S 12 KR 632/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 KR 632/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 155/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


I.   Die Klage gegen den Bescheid vom 26. Juli 2018 in Gestalt
  des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2019 wird
  abgewiesen.

II.   Die Beklagte trägt 1/5 der notwendigen außergerichtlichen
  Kosten des Klägers.

T a t b e s t a n d :

Streitgegenstand ist die Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis in Blütenform.

Der 1983 geborene Kläger ist gelernter Metzger und war zuletzt als Abteilungsleiter im Einzelhandel tätig. Ab April 2017 war er durchgehend arbeitsunfähig erkrankt wegen Beschwerden im Lendenwirbelsäulenbereich. Vom 08.11.2017 bis 06.12.2017 fand eine orthopädisch orientierte stationäre Maßnahme der medizinischen Rehabilitation (Reha) in A statt.

Er beantragte mit Schreiben vom 22.06.2018, eingegangen bei der Beklagten am 27.06.2018, die Kostenübernahme für eine Therapie mit Cannabinoiden/Cannabisblüten. Er leide seit mehr als 10 Jahren unter Rückenschmerzen, die mittlerweile chronisch geworden seien (Bandscheibenvorfall in der LWS). Nach mehreren konservativen Behandlungsmethoden, z.B. Reha-Kur, Osteopathie oder mit Cortisonspritzen sei es erst schlimmer geworden, dann kurzweilig betäubt und nach etwa 6 Stunden seien die Schmerzen wieder da, seien fehlgeschlagen. Ebenso die Therapieversuche mit Medikamenten seien fehlgeschlagen, da die Nebenwirkungen, wie hohe Reizbarkeit, Schwindel, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Herzrasen, Benommenheit bis hin zu Blut im Stuhl, etc. nicht akzeptabel seien. Vor einiger Zeit habe er einmal medizinisches Cannabis durch Inhalation ausprobieren können und die Schmerzen seien für einige Stunden fast komplett weg gewesen. Er habe sich besser bewegen können, ohne irgendwelche Anzeichen von Nebenwirkungen. Daher habe er einen Arzt aufgesucht, der mit medizinischem Cannabis therapiere. Aufgrund eines Privatrezeptes vom 17.05.2018 habe er die Therapie mit Cannabis begonnen, könne sich Privatrezepte aber auf Dauer nicht leisten. Seine Lebensqualität und Energie, wieder Arbeiten zu gehen, habe sich deutlich verbessert. Seine Erkrankung sei schwerwiegend, da er sich bereits über 14 Monate im Krankenstand befinde. Da die Schmerzen seinen Alltag bestimmen würden, durchgehend da seien, benötige er eine Therapie. Nach ärztlicher Einschätzung seien die Schmerzen mit Standardtherapien nicht oder nicht ausreichend zu behandeln und mit ernsten Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen sei zu rechnen.
Beigefügt war ein Arztfragebogen zu Cannabinoiden, unterschrieben vom Facharzt für Allgemeinmedizin H1. am 22.06.2018. Danach sollten Blüten mit einer Dosierung
von 1,5 g pro Tag eingesetzt werden zur Behandlung der Erkrankungen M54.86 (Sonstige Rückenschmerzen: Lumbalbereich), M51.1 (Lumbale und sonstige Bandscheibenschäden mit Radiculopathie) und M43.1 (Spondylolysthesis). Ziel sei eine Schmerzreduktion und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Die Erkrankung sei schwerwiegend. LWS-Beschwerden bestünden bereits seit über 10 Jahren, seit 2016 mit extremer Verschlechterung. Bisherige Schmerztherapie und Reha habe keine belastungsstabile Verbesserung erreicht. Bis auf Ortoton sei kaum Schmerzlinderung zu erreichen bzw. nur mit deutlichen Nebenwirkungen. Aktuell werde eine Medikation mit Ortoton durchgeführt. Reha-Maß-
nahme habe nur einen mäßigen Erfolg erbracht, Ibu, Tramal, Novalgin, Tilidin, Physio, Elektrotherapie, Osteopathie habe nur mittelmäßigen bis kaum Erfolg gebracht. Infiltrationstherapie bisher eher mit mehr Schmerzen. Auf die Frage, warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende alternative Behandlungsoption nicht zur Verfügung stehe oder nicht zur Anwendung kommen könne, heißt es nur "gegebenenfalls noch Proliferationstherapie; Umschulung".
Die Beklagte zog eine Leistungsübersicht zu verordneten Medikamenten ab 2012 bei sowie eine Leistungsübersicht zu Physiotherapie. Laut Arzneimittelübersicht wurde zuletzt im September 2013 Tilidin verordnet, im Oktober 2013 Tramal, im März 2015 Arcoxia sowie Prednisolon, im August 2015 Diclofenac und im April 2016 Novaminsulfon sowie Ortoton. Physiotherapie in Form von Krankengymnastik war zuletzt für Juni bis Juli 2017 abgerechnet, davor von August bis September 2015. Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein und informierte den Kläger hierüber am 28.06.2018. Noch ohne vorliegendem Gutachten des MDK lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.06.2018 eine Kostenübernahme ab. Die benötigten Befunde zum Krankheitsverlauf seien laut Mitteilung des MDK dort noch nicht eingegangen.
Der MDK-Gutachter S vertrat dann in einer Stellungnahme vom 08.08.2018 die Auffassung, dass von einer schwerwiegenden Erkrankung aufgrund Angaben und Schilderung der Beschwerdestärke durch den Versicherten wohl auszugehen sei. Jedoch sei eine schmerztherapeutische Vorstellung und Ausschöpfung der zugelassenen und in Fachkreisen empfohlenen schmerztherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten inklusive multimodalem schmerztherapeutischem Behandlungskonzept nicht erkennbar. Eine schmerztherapeutische Vorstellung mit multimodalem Behandlungsansatz erscheine jedoch prinzipiell zumutbar und aussichtsreich, zudem medizinisch sinnvoll. Auch bestehe bisher keine ausreichende Evidenz für den Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerz-
therapie. Der Einsatz von Cannabisblüten zur Inhalation könne daher im Fall des Klägers nicht befürwortet werden.

