Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 9. Oktober 2024 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Pflegegeld nach Pflegegrad 2 für die Zeit vom 12. September 2023 bis 31. Januar 2024.
Die 1942 geborene Klägerin, die seit Juni 2020 von der Beklagten Leistungen nach Pflegegrad 1 bezieht, stellte am 12. September 2023 einen Höherstufungsantrag auf Gewährung von Pflegegeld.
In dem daraufhin von der Beklagten veranlassten Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) vom 9. Oktober 2023 ermittelte Pflegefachkraft T1 nach persönlicher Befunderhebung im häuslichen Umfeld der Klägerin einen pflegerischen Gesamthilfebedarf von 0 gewichteten Punkten (pflegebegründende Diagnose: sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens; einziger Hilfebedarf Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare überwiegend selbständig, 1 Einzelpunkt in Modul 4).
Im Anhörungsverfahren zu einer beabsichtigten Aufhebung der bereits bewilligten Leistungen wandte die Klägerin ein, die Gutachterin habe die bestehende Schwäche im Hüftbereich nicht beachtet, die dazu führe, dass sie ohne Krücken nicht frei stehen und gehen könne. Sie müsse wegen Spritzen ständig in die Augenklinik. Ihr hoher Blutdruck sei oft in Gefahr. Nach der Blasenoperation am 1. September 2023 bestünden noch Beeinträchtigungen. Des Weiteren bestünden ständige Schmerzen und Bewegungseinschränkungen seitens der Lendenwirbelsäule, aufgrund deren sie Hilfestellungen benötige. Im beigelegten Attest der orthopädischen Gemeinschaftspraxis B1, G1 und T2 vom 23. Oktober 2023 wurde angegeben, die Klägerin leide unter starken chronischen Schmerzen und sei aufgrund ihres Leidens auf Hilfe angewiesen. Es bestehe nur noch ein sehr langsames Gangbild mit Rollator.
Nachdem Pflegefachkraft T1 in einem Kurzgutachten nach Aktenlage vom 13. Dezember 2023 das durchgehende Bestehen eines Hilfebedarfs nach Pflegegrad 1 bestätigt hatte, nahm die Beklagte von der angekündigten Aufhebung Abstand (Schreiben vom 3. Januar 2024) und lehnte mit Bescheid vom 4. Januar 2024 den Höherstufungsantrag ab. Zur Begründung ihres dagegen eingelegten Widerspruches trug die Klägerin vor, seit dem 30. Dezember 2023 befinde sie sich in einem Akutnotstand der festgestellten Herzrhythmusstörungen und sei auch schon kollabiert. Auch ihre Sehfähigkeit sei durch den Bluthochdruck beeinträchtigt.
Nachdem ein weiteres MD-Kurzgutachten vom 5. Februar 2024 keinen weitergehenden Hilfebedarf bestätigt hatte, wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2024 als unbegründet zurück.
Einen zweiten Höherstufungsantrag der Klägerin vom 12. Februar 2024 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. März 2024, gestützt auf ein Gutachten der Pflegefachkraft S1 vom 20. März 2024, ab. Diese ermittelte aufgrund eines Hausbesuchs vom selben Tag unter Berücksichtigung der pflegebegründenden Diagnosen Herzkrankheit und Krankheit der Wirbelsäule und des Rückens, jeweils nicht näher bezeichnet, einen pflegerischen Gesamthilfebedarf von 21,25 gewichteten Punkten. Ein Hilfebedarf bestehe in Modul 1 (Mobilität) beim Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs und beim Treppensteigen (jeweils überwiegend selbständig, 2 Einzelpunkte, 2,5 gewichtete Punkte), in Modul 4 (Selbstversorgung) beim Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare sowie beim Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls (jeweils überwiegend selbständig, 3 Einzelpunkte, 10,0 gewichtete Punkte), in Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) in Form der Begleitung zu Arztbesuchen einmal wöchentlich (1 Einzelpunkt, 5 gewichtete Punkte) und in Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) beim Ruhen und Schlafen (überwiegend unselbständig, 2 Einzelpunkte, 3,75 gewichtete Punkte).
