Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 07.09.2022 abgeändert und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 06.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.2021 verurteilt, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 40 ab 10.07.2020 festzustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte erstattet der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) von 50.
Die 1959 geborene Klägerin beantragte am 10.07.2020 die Feststellung eines GdB, u.a. wegen eines Burnout, Divertikulitis sowie von Bandscheibenvorfällen. Der Beklagte zog Befundberichte der behandelnden Ärzte bei und legte diese dem versorgungsärztlichen Dienst vor. Dieser bewertete die Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt:
Depression 30
Bandscheibenschaden, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule 10
Divertikulose 10
Insgesamt 30.
Mit Bescheid vom 06.10.2020 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 30 seit 10.07.2020 fest.
Im Widerspruchsverfahren zog der Beklagte eine Bescheinigung der behandelnden M1 bei, wonach bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Symptomatik bestehe.
Der erneut befragte versorgungsärztliche Dienst sah keinen Anlass für eine Änderung der GdB-Einschätzung, so dass der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.03.2021 den Widerspruch zurückwies.
Am 07.04.2021 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Sie ist der Auffassung, aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen Anspruch auf einen GdB von 50 zu haben.
Das SG hat den die Klägerin behandelnden K1 befragt, der am 24.08.2021 mitgeteilt hat, die Klägerin leide u.a. an einer schweren Somatisierungsstörung, die durch eine Aortenektasie exazerbiert werde. K1 hat u.a. einen Reha-Entlassbericht vom 20.03.2020 vorgelegt (Rehamaßnahme vom 30.12.2019 bis 03.03.2020), wonach bei der Klägerin eine mittelgradige depressive Episode bestehe. Die M1 hat am 02.09.2021 angegeben, die Klägerin leide an einer depressiven Symptomatik leichten Ausmaßes, die in Abhängigkeit von belastenden Ereignissen auftrete.
Im Auftrag des SG hat E1 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin ein psychiatrisches Gutachten vom 22.09.2021 erstattet. Dieser diagnostizierte eine Depression, die mit einem GdB von 50 zu bewerten sei.
Seit September 2022 bezieht die Klägerin eine Altersrente für langjährig Versicherte nach 45 Jahren mit Beitragszeiten.
Mit Gerichtsbescheid vom 07.09.2022 hat das SG den Beklagten – gestützt auf das Gutachten des E1 – verurteilt, bei der Klägerin einen GdB von 50 ab 10.07.2020 festzustellen.
Gegen den am 15.09.2022 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Beklagte mit seiner am 11.10.2022 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. M1 behandle die Klägerin nur wegen einer leichten Depression, während das Gutachten von E1 nur eine Momentaufnahme darstelle, aus der sich nicht entnehmen lasse, ob diese dauerhaft vorhanden sei; somit sei nicht gesichert, dass bei der Klägerin eine dauerhaft schwere seelische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorliege. Das Gutachten von E1 lasse keine mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten erkennen. Auch dem Gutachten von S1 seien nicht ausreichend Hinweise für mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten zu entnehmen.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 07.09.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat den Reha-Entlassbericht der M2 D1 Klinik beigezogen, in der die Klägerin vom 31.12.2019 bis 03.03.2020 behandelt wurde, und nochmals M1 befragt, die am 15.12.2022 mitgeteilt hat, dass die Klägerin zunächst an mittelgradigen depressiven Episode gelitten habe, dann an einer leichten depressiven Episode.
Der Senat hat darüber hinaus ein weiteres Gutachten von Amts wegen bei S1 vom 08.12.2023 eingeholt. Dieser hat bei der Klägerin eine rezidivierende Depression, gegenwärtig mittelgradige Episode, mit somatischem Syndrom sowie eine Dysthymia diagnostiziert (sog. Double Depression), die er als mittelschwer bis sehr schwer eingeschätzt hat. Insgesamt liege eine schwere neurotische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor, die mit einem GdB von 50 zu bewerten sei. Soweit der Beklagte bemängle, dass die Klägerin derzeit keine Psychotherapie durchführe, werde darauf hingewiesen, dass das Kontingent erschöpft sei.