Der Bevollmächtigte des Klägers legte am 13.08.2018 Widerspruch ein. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass es nicht so sei, dass unmittelbar nach einer erstmaligen Behandlung durch H1. sofort eine Behandlung auf Cannabis-Basis erfolgt sei. Vielmehr seien sämtliche schulmedizinischen und alternativen Behandlungsmöglichkeiten vollständig ausgeschöpft worden. Der Kläger habe zwei Bandscheibenvorfälle erlitten und befinde sich bereits seit seinem 21. Lebensjahr in entsprechender Behandlung. 2013 sei eine Kreuzbandplastik erfolgt, was durch Muskelabbau und Schonhaltung dazu geführt habe, dass der Bandscheibenvorfall stärker hervorgetreten sei, weitere Schmerzen verursacht habe und nach wie vor verursache. Eine Akupunktur habe keinen nachhaltigen Erfolg erbracht, ebensowenig Schmerzmittel wie Diclofenac oder eine Cortisonbehandlung mittels Spritzen. 2016 sei eine Osteopathie privat bezahlt worden, ebenso eine Kranio-
sakraltherapie. Im Anschluss an die Reha-Maßnahme habe nur eine vorübergehende Beschwerdelinderung erreicht werden können. Stärkere Belastung, wie Heben von schweren Gegenständen, Bücken oder Schuhe zubinden führe dazu, dass die Schmerzen stärker würden. Man könne vom Kläger nicht mehr erwarten als das, was er ohnehin schon gemacht habe.
Der MDK forderte noch Unterlagen zum Behandlungsverlauf bei H1. an und erhielt schließlich eine Karteikarte für den Behandlungszeitraum vom 23.03.2017 bis 06.11.2018. Der MDK-Gutachter E verneinte dann in einer Stellungnahme vom 25.07.2019 das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung. Diese lasse sich bei Entlassung aus der Reha-Maßnahme mit einem Leistungsbild von 6 und mehr Stunden nicht nachvollziehen. Auch beschreibe die Karteikarte einen weitgehend zufriedenen Kläger unter Rauchen von Cannabis, davor kaum Befunde. Empfohlen werde statt Cannabis eine multimodale spezielle Schmerztherapie, ambulant oder gegebenenfalls stationär. Die Beklagte wies den Widerspruch schließlich mit Bescheid vom 05.12.2019 zurück. Als Standardtherapie stehe dem Kläger die Einschätzung und Behandlung durch einen spezialisierten Schmerztherapeuten als Alternative zur Verfügung.