Bereits mit Schreiben vom 7. Dezember 2023 hatte die Klägerin Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben, da sie dringend auf die Zuerkennung des Pflegegrads 2 angewiesen sei. Nach Erlass des Bescheides vom 4. Januar 2024 wandte sie sich mit Schreiben vom 17. Januar 2024 (Eingang beim SG am 23. Januar 2024) auch gerichtlich gegen diesen, verwies auf ihren dagegen eingelegten Widerspruch und wiederholte dessen Begründung. Ergänzend führte sie aus, sie benötige infolge der sehr beachtlichen Übermüdung und Schwäche für ihre Einkäufe dringend eine qualifizierte Haushaltshilfe. Auch ihre deutlich sichtbare Geheinschränkung sei nicht berücksichtigt worden. Im Juni 2024 sei sie aufgrund einer heftigen Windböe und im August 2024 in der Küche gestürzt. Mittlerweile habe sie 13 kg abgenommen. Zur Untermauerung ihres Vorbringens legte sie insbesondere Arztbriefe der Klinik für Akut- und Notfallmedizin vom 15. März 2024 und U1, Klinik für Augenheilkunde, vom 10. April 2024 vor.
Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf die Gründe des angefochtenen Bescheides und die Ergebnisse der MD-Gutachten entgegen.
Das SG bestellte die zertifizierte Pflegesachverständige I1 zur gerichtlichen Sachverständigen. In ihrem aufgrund eines Hausbesuchs am 10. Juni 2024 erstatteten Gutachten vom 25. Juli 2024 ermittelte diese unter Berücksichtigung der pflegebegründenden Diagnosen Herzkrankheit und Krankheit der Wirbelsäule und des Rückens, jeweils nicht näher bezeichnet, einen pflegerischen Gesamthilfebedarf von 17,5 gewichteten Punkten (Modul 1: Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs überwiegend selbständig, Treppensteigen überwiegend unselbständig, 3 Einzelpunkte, 2,5 gewichtete Punkte; Modul 4: Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, jeweils überwiegend selbständig, 3 Einzelpunkte, 10 gewichtete Punkte; Modul 5: Arztbesuche einmal wöchentlich, 1 Einzelpunkt, 5 gewichtete Punkte).
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Oktober 2024 wies das SG die Klage ab. Gegenstand des Verfahrens sei lediglich der Bescheid vom 4. Januar 2024 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2024, nicht hingegen der Bescheid vom 22. März 2024. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Leistungen nach Pflegegrad 2. Insbesondere dem Gutachten der Sachverständigen I1 folgend, sei ein pflegerischer Gesamthilfebedarf von 17,5 gewichteten Punkten festzustellen, so dass die Voraussetzungen für Pflegegrad 2 nicht vorlägen.
Hiergegen hat die Klägerin am 5. November 2024 beim SG Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt, zu deren Begründung sie ihr bisherigen Vorbringen wiederholt hat.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 9. Oktober 2024 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Januar 2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2024 zu verurteilen, ihr ab 12. September 2023 Pflegegeld nach Pflegegrad 2 für die Zeit vom 12. September 2023 bis 31. Januar 2024 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Mit Verfügung vom 11. November 2024 hat der Berichterstatter die Beteiligten darauf hingewiesen, dass der ablehnend beschiedene zweite Höherstufungsantrag vorliegend den streitbefangenen Zeitraum begrenze.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Verfahrensakten des SG und des Senats sowie die Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe
1. Die nach § 151 Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Denn das von der Klägerin für die Zeit vom 12. September 2023 bis 31. Januar 2024 begehrte Pflegegeld nach Pflegegrad 2 übersteigt den Beschwerdewert von 750,00 €.
2. Streitbefangen ist allein der Bescheid vom 4. Januar 2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2024 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte den Höherstufungsantrag der Klägerin vom 12. September 2023 abgelehnt hat. Zutreffend ist bereits das SG davon ausgegangen, dass der den zweiten Höherstufungsantrag vom 12. Februar 2024 ablehnende Bescheid vom 22. März 2024 nicht kraft Gesetzes nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden ist. Der Regelungssatz eines Ablehnungsbescheides auf einen Höherstufungsantrag wird durch einen weiteren Ablehnungsbescheid auf einen späteren erneuten Höherstufungsantrag weder abgeändert noch ersetzt. Vielmehr wurde der streitbefangene Zeitraum – wie bei der Bescheidung eines neuen (Erst-)Leistungsantrags – durch die Bescheidung des neuen Antrags auf höhere Leistungen der Klägerin vom 12. Februar 2024 begrenzt. Dieser neue Antrag stellt eine Zäsur dar, ab der sich die streitbefangenen Bescheide mit Wirkung vom Beginn des Antragsmonats (des neuen Antrags) nach § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) für die Zukunft erledigt haben (Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 11. November 2021 – B 3 P 2/20 R – juris, Rn. 9 und vom 17. Februar 2022 – B 3 P 6/20 R – juris, Rn. 10; Senatsurteile vom 23. September 2024 – L 4 P 1004/22 – und vom 24. Juni 2024 – L 4 P 1771/23 – jeweils n.v.). Die Klägerin hat die Klage auch nicht nach § 99 Abs. 1 und 2 SGG um den neuen Ablehnungsbescheid erweitert. Streitbefangen ist daher nur der Zeitraum vom 12. September 2023 bis 31. Januar 2024.