Mit Schreiben vom 01.08.2024 hat die Klägerin und mit Schreiben vom 06.08.2024 der Beklagte einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des Beklagten und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig und teilweise begründet. Das SG hat bei der Klägerin zu Unrecht einen GdB von 50 festgestellt.
Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG; zur statthaften Klageart vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R sowie Urteil vom 12.04.2000, B 9 SB 3/99 R, beide in juris) ist der Bescheid vom 06.10.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.2021, mit dem der Beklagte die Feststellung eines höheren GdB als 30 abgelehnt hat.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX liegt eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie die Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes [BVG]) bzw., mit Außerkrafttreten des BVG und mit Inkrafttreten des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB XIV) zum 01.01.2024, die für die Durchführung des SGB XIV zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX ist eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.
Nach § 153 Abs. 2 SGB IX wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 241 Abs. 5 SGB IX, dass – soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.
Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 Satz 1 SGB IX; danach sind insbesondere die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).
Im Vordergrund steht bei der Klägerin – auch nach Auffassung des SG in der angefochtenen Entscheidung und der Beteiligten – die Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet. Dabei handelt sich um eine rezidivierende Depression mit somatischem Syndrom sowie um eine Dysthymia. Dies entnimmt der Senat dem insoweit nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachten von S1. Die Diagnose Depression haben E1 in seinem Gutachten und die M1 ebenfalls gestellt und findet sich auch im Reha-Entlassbericht. Letztlich wird vom Beklagten die Diagnose Depression auch nicht (mehr) in Frage gestellt, dieser bezweifelt letztlich nur die Dauerhaftigkeit (Stellungnahme des G1 vom 22.09.2022 zur Berufungsbegründung) bzw. die mit der Erkrankung verbundenen Beeinträchtigungen im Alltag (Stellungnahme des G1 vom 23.01.2024).
Anders als S1 und E1 bewertet der Senat die aus der Erkrankung folgenden Funktionseinschränkungen jedoch nicht mit einem Einzel-GdB von 50. Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 sind schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 50-70 zu bewerten. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten, die erheblicher sein müssen als wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (sonst GdB 30-40), sind dabei eine in den meisten Berufen sich auswirkende psychische Veränderung, die zwar eine weitere Tätigkeit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt und erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung bewirkt, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z.B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte (Beiratsbeschluss des Sachverständigenbeirats vom 18./19.03.1998, Wendler/Schilling, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 9. Aufl., 2018, S. 161). Zur Überzeugung des Senats liegt eine mittelgradige Depression vor. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des S1, sowie der sachverständigen Zeugenaussage der M1 und dem Reha-Entlassbericht. Daneben besteht, wie S1 mitgeteilt hat, eine Dysthymia. Der Senat hat bereits Zweifel, ob diese mittelgradige Depression zusammen mit der Dysthymia eine schwere Störung i.S.d. VG, Teil B, Nr.3.7 darstellt. So ist bei der Beurteilung auch der Leidensdruck zu würdigen. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich auch in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Bei fehlender ärztlicher oder dieser gleichgestellten (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 28 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch) psychotherapeutischer Behandlung durch – bei gesetzlich Versicherten zugelassene – psychologische Psychotherapeuten kann in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine stärker behindernde psychische Störung hinausgeht und eine schwere Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 10.08.2023, L 6 SB 1549/21, juris, das bei fehlender Behandlung bereits eine stärker behindernde Störung und damit einen GdB von mindestens 30 ausschließt). Soweit wie S1 zutreffend darlegt, dass die Klägerin derzeit keine Psychotherapie bekommen kann, hätte die Klägerin bei entsprechendem Leidensdruck, worauf G1 hinweist, eine medikamentöse Therapie in Erwägung ziehen können.