Bereits am 09.07.2019 hatte der Klägerbevollmächtigte beim Sozialgericht Augsburg Untätigkeitsklage erhoben. Nach Klageänderung wurde das Verfahren fortgeführt. Zur Begründung haben die Bevollmächtigten Befundberichte des H1. vom 07.01.2020, 02.09.2019 und 18.03.2019 vorgelegt, die dieser anlässlich des Antrages auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA; anhängiges Klageverfahren in ) erstellt hatte. Diese würden die sehr schmerzhaften und chronifizierten Erkrankungen belegen, die nur unter Behandlung mit Cannabis Minderung erfahren hätten, jedoch nicht mit konservativen Medikamenten und Behandlungsformen. Der Bericht vom 18.03.2019 bestätigt eine Behandlung ab April 2016. Wirbelsäulenbeschwerden bestünden dauerhaft im Alltag, Dauerbeschwerden mit 3-4 VAS sowie öfters Tage mit 6 VAS, auch Steifigkeitsgefühl und Blockaden im Bereich der LWS, die Stunden bis 1 bis 2 Tage unter Schmerztherapie anhalten könnten. Ausstrahlungen bestünden abwechselnd in das rechte und linke Bein, ebenfalls in der Hälfte der Zeit. Joggen, Fahrradfahren und viele weitere sportliche Tätigkeiten oder wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten und Positionen würden zu einer Zunahme der Beschwerdesymptomatik führen. Mit täglichen Übungen und entsprechender Schonung sei der Kläger seit etwa 1 Jahr stabil. Schmerzspitzen und auch die Erholungszeit nach Schmerzspitzen sowie die allgemeine Schmerzsituation hätten durch Cannabis verbessert werden können, VAS um mindestens 1 Punkt, Erholungszeit von 3 Tagen auf ca. 1 Tag. Seit Mitte 2017 bestehe kaum Befundänderung unter Schonung, Eigenübungsprogramm und Cannabiskonsum. Eine Verschlechterung sei nach Arbeitsaufnahme nach der Reha Anfang 2018 erfolgt. Seitdem konstante Befunde. Nach mehreren Versuchen mit Physiotherapie habe eine alltagstaugliche Belastbarkeit und Schmerzabmilderung erzielt werden können. Ergänzend im Bericht vom 02.09.2019 wird aufgeführt, welche Behandlungsmaßnahmen in den letzten 4 Jahren erfolgt seien. Dabei heißt es: Krankengymnastik/Physiotherapie, mit mehreren Behandlungen mit 6 Anwendungen, mit weder kurzfristiger Besserung noch nachhaltigem Erfolg. Kraniosakraltherapie ohne Erfolg. Osteopathie ohne Erfolg. Cortisonspritzen bei I. mit großen Schmerzen und ohne Wirkung. Akupunktur über mehrere Wochen ohne Wirkung oder Besserung. Infiltration und Quaddeln mit Cortison und Prokain ohne Wirkung. Reha-Maßnahme ohne anhaltende Wirkung. Ibuprofen mit Anwendung über mehrere Wochen, verschiedene Dosierungen, mindestens 3 Stück am Tag mit Nebenwirkungen Sodbrennen, Bauchschmerzen, Schlafprobleme, manchmal Kopfschmerzen, kaum bis keine Schmerzlinderung. Diclofenac mit Anwendungszeit von 5 Tagen, verschiedene Mittel, ohne Wirkung, 3 Stück am Tag oder nach Bedarf mit Nebenwirkungen Bauchschmerzen, Durchfall, mangelnder Appetit, Kopfschmerzen, Müdigkeit, keine Schmerzlinderung. Tramal mit Anwendungszeit von mehreren Monaten mit Dosierung 20 Tropfen pro Anwendung, mehrmals am Tag mit Nebenwirkungen Durchfall, Übelkeit, Erschöpfung, Benommenheit, auf Dauer nicht zumutbar. Novalgin ohne Wirkung. Tilidin mit Anwendungszeit 2 Tage, 2 Stück täglich, mit Nebenwirkung sofortiges Erbrechen, Durchfall, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Benommenheit und Schwindel. Der Kläger lehne weitere Pharmakotherapie oder invasive Maßnahmen ab, wenn nicht ein eindeutig positives Ergebnis zu erwarten sei. Im Befundbericht vom 07.01.2020 wird erklärt, dass Cannabis Verkrampfungen verbessere und muskuläre Verspannungen löse, auch im Akutfall, dann aber dennoch 1 bis 4 Tage mit vermehrter Schonung und Eigenübungen notwendig seien, um den Grundzustand wieder zu erreichen.
Zur Beweiserhebung hat das Gericht Befundberichte eingeholt von H1, I., J. und K.. Außerdem wurden die Akten zum LTA-Klage-
verfahren beigezogen.
Laut Entlassungsbericht zur Reha-Maßnahme vom 08.11.2017 bis 06.12.2017 hatte der Kläger bei Aufnahme keine Medikation eingenommen, bedarfsweise werde Novalgin eingenommen. Bei der Abschlussuntersuchung sei der Kläger mit dem Ergebnis sehr zufrieden gewesen. Es habe eine Beschwerdelinderung erreicht werden können, was auch aus objektiver Sicht zutreffe. Die Wirbelsäulen- und Rumpfmuskulatur habe mobilisiert, gekräftigt und gedehnt werden können. Dadurch habe sich der schmerzfreie Bewegungsspielraum vergrößert, die Halte- und Bewegungsfunktion und Wirbelsäulenbeweglichkeit deutlich verbessert. Auch eine Reduzierung muskulärer Dysbalancen habe erreicht werden können. Klinisch habe sich die gekräftigte Rumpfmuskulatur mit freier Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte ohne Schmerzangabe gezeigt. Es bestehe jedoch noch weiterer Kräftigungsbedarf. Empfohlen wurde zur Nachsorge ein regelmäßiges selbstständiges Durchführen der erlernten krankengymnastischen Übungen und eigenständigen Bewegungsmaßnahmen, bedarfsweise krankengymnastische Übungsbehandlung mit medizinischer Trainingstherapie oder Ergotherapie, bedarfsweise balneo-physikalische Therapiemaßnahmen, regelmäßiges Ausdauertraining durch Radfahren bzw. Ergometertraining oder Nordic Walking, Umsetzen der Prinzipien der erlernten Gesundheitsschulung, insbesondere auch der Verhaltensregeln im Alltag und im Berufsleben sowie ein intensiviertes Reha-Nachsorgeprogramm. Die Reha-Nachsorge in I wurde nach einem einzigen Termin am 29.12.2017 vom Kläger abgebrochen, da er umgezogen war. Im LTA-Klageverfahren wurden Gutachten erstellt durch den Facharzt für Orthopädie T vom 28.05.2019 sowie durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie W vom 18.10.2019. Beide Gutachten erfolgten unter laufender Cannabistherapie. T gab eine geringe rechtskonvexe Seitabweichung der BWS ohne funktionelle Einschränkungen sowie Bewegungseinschränkung und Belastungseinschränkung bei geringen Verschleißerscheinungen der LWS ohne radikuläre Schmerzausstrahlung oder sensomotorisches Defizit an und vertrat die Auffassung, dass eine geminderte Erwerbsfähigkeit im Beruf als Metzger nicht vorliege. Wesentliche psychische Faktoren vermochte W nicht zu erkennen und verneinte ebenfalls eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit für den Beruf des Metzgers.
H1 hat in seinem Befundbericht vom 20.02.2020 und dem ergänzenden Bericht vom 27.03.2020 angegeben, dass sich die Therapie beschränke auf Schonung, Lumbalbandage, Eigenübungen sowie Cannabis in Blütenform. Eine schwerwiegende Erkrankung liege vor wegen der Chronizität seit über 10 Jahren mit Wirbelsäulenbeschwerden und dauerhafter Verminderung der Lebensqualität. Bei Spondylolisthese bzw. Instabilitätssyndrom in Verbindung mit einem Lumbalsyndrom sei in erster Linie ein konservatives Vorgehen mit Schwerpunkt auf muskulärer Stabilisation des Wirbelsäulenabschnitts angeraten. Dieses Vorgehen werde bereits praktiziert und erprobt. Weitere mögliche Optionen wie spezielle operative Verfahren, Neuroleptika oder Antidepressiva lehne der Kläger momentan ab. Dies sei auch verständlich bei der Vorgeschichte mit Wirkungslosigkeit und Nebenwirkungen vieler Medikamente. Zur Frage nach einer multimodalen Schmerztherapie wurde erklärt, dass die Reha-Maßnahme bereits Hauptbestandteile einer multimodalen Schmerztherapie enthalten habe. Außerdem hat H1 angegeben, welche Medikamente 2016 und 2017 mit eigenem Patientenkontakt bei ihm mit fehlender oder geringer Besserung bzw. Nebenwirkungen erprobt wurden, nicht nur mittels Verordnung sondern auch mit Abgabe aus Praxismitteln. Laut Karteikarte werden laufend ab Mai 2018 Cannabisblüten verordnet.
Der Facharzt für Allgemeinmedizin I berichtete über eine Behandlung von Juli bis Oktober 2015, wobei Akupunktur und Osteopathie auf Wunsch des Klägers zur Schmerztherapie durchgeführt wurden.
Der Befundbericht der allgemeinmedizinischen Praxis J./L in J-Stadt gibt eine Behandlung von 2012 bis 2014 an, wobei diese ab August 2013 wegen Kniebeschwerden erfolgte. Die Karteikarte weist aus, welche Schmerzmittel verordnet und vertragen bzw. abgesetzt wurden. Danach wurde Arcoxia im August 2013 verordnet und laut Eintrag vom 30.08.2013 vertragen. Am 23.09.2013 wurden Tilicomp beta 100/8 mg retard verordnet. Dazu gab der Kläger am 08.10.2013 an, dass ihm dies zu stark gewesen sei, er hätte schon einmal Tramal gehabt, das sei besser gewesen. Dieses wurde anschließend verordnet, ohne dass im Folgenden fehlende Wirksamkeit oder Nebenwirkungen erwähnt sind.
Laut Befundbericht des K. erfolgte Behandlung von 2008 bis 2014, dabei insbesondere wegen Beschwerden im rechten Knie. Laut Karteikarte erfolgte eine Behandlung 2008 und 2011 bei LWS-Beschwerden, ab 2013 dann wegen des Kniegelenks. An Schmerzmitteln wurden im Jahr 2008 Tramal-Tropfen sowie Novalgin-Tropfen verordnet, 2011 Musaril und Ibuprofen 800 sowie 2013 Novalgin-Tropfen. Nebenwirkungen oder fehlende Wirkung sind in der Karteikarte nicht erwähnt.
Die Klägerbevollmächtigten haben schließlich mit Schreiben vom 08.06.2020 die bisherigen Aufwendungen des Klägers für Cannabis mit 12.237,96 € angegeben und Verordnungen sowie Apothekenrechnungen vorgelegt. Dabei fehlen teils für die Verordnungen die zugehörigen Rechnungen. Auch ist häufig der auf den Verordnungen ausgewiesene Rechnungsbetrag anders als auf den Rechnungen (z. B. 120 € in der Verordnung - 119,98 € in der Rechnung) oder in der Verordnung fehlt der Eindruck des Rechnungsbetrages durch die Apotheke.
Die Beklagte hat weiterhin die Auffassung vertreten, dass keine Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Erkrankung vorlägen, da Rückenschmerzen nach einem Bandscheibenvorfall dies nicht regelhaft darstellen würden. Zwar könne eine chronische Schmerzerkrankung mit Beeinträchtigung der Lebensqualität zu einer schwerwiegenden Erkrankung führen, doch fehle es an sicheren Anzeichen für eine chronische Schmerzstörung. Zudem fehle die weitere Voraussetzung einer nicht anwendbaren Standardtherapie, da zuletzt im Jahr 2018 Schmerzmittel verordnet worden seien. Es treffe auch nicht zu, dass, wie ursprünglich von H1 angegeben, eine Anwendungszeit von Tramal über mehrere Monate erfolgt sei, vielmehr sei dies nur kurzzeitig im Zusammenhang mit der Knieoperation angewandt worden. Eine zielgerichtete schmerztherapeutische Behandlung sei nicht zu erkennen. Die adäquate Schmerztherapie setze auf die von einem Facharzt begleitete Einnahme verschiedener Schmerzmedikamente nach Stufenschema der WHO, idealerweise kombiniert mit nicht medikamentösen Behandlungen. Die letzte Krankengymnastik sei jedoch bereits im Jahr 2017 verordnet worden, auch vorher nur sporadische Heilmittelanwendungen. Die Behandlung durch einen Facharzt bzw. spezialisierten Schmerz-
therapeuten sei dem Kläger zuzumuten und nicht auszuschließen, dass bei korrekter Einstellung auch die vermeintlichen Nebenwirkungen der Medikamente tolerierbar wären.
Das Gericht hat schließlich nochmals die Akten beigezogen mit einem Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom Juli 2020 des H2, Facharzt für Orthopädie, Sportmedizin, Sozialmedizin, Rehabilitationswesen, in I. Dieser hat in seinem Gutachten folgende Diagnosen aufgeführt:
- Bewegungs- und Belastungsdefizit der HWS bei Fehlstatik und muskulärer Dys-
 balance
- Blockierung der ersten Rippe rechts
- Oberes Brustkorbengpasssyndrom (Thoracic-outlet) rechts mit Hartspann der
 Skalenusmuskulatur beidseits
- Bewegungs- und Belastungsdefizit rechtes Schultergelenk mit Reizerscheinungen
 (Tendinose) der Bizepssehne und Supraspinatus- (Obergrätenmuskel) rechts
- Bewegungs- und Belastungsdefizit der LWS bei degenerativen Veränderungen,
 Bandscheibenschäden, Wirbelkörperdeformierung, Wirbelgelenkdegenerationen,
 Fehlstatik, muskulärer Dysbalance, diskretes Wirbelgleiten L5/S1 Grad 0-1 nach
 Meyerding, Wurzelreizsymptomatik rechts
- Verkürzte Rückenmuskulatur LWS und LWS-Becken-Bein-Übergang (Musculus
 quadratus lumborum, Musculus piriformis, Musculus iliopsoas)
- Kreuzdarmbeingelenks-Blockierung rechts
- Tractus-iliotibialis-Syndrom rechts
- Medial- und retropatellar betonte Pangonarthrose rechts, Femurpatellares Schmerz-
 syndrom beidseits
- Blockierung des körpernahen Schienbein-Wadenbeingelenks rechts
- Pedes vari, Senk-Spreizfuß-Deformität beidseits
- Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.