3. Die Berufung der Klägerin ist im Übrigen nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
a) Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere steht der Zulässigkeit vorliegend nicht entgegen, dass die Klägerin bereits vor Erlass des Ablehnungsbescheides vom 4. Januar 2024 Klage erhoben hatte. Zwar macht ein später ergehender belastender Verwaltungsakt eine bereits zuvor erhobene und mangels Beschwer unzulässige Klage grundsätzlich nicht zulässig. Vorliegend hat die Klägerin aber mit dem an das SG gerichteten Schreiben vom 17. Januar 2024 (Eingang beim SG am 23. Januar 2024) ausreichend deutlich gemacht, dass sie gegen diesen bereits mit Widerspruch angefochtenen Bescheid auch gerichtlichen Rechtsschutz begehrt. Nach Abschluss des Vorverfahrens durch den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2024 ist die so umgestellte Klage zulässig geworden.
b) Die Klage ist aber in der Sache nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld nach Pflegegrad 2 in der Zeit vom 12. September 2023 bis 31. Januar 2024.
a) Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin auf Leistungen nach einem höheren Pflegegrad ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – wie die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach einem bestimmten Pflegegrad (vgl. BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R – juris, Rn. 16 zur früheren Pflegestufe) – mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse ist dabei wesentlich, wenn sie zu einer anderen rechtlichen Bewertung führt, sich also auf den Leistungsanspruch des Versicherten auswirkt (Schütze, in: ders., SGB X, 9. Aufl. 2020, § 48 Rn. 15). Damit richtet sich die Feststellung einer wesentlichen Änderung nach dem für die Leistung maßgeblichen materiellen Recht (zum Ganzen: Senatsurteil vom 25. Februar 2022 – L 4 P 3969/19 – juris, Rn. 39 m.w.N.).
b) Eine wesentliche Änderung in diesem Sinne liegt nicht vor. Denn die Klägerin erfüllt nicht die Voraussetzungen des Pflegegrades 2, sondern lediglich des Pflegegrades 1, wie bereits zuerkannt.
aa) Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI; hier in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 13a Drittes Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften [Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III] vom 23. Dezember 2016, BGBl. I, S. 3191) können Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderlichen körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (§ 37 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). An diesen Voraussetzungen hat sich auch durch die Neufassungen der Norm nichts geändert.
Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind Personen dann pflegebedürftig, wenn sie gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind nach § 14 Abs. 2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien:
1. Mobilität: Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen;
2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch;
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen;
4. Selbstversorgung: Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen;
5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug auf: Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zugänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel, Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung, zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften;
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.
Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten in den Bereichen der Haushaltsführung und der außerhäuslichen Aktivitäten werden nicht zusätzlich berücksichtigt, sondern fließen in die Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit ein, soweit sie in den oben genannten Bereichen abgebildet sind. Darüber hinausgehende Beeinträchtigungen in diesen beiden Bereichen wirken sich mithin nicht auf die Bestimmung des Pflegegrades aus (vgl. § 14 Abs. 3 SGB XI; zum Ganzen: Meßling, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, Stand: September 2024, § 14 Rn. 278 ff. m.w.N.). Sowohl die Auflistung der sechs Pflegebereiche als auch die zu deren Konkretisierung aufgeführten Pflegekriterien bilden einen abschließenden Katalog, der nicht um - vermeintlich fehlende - zusätzliche Kriterien oder gar Bereiche ergänzt werden kann (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 130). Inhaltlich erfahren die Pflegekriterien eine nähere Bestimmung durch die auf Grundlage des § 17 Abs. 1 SGB XI mit Wirkung vom 1. Januar 2017 vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen erlassenen Richtlinien zum Verfahren der Feststellung von Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (Begutachtungs-Richtlinien – BRi; insbesondere Ziffern 4.8.3 und 4.9) vom 15. April 2016 (hier in der Fassung durch die Änderungsbeschlüsse vom 22. März 2021 und 21. Dezember 2023; inzwischen neuerlassen am 21. August 2024 - in Kraft getreten am 26. September 2024). Soweit sich diese untergesetzlichen Regelungen innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens halten, sind sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 97 m.w.N.; zum alten Recht vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 7/97 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 13. Mai 2004 – B 3 P 7/03 R – juris, Rn. 32 m.w.N.; BSG, Urteil vom 6. Februar 2006 – B 3 P 26/05 B – juris, Rn. 8).
