ein Viertel des Wertes der Hauptsache einschließlich etwaiger Säumniszuschläge als Streitwert anzusetzen ist.

 

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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