Ein Schwerpunkt der Beschwerden bestehe im Bereich der LWS mit degenerativen Veränderungen und schmerzhaft eingeschränkter Beweglichkeit. Durch verengte Nervenwurzelaustrittslöcher entstehe bei einer Vorneige mehr Druck im rückwärtigen Anteil des Rückenmarks und konsekutiv Schmerzen. Das Ausmaß der Osteochondrose sei als gering- bis mittelgradig einzustufen. Es liege eine Wurzelreizsymptomatik mit Dehnungszeichen des Ischiasnervens vor. Die Beschwerden im Bereich von LWS und Beinen seien durch eine weichteilig-muskuläre Fehlstatik überlagert. H2 hielt die Fortsetzung einer Tätigkeit als Metzger für nicht mehr zumutbar und hielt für die betroffenen Gelenk-
strukturen eine Aufrichtung der Wirbelsäule, eine Anleitung zum Erlernen eines rückengerechten und physiologischen Bewegungsverhaltens inklusive einer Haltungsschulung (u. a. "Rückenschule") für erforderlich. Ferner sollten gleichmäßige, stabile muskuläre Strukturen von Schultergürtel, Torso, Rücken, Bauch und Hüftgürtel bzw. Beinen aufgebaut und erhalten werden. Die knieführende Muskulatur solle in das Therapiekonzept eingebunden werden. Gegebenenfalls wären entsprechende orthetische Hilfsmittel für LWS, Kniegelenke und Füße erforderlich. Eine weiterhin erforderliche schmerztherapeutische Behandlung könne entwickelt werden, dies könne insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung eines adäquaten Schmerzbewältigungsmusters mit physiologischer Unterstützung erforderlich werden. Die muskulär-weichteilige Fehlstatik könne als Versuch des Körpers, dem Schmerz aus dem Weg zu gehen, interpretiert werden und könne in einer entsprechenden krankengymnastischen Anleitung gezielt angegangen werden.
Nach gerichtlichem Hinweis auf die Empfehlungen des H2 zur weiteren Behandlung hat der Klägerbevollmächtigte vorgetragen, dass die Erkrankungen doch chronisch seien, und die Schmerzen auch bei einer weiteren Mobilisierung und einem stabilen Zustand bleiben würden. Daher sei der Kläger weiterhin auf wirksame Schmerzmedikamente angewiesen und er habe bereits die Stufen einer konservativen Schmerzbehandlung ohne Erfolg durchlaufen. Auch führe er die in der Reha erlernten krankengymnastischen Übungen regelmäßig durch, die jedoch nicht bei der Bekämpfung der Schmerzen helfen würden. Hier habe sich Cannabis als wirksam und nebenwirkungsarm erwiesen. Selbst wenn eine künftige Therapie eine Besserung erbringe, entbinde dies die Beklagte nicht von einer Kostenübernahme für die bereits verordneten Cannabis-Produkte. Demgegenüber hat sich die Beklagte auf die Empfehlungen des H2 berufen und erklärt, dass dies sei, was sie schon von Beginn an fordere mit dem Verweis auf eine stationäre multimodale Schmerztherapie.