Nach § 15 Abs. 1 SGB XI erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad). Der Pflegegrad wird mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt, wobei dieses in sechs Module, entsprechend den oben genannten Bereichen, gegliedert ist. Die Kriterien der einzelnen Module sind in Kategorien unterteilt, denen Einzelpunkte entsprechend der Anlage 1 zu § 15 SGB XI zugeordnet werden. Die Kategorien stellen die in ihnen zum Ausdruck kommenden verschiedenen Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit
oder der Fähigkeiten dar (§ 15 Abs. 2 Satz 3 SGB XI). Die Einzelpunkte in den jeweiligen Modulen werden sodann addiert und entsprechend der Anlage 2 zu § 15 SGB XI einem jeweiligen Punktbereich zugeordnet, aus dem sich die gewichteten Punkte ergeben. Insgesamt wird für die Beurteilung des Pflegegrades die Mobilität mit 10 Prozent, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 Prozent, die Selbstversorgung mit 40 Prozent, die Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 Prozent und die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 Prozent gewichtet (§ 15 Abs. 2 Satz 8 SGB XI).
Auf der Basis der erreichten Gesamtpunkte sind pflegebedürftige Personen in einen der nachfolgenden Pflegegrade einzuordnen: ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (§ 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI).
bb) Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach Pflegegrad 2 bei der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum nicht vorgelegen haben. Sie erreichte nicht die hierfür notwendigen zumindest 27 gewichteten Gesamtpunkte.
(1) Im streitbefangenen Zeitraum bestanden eine koronare Herzkrankheit (Ein-Gefäß-Erkrankung ohne Progress), eine arterielle Hypertonie (Bluthochdruck), eine Sehminderung sowie eine Krankheit der Wirbelsäule und des Rückens. Dies entnimmt der Senat insbesondere den Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen I1 vom 25. Juli 2024 und der Pflegefachkraft S1 vom 20. März 2024, letzteres im Wege des Urkundenbeweises verwertet (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris, Rn. 51), sowie den vorgelegten Arztbriefen. Beide Gutachten erlauben aufgrund ihrer zeitlichen Nähe eine zuverlässige Feststellung des Gesundheitszustandes und des pflegerischen Hilfebedarfs auch im streitbefangenen Zeitraum. Weitere relevante Gesundheitsstörungen ergeben sich auch nicht aus dem Gutachten der Pflegefachkraft T1 vom 9. Oktober 2023. Zur Diagnose der arteriellen Hypertonie sind dem Arztbrief der Klinik für Akut- und Notfallmedizin vom 15. März 2024 erhöhte Blutdruckwerte zu entnehmen, aus denen aber über eine regelmäßige Blutdruckmessung und gegebenenfalls weitere Anpassung von Blutdruckmedikamenten hinaus kein therapeutischer oder pflegerischer Handlungsbedarf abgeleitet wurde. Entsprechendes gilt für die Sehbeeinträchtigung. Der Arztbrief der Klinik für Augenheilkunde U1 vom 10. April 2024 beschreibt einen stabilen ophthalmologischen Befund. Lediglich eine vergrößerte Sehhilfe wurde empfohlen. Mit dieser ist die Beeinträchtigung im hier relevanten Umfang kompensiert, wie den vorliegenden Gutachten übereinstimmend zu entnehmen ist. Orthopädisch wurde im Attest der Gemeinschaftspraxis B1, G1 und T2 vom 23. Oktober 2023 in Übereinstimmung mit den Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen I1 und der Pflegefachkraft S1 ein langsames Gangbild mit Rollator beschrieben. Weitere konkrete Funktionsbeeinträchtigungen wurden dort auch unter Berücksichtigung der angegebenen chronischen Schmerzen nicht benannt. Die Klägerin selbst verweist insoweit in ihrer Begründung jeweils auf die Beeinträchtigung des Gehvermögens und wiederholte Stürze, die sich allerdings nach dem streitbefangenen Zeitraum ereigneten. Trotz des von der Klägerin angegebenen Gewichtsverlust von 13 kg (in einem nicht näher konkretisierten Zeitraum) konnte die Sachverständige I1 im Juni 2024 einen guten Allgemein- und Ernährungszustand feststellen.