Soweit S1 mittels Beck-Depressions-Inventar II eine schwergradige Depressivität ermittelt hat, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Bei diesem Test handelt es sich um ein Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schweregrades der Depression. Die Fragebögen werden dabei durch die zu begutachtende Person ausgefüllt. Das auf subjektive Angaben beruhende Testergebnis vermag für sich genommen den Symptom- oder Krankheitsnachweis nicht zu führen. Vielmehr ist die Validität der angegebenen Beschwerden zu überprüfen (Begutachtungsleitlinie der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaft – AWMF –, hier die AWMF-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen, Stand 25.12.2019, auch zum Nachfolgenden). Werden in Fragebögen und Selbstbeurteilungsskalen stark ausgeprägte Beeinträchtigungen angegeben, sollten diese auch mit entsprechend schweren Einschränkungen in der Teilhabe in allen Lebensbereichen verbunden sein. Andernfalls sind sie eher als tendenziöse Darstellung im Sinne einer Aggravation oder Simulation zu verstehen. Der von der Klägerin beim BDI II erreichte Gesamtsummenscore von 36 entspricht einer schwer ausgeprägten Depression. Demgegenüber hat die die behandelnde M1 in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass eine schwere Depression nicht vorliegt. Im Ergebnis kommt auch S1 nur zu einer Depression, derzeit mittelgradige Episode.
Jedenfalls vermag der Senat mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten nicht zu erkennen. Die Klägerin hat gegenüber S1 angegeben, sich um ihre Mutter zu kümmern, sie koche, bügle, putze und kaufe ein. Ein sozialer Rückzug wird hingegen von S1 nicht beschrieben. Sie hat S1 gegenüber lediglich angegeben, in den letzten Jahren keinen Urlaub mehr gemacht zu haben. Der G1 weist zur Überzeugung des Senats zutreffend darauf hin, dass die bei der Klägerin bestehenden eingeschränkten sozialen Kontakte von der Pflege der Mutter herrühren, die nach Angaben der Klägerin auch häufig stürzt und deshalb überwacht werden muss. Soweit die Klägerin gegenüber dem Gutachter angibt, viel Schlaf zu benötigen und erst gegen 9 Uhr aufzustehen, erklärt sich dies auch damit, dass die Klägerin erst gegen 1 Uhr zu Bett geht, was wiederum mit der Betreuung der Mutter zusammenhängt, mit der sie bis 22 oder 23 Uhr fernsieht; danach muss die Klägerin, die ausweislich des Reha-Entlassberichts nicht mit einer pflegebedürftigen Person zusammenlebt, noch nach Hause fahren. Auch eine berufliche Gefährdung lag (bei der mittlerweile in Altersrente befindlichen Klägerin) nicht vor; so ist dem Reha-Entlassbericht zu entnehmen, dass die Klägerin vollschichtig leistungsfähig sowohl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als auch für ihren Beruf als zahnmedizinische Verwaltungsangestellte war. Entgegen der Annahme von S1, der den Bezug einer Erwerbsminderungsrente dokumentiert hat, bezieht die Klägerin jedoch eine vorgezogene Altersrente. Letztlich beschreibt S1 bei der Klägerin lediglich leichte Defizite im Bereich der kognitiven Fähigkeiten und einen etwas verlangsamten Gedankengang, bei Einengung auf die körperlichen Beschwerden, jedoch ansonsten weitgehend unauffällig. E1 beschreibt eine nicht beeinträchtigte Merkfähigkeit und ein nicht beeinträchtigtes Gedächtnis; die Konzentrationsfähigkeit war lediglich subjektiv vermindert. Insgesamt konnte sich der Senat vom Vorliegen einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen nicht überzeugen.
Wie auch die Versorgungsärzte ordnet der Senat die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin als stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) ein, die mit einem GdB von 30 bis 40 bewertet werden. Jedoch ist zur Überzeugung des Senats der vorgegebene Rahmen voll auszuschöpfen und der GdB mit 40 zu bewerten. Insbesondere die bei der Klägerin bestehenden Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit rechtfertigen eine Zuordnung im oberen Bereich des GdB-Rahmens. Sie hat keine Hobbies und fährt nicht mehr in den Urlaub. Soziale Kontakte bestehen kaum. Dies mag zwar auch auf die Pflege der Mutter zurückzuführen sein, jedoch wäre ein gesunder Mensch sicherlich in der Lage, einen entsprechenden Ausgleich zu schaffen. Auch wenn die Klägerin derzeit keine Therapie durchführt, hat sie dennoch die von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommene Therapie voll ausgeschöpft.