In der mündlichen Verhandlung wurden weitere Verordnungen und Rechnungen vorgelegt. Der Kläger hat Angaben zu seinem Tagesablauf gemacht und dabei erklärt, dass er bei falscher Bewegung eine Schmerzausstrahlung in das linke oder rechte Bein habe und bei längerem Training auf dem Rad sein linkes Bein taub werde. Er trainiere jeden Tag 30 Minuten auf einem Spinningbike und mache zweimal täglich 10 Liegestütze sowie Übungen mit einem Kinesioband, wie man es ihm in der Reha-Maßnahme erklärt habe. Orthopäden würden immer dasselbe sagen, ihm eine Spritze geben und wegschicken oder sie möchten Physiotherapie verordnen. Bei Physiotherapie werde jedoch nur vom Azubi bedient und er müsse zudem ewig auf einen Termin warten, er könne jedoch nicht so lange warten und in dieser Zeit das Training zu Hause aussetzen. H1 habe er nur 2017 auf Physiotherapie angesprochen, als ihn damals ein Azubi oder jedesmal ein Anderer behandelt habe. Er habe selbst H1 gezielt auf die Verordnung von Cannabis angesprochen, früher auch selten Cannabis geraucht und von einem anderen Patienten Cannabis im Verdampfer probiert. Zu den Schmerzmitteln im Einzelnen hat der Kläger auf Nachfragen und Vorhalt der Eintragungen der Ärzte Folgendes erklärt:

Arcoxia, vermerkt bei J vertragen:     
"Das kann ich nicht bestätigen. Ich glaube, es war Appetitlosigkeit und ich habe mich schlapp gefühlt. Und wie bei fast allen Medikamenten habe ich Leber- und Nierenschmerzen. Ich weiß auch nicht, warum H dazu keine Nebenwirkungen 2016/2017 vermerkt hat. Vielleicht weil ich die Magenschutztabletten hatte."
Tilidin, laut J zu stark:    
"Richtig, nach 10 Minuten habe ich erbrochen und nach 20 Minuten hatte ich Durchfall und am Tag danach Leberschmerzen."
Tramal, bei J:
"Das hielt sich in Grenzen, aber eine Flasche war schon nach zwei bis drei Tagen weg."
Darauf angesprochen, dass J 2013 Tramal in Tablettenform verordnet hatte:
"Tabletten habe ich bestimmt nicht vertragen und deshalb wurde auf die Tropfen gewechselt."
Darauf hingewiesen, dass Tramal-Tropfen 2008 von K verordnet wurden:
"Das kann nicht sein, denn ich habe immer noch ein Fläschchen."
Gefragt, ob er es möglicherweise mit Novalgin verwechselt:
"Das kann sein. Aber auch da habe ich die Flasche in zwei Tagen leer gehabt."
Ortoton:
"Das waren ziemlich krasse Nebenwirkungen. Komplette Teile der Muskulatur haben gezuckt und waren wie weg."
Novaminsulfon, laut H keine Wirkung:
"Das muss ich trinken wie Wasser."
Ibuprofen:
"Damit komme ich gar nicht klar. Ich habe relativ zeitnah Blut im Stuhl, insbesondere, wenn ich gleichzeitig zwei mal 800 mg nehmen müsste, um eine Wirkung zu erzielen. Außerdem bekomme ich Durchfall."

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.07.2018 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 05.12.2019 zu verurteilen, an den Kläger 13.797,70 € zu erstatten (Verordnungen für Cannabis vom 26.07.2018 bis heute) sowie künftig
als Sachleistung die Therapie mit Cannabis zu übernehmen.

Der Beklagtenvertreter beantragt,

    die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Akte der Beklagten Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Das angerufene Gericht ist gemäß §§ 57 Abs. 1, 51 Abs. 1, 8 SGG zur Entscheidung des Rechtsstreits örtlich und sachlich zuständig. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 26.07.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2019 erweist sich als rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten als Sachleistung, da eine ausreichende begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, wonach unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers die zur Verfügung stehende Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen könne, nicht vorliegt.

Rechtsgrundlage für eine Versorgung mit Cannabis ist § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).
Nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1.    eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a)     nicht zur Verfügung steht oder
b)     im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2.    eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (§ 36 Abs. 6 Satz 2 SGB V).

Seitens des Gerichts bestehen bereits Zweifel daran, dass beim Kläger eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt. Grund dafür sind die Gutachten aus dem Rentenverfahren.
Wie das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in seinem Beschluss vom 14.09.2017 - L 20 KR 436/17 B ER - ausgeführt hat, lässt sich der Gesetzesbegründung nicht ohne Weiteres entnehmen, welche Erkrankungsbilder der Gesetzgeber mit einer schwerwiegenden Erkrankung konkret gemeint hat, gleichwohl finden sich im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BT-Drucks. 18/8965, verschiedene Anhaltspunkte, die zur Auslegung dieses Begriffes herangezogen werden können. Dabei muss es sich, wie im Gesetzesentwurf an diversen Stellen betont, um "eng begrenzte Ausnahmefälle" handeln (vgl. BT-Drucks. 18/8965, S. 2, 14, 23). Der Gesetzgeber nimmt an dieser Stelle also sogar eine dreifache Einschränkung ("eng", "begrenzte", "Ausnahme"-fälle) vor, um den Ausnahmecharakter dieser Regelung deutlich zu machen. An anderer Stelle wird deutlich, welche Personengruppe der Gesetzgeber bei Einführung dieser Bestimmung vor Augen hatte. So ist auf BT-Drucks. 18/8965, S. 13, ausgeführt, dass Cannabis in Deutschland "gerade auch für schwerwiegend erkrankte Schmerzpatienten" zunehmende medizinische Anwendung finde. Damit hatte der Gesetzgeber einen Personenkreis vor Augen, der durch seine Erkrankung sehr stark beeinträchtigt ist.
Die Schmerzerkrankung des Klägers kann also anspruchsbegründend sein. Entscheidend ist dafür jedoch das Ausmaß der Schmerzen und die hierdurch hervorgerufene Beeinträchtigung des Klägers im alltäglichen Leben. Denn nicht jeder chronische Schmerz kann zu einem Anspruch auf Versorgung mit Cannabis führen. Denn § 31 Abs. 6 SGB V wurde ausdrücklich vom Gesetzgeber als Ausnahmeregelung gesehen.
Zu Ausmaß und tatsächlicher Beeinträchtigung des Klägers in seiner alltäglichen Lebensführung hat das Gericht jedoch Zweifel.
Dies beruht schon darauf, dass auf Frage nach seinem Tagesablauf in der mündlichen Verhandlung von ihm nur eine Angabe zu seinem täglichen Spazierengehen mit dem Hund zu erhalten war, ansonsten keinerlei konkrete Angaben, er vielmehr betont hat, dass er nicht länger als eine halbe Stunde lang etwas arbeiten könne. Angesichts der vom Hausarzt im Bericht vom 18.03.2019 angegebenen Schmerzstärke von 3-4 unter Cannabis erscheint dies nicht wirklich nachvollziehbar. Auch dass er 30 Minuten auf einem Spinningrad trainieren kann, belegt durchaus eine Belastbarkeit. Der Kläger sieht sich offensichtlich als kaum belastungsfähig an, während dagegen die Gutachter im Rentenverfahren von einer vollschichtig möglichen Erwerbsfähigkeit ausgegangen sind. Auch seine Erklärung in der mündlichen Verhandlung, dass er nur unter Cannabis mit seinen Hunden spazieren gehen könne, mit Tilidin einfach nur liegen bleiben müsse, ist angesichts des Reha-Entlassungsberichtes nicht schlüssig. Denn dort war er mobil ohne Schmerzmittel. Die Angaben des Klägers können daher nicht alleine und nicht ohne Hinterfragen durch Heranziehen objektiver Befunde für die Einschätzung der Schwere der Schmerzerkrankung herangezogen werden.

