S 10 VG 2060/21

Sozialgericht
SG Konstanz (BWB)
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 10 VG 2060/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

 

Tatbestand

 

 

Die Beteiligten streiten über Leistungen der Opferentschädigung.

 

Der Kläger ist am … geboren. Er sollte am 16.10.2019 durch Kräfte der Fahndung der Kriminalpolizeidirektion … aufgrund eines bestehenden Vorführbefehls festgenommen werden. Er wurde an einer Bushaltestelle in der … in … lokalisiert und dort von den Polizeibeamten angetroffen. Er war dort in Begleitung seines Hundes, einem Rottweiler, welchen der Kläger nach eigenen Angaben an der Leine hatte. Der Kläger zog sodann ein Messer und ein Pfefferspray. Der Aufforderung der Polizeibeamten, das Messer und das Pfefferspray fallen zu lassen, leistete er nicht Folge. Es erfolgte sodann der Einsatz von Tränengas gegen den Kläger. Der Kläger gab seinem Hund das Kommando „Fass“, welchem dieser jedoch nicht Folge leistete. Der Kläger und sein Hund, welcher mittlerweile freilief, rannten sodann weg, wobei der Kläger das Messer zunächst in der Hand behielt. Der Kläger lief einen Hang hinauf. Den Aufforderungen der insgesamt 6 im Einsatz befindlichen Polizeibeamten, stehen zu bleiben, leistete er nicht Folge. Die Polizeibeamten KHK … sowie PK … gaben 2-3 Warnschüsse in die Luft ab und schossen sodann auf den Kläger. Aufgrund der Dienstwaffen der Polizisten konnte festgestellt werden, dass KHK … 5 Schüsse und PK … einen Schuss abgab. Der Kläger wurde 2 Mal getroffen. Der Kläger erlitt jeweils rückseitig einen Durchschuss am Oberkörper sowie am rechten Oberschenkel. Der Kläger hatte hierdurch einen Hämatothorax links, eine Lungenkontusion links, eine Fraktur der 12. Rippe sowie eine Atelektase des rechten Oberfeldes. Weiter erlitt er durch den Schuss in den Bauch eine Ösophagus-Perforation sowie eine Leberlazeration Segment II-IV. Es erfolgte eine Notfall-Laparotomie mit Gastrektomie in der …Klinik … sowie eine therapeutische Wundspülung der Wunde am rechten Oberschenkel.

 

Der Kläger stellte am 27.01.2020 bei dem Beklagten einen Antrag auf Leistungen für Gewaltopfer nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten.

 

Dieser wurde mit dem Bescheid des Beklagten vom 18.05.2021 abgelehnt. Der Kläger sei nicht Opfer eines rechtswidrigen Angriffs geworden. Das Handeln der Polizeibeamten sei gerechtfertigt gewesen, da die Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs im konkreten Fall gegeben gewesen seien.

 

Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch, welcher mit dem Widerspruchsbescheid vom 13.08.2021 zurückgewiesen wurde.

 

Er trägt vor, der Beklagten habe den Sachverhalt nicht eigenständig und rechtmäßig überprüft und den Anspruch des Klägers daher leichtfertig abgelehnt. Sie stütze sich lediglich auf die Wertung der Staatsanwaltschaft, ohne eine eigene Prüfung vorgenommen zu haben. Der Schusswaffengebrauch sei zudem nicht gerechtfertigt gewesen, da eine Gefahrenlage nicht bestanden habe. Eine Abwägung ergebe einen höherwertigen Rang des Lebens vor der einfachen Strafrechtspflege.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Bescheid der Beklagten vom 18.05.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2021, zugegangen am 17.08.2021, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Beschädigtenversorgung zu gewähren,

 

festzustellen, dass der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden war

 

festzustellen, dass die Kosten des Widerspruchsverfahrens von der Beklagten zu tragen sind.

 

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

 

 

Die Rechtfertigungsgründe für den Schusswaffengebrauch seien von der Staatsanwaltschaft Ravensburg eingehend geprüft worden, insbesondere auch die besondere Bedeutung der Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Diesen habe sich der Beklagte nach eigener umfassender Prüfung des Sachverhaltes und der rechtlichen Würdigung angeschlossen.