Neben den Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bestehen bei der Klägerin Einschränkungen durch die Divertikulitis. Nach den VG, Teil B, Nr. 10.2.2 sind chronische Darmstörungen ohne wesentliche Beschwerden mit einem Einzel-GdB von 0 bis10 mit stärkeren und häufig rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen (z.B. Durchfälle, Spasmen) mit einem Einzel-GdB von 20 bis 30 zu bewerten. Zur Überzeugung des Senats ist bei der Klägerin ein Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen. Zwar klagt die Klägerin gegenüber S1 über derzeitige Durchfälle, jedoch befindet sie sich (neben einer Akutbehandlung im Krankenhaus im Januar 2020) wegen der Divertikulitis lediglich bei ihrem Hausarzt in Behandlung, eine Medikation findet nicht statt. Anhaltende Durchfälle gibt weder der behandelnde K1 noch die Klägerin an, die weder in der Klagebegründung noch in der Berufungserwiderung Teilhabebeeinträchtigungen durch die Divertikulitis beschreibt.
Darüber hinaus bestehen geringe Einschränkungen im Bereich Herz und Kreislauf. Nach den VG, Teil B, Nr. 9.1.1 beurteilen sich Krankheiten des Herzens nach der Einschränkung der Herzleistung. Da die Klägerin selbst keine wesentliche Einschränkung vorgetragen hat und auch die behandelnden Ärzte und der Reha-Entlassbericht eine solche nicht berichtet haben, ist der Einzel-GdB hierfür mit 10 anzusetzen. Die Klägerin hat lediglich angegeben, dass sie alle 3 Monate zu einer Kontrolle geht. Weder gegenüber S1 noch gegenüber E1 hat die Klägerin die Herzprobleme als belastend beschrieben; in der Klagebegründung und der Berufungserwiderung wurde die Thematik nicht angesprochen. Der A1 hat gegenüber dem K1 berichtet, dass kein Hinweis für koronare oder andere strukturelle Herzerkrankungen bestehe.
Ebenfalls ein Einzel-GdB von 10 ist für die Wirbelsäulenerkrankung anzusetzen. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben mehrere Bandscheibenvorfälle erlitten. Jedoch kommt es für die Bewertung des GdB nicht auf die jeweilige Diagnose an, sondern auf die mit der Erkrankung verbundenen Funktions- und Teilhabeeinschränkungen. Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 werden u.a. Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität mit einem Einzel-GdB von 0, mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) mit einem Einzel-GdB von 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem Einzel-GdB von (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) mit einem Einzel-GdB von 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) mit einem Einzel-GdB von 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 bewertet. Wie auch der versorgungsärztliche Dienst ist der Senat der Überzeugung, dass die Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule allenfalls mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind. Die Klägerin, die keine orthopädische Behandlung angegeben hat und keine Schmerzmedikation einnimmt, hat während der Rehabilitation über Schmerzen in der Halswirbelsäule geklagt, so dass lediglich ein Wirbelsäulenabschnitt betroffen ist. Dem Reha-Entlassbericht ist zu entnehmen, dass kein Klopf-, Druck- oder Stauchungsschmerz über der gesamten Wirbelsäule vorhanden war. Es bestanden Myogelosen im Schultergürtel beidseits, jedoch waren Lasgue, Bragard negativ, der Finger-Boden-Abstand betrug 0 cm, die Maße nach Schober waren unauffällig.
Aus den ermittelten Einzel-GdB-Werten ist sodann der Gesamt-GdB zu ermitteln. Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, vorliegend 40 für das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist. Jedoch führen nach den VG, Teil A Nr. 3 Buchst. d, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen, so dass eine Erhöhung ausgeschlossen ist. Selbst wenn für die Divertikulitis ein Einzel-GdB von 20 angenommen würde, führte diese nicht zu einer Erhöhung, da auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 es vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Nach alldem ist der Berufung des Beklagten teilweise stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 1 SB 1120/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 2906/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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