Ob eine schwerwiegende Erkrankung tatsächlich vorliegt, konnte jedoch dahingestellt bleiben, da auch die weiteren Voraussetzungen für den Anspruch nicht vorliegen.

Eine Standardtherapie steht grundsätzlich zur Verfügung, und zwar nicht nur im Sinne einer medikamentösen Schmerztherapie, sondern auch mittels Krankengymnastik/Physio-
therapie oder unterstützender Psychotherapie sowie mit einer (stationären) multimodalen Schmerztherapie.

Daher kann ein Anspruch auf Cannabisversorgung nur bestehen, wenn im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes und Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes die Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen kann.
Die aus einem Adjektiv und Substantiv bestehende Wortfolge "begründete Einschätzung" verdeutlicht dabei: Es muss eine Einschätzung sein und diese ist zu begründen. Behauptungen reichen nicht. Zudem muss die Einschätzung die zu erwartenden Nebenwirkungen der allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung darstellen. Sodann ist auch der Krankheitszustand des Versicherten zu referieren. Schließlich muss die Einschätzung diese Parameter "abwägen", sich also dazu verhalten, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Ferner muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch zum Akteninhalt stehen (vgl. LSG NRW Beschluss vom 25.02.2019 - L 11 KR 240/18 B ER, juris Rz. 71).
Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen des Cannabis verordnenden Arztes H1 zur Überzeugung des Gerichts nicht.

Die begründete Einschätzung erfordert neben einer Anamnese auch eine Befunderhebung und danach die Auseinandersetzung damit, warum eine Standardtherapie nicht in Betracht kommt und stattdessen Cannabis in der gewählten Verabreichungsform zu verordnen wäre.

Die Anamnese darf sich dabei in aller Regel nicht nur auf die Angaben des Versicherten stützen. Vielmehr ist der Arzt nach Ansicht des Gerichts dazu gehalten, die Angaben des Versicherten zu hinterfragen und auch zu überprüfen durch entsprechende medizinische Befunde aus der Vergangenheit. Im Fall des Klägers sind die Angaben zu seiner Schmerztherapie bis 2014 in J-Stadt problematisch. Zum einen handelte es sich damals um die Verabreichung von stärkeren Schmerzmitteln nach einer Knieoperation, nicht vorrangig wegen Wirbelsäulenbeschwerden. Aus den ärztlichen Befunden aus J-Stadt ergibt sich, dass der Kläger nicht sämtliche Schmerzmittel nicht vertragen hätte bzw. mit schwerwiegenden Nebenwirkungen reagiert hätte oder dass diese nicht wirksam gewesen wären. Für das von J. verordnete Arcoxia ist ausdrücklich vermerkt "vertragen". Für Tilicomp retard, ebenfalls bei J., ist nur angegeben, dass dies dem Kläger zu stark gewesen wäre. Er bevorzugte stattdessen eine Verordnung von Tramal, für die auch eine Folgeverordnung ausgestellt wurde. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass er nach Tilidin nach 10 Minuten erbrochen habe, Durchfall und am Tag danach Leberschmerzen gehabt habe, handelt es sich um derart schwerwiegende Nebenwirkungen, dass nicht verständlich wäre, dass diese vom Arzt nicht vermerkt und das Schmerzmittel nur als "zu stark" bezeichnet wurde. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung Nebenwirkungen bei Tramal angegeben hat, die sich "in Grenzen" gehalten hätten, ist schon zu bezweifeln, ob er überhaupt die Tramal-Tabletten damit gemeint hat. Denn er hat sich auf die Einnahme aus einer Flasche bezogen, was ja von J. nicht verordnet worden war. Zudem gab er an, dass diese Flasche schon nach 2 bis 3 Tagen weg gewesen wäre, was schon beinahe auf einen Missbrauch hindeutet. Dies lässt sich auch aus seiner Angabe zu Novaminsulfon in der mündlichen Verhandlung entnehmen, bei dem er erklärt, dass er dieses wie Wasser trinken müsse.
Es bestehen daher letztlich Zweifel im Hinblick auf die vom Kläger angegebene Unverträglichkeit, Unwirksamkeit und schweren Nebenwirkungen einer medikamentösen Schmerztherapie.