(2) Aus diesen Gesundheitsstörungen und den daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen ergab sich im streitbefangenen Zeitraum ein Hilfebedarf in Modul 1 von 2,5 gewichteten Punkten. Erfasst wird in Modul 1 nicht das Fortbewegen außer Haus, sondern ausdrücklich als Pflege-Item 1.4 nur das Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs. Die Klägerin konnte sich in der Wohnung selbständig am Rollator fortbewegen und bedurfte aus Sicherheitsgründen allenfalls der Beobachtung oder gelegentlich der sichernden Stütze. Dies ergibt sich aus den übereinstimmenden Feststellungen in den Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen und der Pflegefachkraft S1 und stimmt mit den Angaben im Attest der orthopädischen Gemeinschaftspraxis überein. Soweit die Klägerin zur Begründung ausführt, nicht mehr alleine zum Einkaufen gehen zu können, ist die aus den genannten Gründen in Modul 1 als Fortbewegung außerhalb des Wohnbereichs nicht relevant. Zutreffend ist das Pflege-Item 1.4 mit überwiegend selbständig bewertet worden. Zum Treppensteigen gibt die Sachverständige I1 an, die Klägerin müsse gestützt werden (überwiegend unselbständig), während es bei der Begutachtung durch die Pflegefachkraft S1 noch mit sichernder Begleitung gelang (überwiegend selbständig). Selbst unter Berücksichtigung der Einzelpunkte für den höheren Hilfebedarf ergeben sich jedoch in Modul 1 nicht mehr als 2,5 gewichtete Punkte, so dass dies keiner weiteren Klärung bedarf.
In den Modulen 2 und 3 bestand kein personeller Hilfebedarf. Nach übereinstimmender Feststellung der gerichtlichen Sachverständigen und der MD-Gutachterinnen bestanden keine kognitiven Beeinträchtigungen und psychische Problemlagen. Abweichendes ergibt sich auch nicht aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen.
In Modul 4 benötigte die Klägerin Unterstützung beim Toilettengang (Bereitstellen der Gehhilfe). Das Duschen und Baden musste aus Sicherheitsgründen und zur Minimierung des Sturzrisikos immer in Anwesenheit einer anderen Person durchgeführt werden. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen, die dies jeweils zutreffend als überwiegend selbständig und damit mit insgesamt drei Einzelpunkten bewertete. Nach den in den vorliegenden Gutachten dokumentierten Befunden ist eine Selbständigkeit der Klägerin in den anderen in Modul 4 zu berücksichtigenden Verrichtungen nachvollziehbar. Einen konkreten weitergehenden Hilfebedarf macht die Klägerin selbst nicht geltend und ist auch den ärztlichen Unterlagen nicht zu entnehmen.
In Modul 5 war wegen des außerhalb der Wohnung stärker beeinträchtigten Gehvermögens und der Sturzgefahr eine Begleitung zur Arztbesuchen erforderlich. Zu berücksichtigen war der einmal wöchentliche Arztbesuch beim Hausarzt. Die anderen behandelnden Ärzte wurden nicht mit einer regelmäßigen Häufigkeit von mindestens einmal monatlich aufgesucht, sondern quartalsweise. Eine dauerhafte außerhäusige Heilmitteltherapie erfolgte im streitbefangenen Zeitraum nicht. Dies entnimmt der Senat den MD-Gutachten. Die Klägerin hat nichts Abweichendes vorgetragen. Bei einem Einzelpunkt ergeben sich mithin in diesem Modul 5 gewichtete Punkte.
In Modul 6 ergab sich kein relevanter Hilfebedarf. Überzeugend wies die gerichtliche Sachverständige darauf hin, dass die Einschlaf- bzw. Durchschlafproblematik medikamentös behandelt und daher personelle Intervention nicht erforderlich wird. Von einem dauerhaften Hilfebedarf kann daher auch im streitbefangenen Zeitraum nicht ausgegangen werden. Selbst wenn man den im Gutachten der Pflegefachkraft S1 – wohl wegen nächtlichen Wasserlassens, allerdings ohne eingehende Begründung – angenommenen Hilfebedarf beim Ruhen und Schlafen (überwiegend unselbständig, 2 Einzelpunkte) berücksichtigt, ergeben sich hieraus lediglich 3,75 gewichtete Punkte in Modul 6.
Insgesamt bestand daher im streitbefangenen Zeitraum ein pflegerischer Gesamthilfebedarf von höchstens 21,25 gewichteten Punkten, womit Pflegegrad 2 (mindestens 27 gewichtete Punkte) nicht erreicht wurde. Zutreffend hatte bereits das SG darauf hingewiesen, dass der von der Klägerin in erster Linie angeführte Hilfebedarf beim Einkaufen und der Haushaltsführung bei der Bestimmung des Pflegegrades nach der gesetzlichen Vorgabe keine Berücksichtigung findet.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
5. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 P 2030/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 3227/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
Saved