 

 

Im Erörterungstermin am 26.04.2023 hat der Kläger angegeben, er leide seit dem Vorfall an Schwierigkeiten beim Essen, seine Verdauung funktioniere zudem nicht richtig. Er müsse Tabletten nehmen, habe Sodbrennen, Darmbrennen und Krämpfe und Bauchschmerzen bei jeder Bewegung. Den linken Arm könne er zudem nicht belasten.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten und der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft … Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

A. Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs.1 S. 1 SGG durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform angehört wurden, die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

B. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 18.05.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.08.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

 

Der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch richtet sich sowohl bis zum 31.12.2023 als auch nach dem Inkrafttreten von § 13 Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) zum 01.01.2024 nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in der bis zum 31.12.2023 gültigen Fassung. Für den Zeitraum ab dem 01.01.2024 ergibt sich dies aus § 142 Abs. 2 Satz 1 SGB XIV, wonach über einen bis zum 31.12.2023 gestellten und nicht bestandskräftig beschiedenen Antrag auf Leistungen nach dem BVG oder nach einem Gesetz, das das BVG ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, nach dem im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht zu entscheiden ist.

 

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Als tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt. Der tätliche Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zeichnet sich durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 29.04.2010, B 9 VG 1/09 R und Urteil vom 09.04.2011, B 9 VG 2710 R – juris).

 

Danach hat ein tätlicher Angriff auf den Kläger durch die Schüsse, welche den Kläger am Oberschenkel und am Rücken trafen, stattgefunden. Zweifel an dem stattgefundenen Tatablauf hat das Gericht aufgrund der im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben der im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gewonnenen Zeugenangaben, welche dem Gericht aufgrund der beigezogenen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft als Urkundsbeweis zur Verfügung stehen, sowie aufgrund der Angaben des Klägers selbst im Erörterungstermin, nicht. Danach steht zu Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger sowie sein Hund sich nach dem Einsatz von Pfefferspray gegen sie von den Polizeibeamten entfernten, der Kläger auch auf die Rufe, anzuhalten, weiterlief und auch aufgrund der zunächst abgegebenen Warnschüsse nicht stehen blieb. Ebenso steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger sein Messer jedenfalls zunächst noch in der Hand hielt. Dass der Kläger sein Messer und sein Pfefferspray zog, hat er selbst im Erörterungstermin eingeräumt, ebenso, wie dass er seinen Hund freilaufen ließ.

 

Nur rechtswidrige Gewalttaten können zu einem Anspruch auf Opferentschädigung führen. Grundsätzlich ist (auch) hier das strafrechtliche Verständnis zugrunde zu legen. Eine Gewalttat, die den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt, ist in der Regel rechtswidrig. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit, womit von dieser auszugehen ist, soweit nicht ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist (Braun in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XIV, 2. Aufl., § 13 SGB XIV (Stand: 27.05.2024), Rn. 86).
 

Im Opferentschädigungsrecht sind eine ganze Reihe von Rechtfertigungsgründen praxisrelevant. Grundsätzlich gilt, dass Rechtfertigungsgründe (Unrechtsausschließungsgründe) dem Gesamtbereich der Rechtsordnung – also auch ungeschriebenem Recht – zu entnehmen sind. Sie nehmen der Tatbestandsverwirklichung die Rechtswidrigkeit. Rechtfertigungsgründe sind u.a. die (mutmaßliche) Einwilligung der verletzten Person, die Notwehr (§ 32 StGB), der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB), Festnahmerechte Privater (§ 127 Abs. 1 StPO) oder von Staatsorganen (§ 127 Abs. 2 StPO) sowie Handeln aufgrund von Amtsrechten und Dienstpflichten.

 