Auch mit der Frage nach einer Anwendung nicht medikamentöser Behandlungsmaßnahmen anstelle von Cannabisblüten hat sich H1 nach Ansicht des Gerichts nicht ausreichend auseinandergesetzt.
Nach Auffassung des Gerichts liegt bereits eine Fehlschätzung zur Wirksamkeit der Reha-Maßnahme vor, die nur einen mäßigen Erfolg erbracht habe. Dagegen spricht der Entlassungsbericht zur Reha-Maßnahme dafür, dass durchaus ein erheblicher Erfolg erzielt wurde, zumal der Kläger damals keinerlei Schmerzmittel eingenommen hatte. Laut Bericht wurden durch die Mobilisation, Kräftigung und Dehnung von Wirbelsäule und Rumpfmuskulatur der schmerzfreie Bewegungsspielraum vergrößert, die Halte- und Bewegungsfunktion und Wirbelsäulenbeweglichkeit deutlich verbessert und eine Reduktion muskulärer Dysbalancen erreicht. Die gekräftigte Rumpfmuskulatur zeigte sich mit freier Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte ohne Schmerzangabe, wesentliche radikuläre Symptome oder motorische Störungen bestanden nicht. Der Kläger selbst hatte ebenfalls eine Beschwerdelinderung angegeben. Erst nach einem Arbeitsversuch Anfang 2018 mit körperlicher Belastung in der Tätigkeit hatte sich eine erneute Verschlechterung ergeben, was aber keine Aussage über die Wirksamkeit von Krankengymnastik und Physiotherapie erlaubt. Daher erscheint es dem Gericht auch unverständlich, warum die im Reha-Entlassungsbericht ausgesprochene Empfehlung zur bedarfsweisen Verordnung krankengymnastischer Übungsbehandlung und balneo-physikalischer Therapiemaßnahmen von H1 nicht aufgegriffen wurde, und warum dies weiterhin nicht geschieht, obwohl auch der Gutachter im Rentenverfahren H2 schrieb, dass eine Anleitung zum Erlernen eines rückengerechten und physiologischen Bewegungsverhaltens inklusive Haltungsschulung (u. a. Rückenschule) erforderlich sei, und dass die muskulär-weichteilige Fehlstatik, die als Versuch des Körpers, dem Schmerz aus dem Wege zu gehen, zu interpretieren sei, in einer entsprechenden krankengymnastischen Anleitung gezielt angegangen werden könne. Krankengymnastik und Physiotherapie im Intervall entspricht auch den allgemeinen Empfehlungen zur Schmerztherapie der Wirbelsäule, wie der Vorsitzenden aus anderen Verfahren bekannt ist.
Auch dass eine orthopädische Mitbehandlung angesichts der Ableitung der Schmerzen aus Veränderungen der LWS nicht erfolgt, ist nicht nachvollziehbar. Ebenso wie auch die Ablehnung einer multimodalen Schmerztherapie, sowohl in ambulanter Form als auch teilstationär und stationär. Denn eine ambulante Schmerztherapie hat bisher gerade nicht stattgefunden. Dass Teile einer multimodalen Schmerztherapie im Rahmen der Reha-Maßnahme angewandt wurden, ersetzt nicht die konsequente Durchführung einer multimodalen Schmerztherapie unter Begleitung durch einen Schmerztherapeuten.

Auch die Frage der Compliance ist im Rahmen der begründeten Einschätzung mit zu berücksichtigen. Hierzu hätte nach Ansicht des Gerichts durchaus Anlass bestanden. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung entstand beim Gericht der Eindruck, dass dem Kläger schlicht der Wille fehlt, an einer multimodalen Schmerztherapie teilzunehmen, und er stattdessen den "einfacheren" Weg über Cannabis wählt. Denn dass er selbst Übungen für sich erprobt hat, die er als gut empfindet und durchführt, bedeutet ja gerade nicht, dass er nichts Neues dazulernen könnte oder dass im Rahmen einer Krankengymnastik möglicherweise die fehlerhafte Ausführung seiner Übungen korrigiert werden könnte. Gerade dazu dient im Rahmen einer Schmerzerkrankung die Physiotherapie im Intervall. Seine Erklärungen dazu, warum er sich keine Physiotherapie/Krankengymnastik verordnen lasse, erscheinen als Ausflüchte. Dass er 2017 keinen für ihn passenden Physiotherapeuten gefunden hatte, bedeutet ja nicht, dass er bei entsprechender Suche nicht einen in der Schmerztherapie erfahrenen Behandler finden könnte. Und die Erklärung, dass er bei Verordnung von Physiotherapie ewig auf einen Termin warten müsse und nicht so lange warten könne und während dieser Zeit das Training zu Hause aussetzen, erscheint schlicht unsinnig. Denn auch während des Wartens auf einen Termin kann die bisherige häusliche Eigenübung fortgesetzt werden.

Insgesamt sieht das Gericht daher die Voraussetzung einer begründeten Einschätzung durch den Vertragsarzt als nicht erfüllt an.

Die erforderliche begründete Einschätzung des Vertragsarztes kann nach Ansicht des Gerichts auch nicht durch umfangreiche Ermittlungen im Gerichtsverfahren, insbesondere durch eine Begutachtung ersetzt werden. Das Gericht kann und soll daher nicht durch aufwändige Beweisaufnahme klären, ob die begründete Einschätzung des Vertragsarztes zutrifft in dem Sinne, dass die Einschätzung medizinisch richtig oder falsch wäre. Insbesondere Sachverständigengutachten sind schon begrifflich nicht in der Lage, eine fehlende begründete Einschätzung des Vertragsarztes zu substituieren. Sie sollen dies auch nicht, da die Gesetzesbegründung ausdrücklich auf den behandelnden Vertragsarzt abstellt (vgl. dazu LSG NRW - L 11 KR 280/18 B ER, juris Rz. 74)

Die Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Bei der Kostenentscheidung wird der Erfolg im Hinblick auf die Untätigkeitsklage berücksichtigt. Denn es bestand aus Sicht des Gerichts kein zureichender Grund für die Überschreitung der 3-Monatsfrist. Auch für eine Verzögerung beim MDK hat die Beklagte einzustehen.

Rechtskraft
Aus
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