Vorliegend lag ein Rechtfertigungsgrund für den Angriff auf den Kläger vor, da die Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs nach den §§ 53, 54 Abs. 1 Nr. 3 a LPolG BW in der Fassung vom 18.11.2008 (GBl. S. 390), in Kraft getreten am 22.11.2008, vorlagen. Gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 3 LPolG BW a.F. ist der Schusswaffengebrauch bereits vor Ergreifung einer Person, die dem amtlichen Gewahrsam zuzuführen ist, zulässig. Aufgrund des bestehenden Vorführungsbefehls gemäß § 457 Abs. 2 StPO war der Kläger dem amtlichen Gewahrsam zuzuführen. Gemäß §§ 52, 53 LPolG BW a.F. ist der Schusswaffengebrauch nur zulässig, wenn die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs vorliegen und wenn einfache körperliche Gewalt sowie verfügbare Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder mitgeführte Hiebwaffen erfolglos angewandt worden sind oder ihre Anwendung offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Unmittelbarer Zwang darf gemäß § 52 LPolG BW nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint. Gegen Personen darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck durch unmittelbaren Zwang gegen Sachen nicht erreichbar erscheint. Die Vollziehung des Vorführungsbefehls war ohne die Anwendung unmittelbaren Zwangs nicht mehr möglich, da der Kläger den Aufforderungen der Polizeibeamten nicht nachkam, sich diesen vielmehr widersetzte, indem er sein Messer und sein Pfefferspray zog, versuchte, seinen Hund gegen die Polizeibeamten aufzuhetzen und sich anschließend mit dem geöffneten Messer entfernte und davonrannte. Der Einwand des Klägers, das Messer habe sich von selbst geöffnet, weil möglicherweise noch ein Ast dazwischen war, kann vor diesem Hintergrund nur als Schutzbehauptung angesehen werden. Der Schusswaffengebrauch war vorliegend auch verhältnismäßig. Er diente einem legitimen Zweck, nämlich der Durchsetzung des gegen den Kläger bestehenden Vorführungsbefehls, und war hierzu auch geeignet. Der Schusswaffengebrauch war auch erforderlich, da ein gleich geeignetes aber milderes Mittel nicht erfolgversprechend zur Verfügung stand. Die Polizeibeamten hatten den Kläger zunächst erfolglos aufgefordert, das Messer sowie das Pfefferspray wegzulegen. Auch auf die Rufe, stehen zu bleiben, reagierte der Kläger nicht. Der Kläger legte zuvor gegenüber den Polizeibeamten ein aggressives und gewaltbereites Verhalten an den Tag und war als der Polizei bekannter Betäubungsmittelkonsument als unberechenbar einzustufen. Er stellte daher auch für unbeteiligte Personen, das Messer bei seiner Flucht weiterhin in der Hand haltend, eine mögliche Gefahr dar. Auch hätten sich die Polizeibeamten bei körperlicher Annäherung und dem Versuch der Überwältigung des Klägers aufgrund des Messers einer massiven Eigengefahr ausgesetzt. Nach dem bereits erfolgten Einsatz des Pfeffersprays und den abgegebenen Warnschüssen durfte der Einsatz der Schusswaffe daher als erforderlich angesehen werden. Der Gebrauch der Schusswaffe war vorliegend auch angemessen. Abzuwägen war das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit des Klägers gegen die effektive Strafrechtspflege als Ausformung des Rechtsstaatsprinzips. Die Abwägung ergab vorliegend einen Vorrang der effektiven Strafrechtspflege. Zu berücksichtigen war hier, dass der Kläger mit seinem Verhalten seine körperliche Unversehrtheit als Gut mit Verfassungsrang bewusst und leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat, indem er sich gegenüber den Polizeibeamten aggressiv und gewaltbereit verhielt, vor diesen mit dem Messer in der Hand flüchtete und auf die mündlichen Warnungen und Warnschüsse nicht reagierte. Der Einsatz der Schusswaffen war angekündigt und damit für den Kläger vorhersehbar. Gleichwohl änderte er sein Verhalten nicht und nahm damit seine körperliche Verletzung mit einer Schusswaffe in Kauf. Auf der anderen Seite war zu sehen, dass die entsprechenden Normen im Polizeigesetz den Gebrauch der Schusswaffe in der vorliegenden Situation ausdrücklich vorsehen und normieren, um den Betroffenen, der die Rechtsordnung missachtet, fluchtunfähig zu machen, was letztlich auch erfolgt ist. In die Abwägung einzustellen war auch die Sicherheit für dritte unbeteiligte Personen, da angesichts des aggressiven und unberechenbaren Verhaltens des Klägers, welcher mit dem Messer in der Hand davonlief, nicht auszuschließen war, dass dieser sich zu Fluchtzwecken auch dritten unbeteiligten Personen in schädigender Weise nähern könnte. Nach alledem war der Schusswaffengebrauch gegen den Kläger vorliegend gerechtfertigt, sodass ein rechtswidriger Angriff nicht gegeben war.

 

Soweit der Kläger vorträgt, der Beklagte habe keine eigenständige Prüfung der Sach- und Rechtslage vorgenommen ist, kann dem nicht gefolgt werden. Vielmehr geht aus dem angefochtenen Bescheid sowie den sich in der Akte des Beklagten befindlichen Prüfungen hervor, dass der Beklagte eine eigene Prüfung der Geschehnisse und der Rechtslage vorgenommen hat.

 

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
Saved