L 10 KR 10013/21

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Itzehoe (SHS)
Aktenzeichen
S 26 KR 2114/18
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 10 KR 10013/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der Beschluss des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene (§ 17c Abs 3 KHG aF) vom 4. Juli 2016 (AZ01/2015) zu der Kodierregel D0201n war erst ab seiner Veröffentlichung anzuwenden.

2. Ein Malignom konnte nach der Kodierregel D0201n der DKR 2015 nicht allein deshalb als Hauptdiagnose (HD) kodiert werden, weil ein Versicherter mit einem Malignom während einer laufenden strahlen- oder chemotherapeutischen Behandlung in ein Krankenhaus aufgenommen, diese Behandlung fortgesetzt und eine hinzugetretene Erkrankung stationär behandelt wurde. Ein Malignom konnte vielmehr nur dann als HD kodiert werden, wenn gezielt dessen Behandlung oder hoch wahrscheinlich eintretende Folgeerkrankungen der Anlass für die stationäre Aufnahme des Versicherten waren; war jedoch die hinzugetretene Erkrankung der Anlass für die stationäre Aufnahme, waren diese Erkrankung als HD und das Malignom als Nebendiagnose zu kodieren.

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 26. Juli 2021 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.753,90 Euro nebst Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 8. Oktober 2015 zu zahlen.

Im Übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 4.753 Euro festgesetzt

 

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist ein Erstattungsanspruch für eine beglichene Rechnung einer stationären Krankenhausbehandlung.

 

Die Beklagte behandelte als Träger des nach § 108 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in E______ zugelassenen Krankenhauses den bei der klagenden Kranken­kasse (KK) versicherten und 1944 geborenen J. P______ (im Folgenden: der Versicherte) vom 3. bis 13. Juni 2015 vollstationär. Zum Zeitpunkt der Aufnahme des Versicherten bestand nach 5 Tagen erfolgloser ambulanter Behandlung eines Infekts und aufgetretener Diarrhoe eine Ruheluftnot, so dass bei Verdacht auf einen bronchopulmonalen Infekt ua eine antibiotische Behandlung eingeleitet wurde. Ferner nahm der Versicherte zur Behandlung des bekannten Plasmozytoms (maligne hämatologische Erkrankung) zunächst bis zum 9. Juni 2013 weiterhin die ihm ambulant verordneten Medikamente zur chemotherapeutischen Behandlung ein; außerdem leitete das Krankenhaus am 9. Juni 2015 eine medikamentöse Behandlung der Leukopenie mittels Filgrastim ein (Entlassungsbericht vom 13. Juni 2015).

 

Für die stationäre Behandlung des Versicherten stellte die Beklagte der Klägerin mit der Fallpauschale DRG R61D insgesamt 6.981,10 Euro in Rechnung. Die KK beglich die Forde­rung zunächst und leitete anschließend ein auf die von der Beklagten angegebene Hauptdiagnose (HD) ICD-10 C90.30 (Solitäres Plasmozytom: Ohne Angabe einer kompletten Remission) und die Nebendiagnosen (ND) bezogenes Prüfverfahren durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein (sozialmedizinisches Gutachten vom 7. Oktober 2015). Nach diesem Gutachten seien die von dem beklagten Krankenhaus als Nebendiagnose kodierte „Akute Bronchitis, nicht näher bezeichnet“ (ICD-10 J20.9) als Hauptdiagnose und das Plasmozytom (ICD-10 C90.30) lediglich als Nebendiagnose zu kodieren sowie die stationäre Behandlung nach der DRG E69B zu vergüten. Gestützt auf diese Einschätzung des MDK forderte die KK die Beklagte zu einer Rechnungskorrektur auf, um anschließend einen Rückforderungsbetrag geltend machen und ggfs aufrechnen zu können (Schreiben vom 8. Oktober 2015, 5. November 2015, 14. Dezember 2015, 19. April 2017). Die Beklagte lehnte eine Änderung der Kodierung und ihrer Rechnung ab (Schreiben vom 11. April 2017).

 

Am 7. November 2018 hat die KK vor dem Sozialgericht (SG) Itzehoe eine Klage gerichtet auf die Zahlung des Differenzbetrags zwischen der Abrechnung mit der DRG R61D bzw E69B iHv 4.753,90 Euro nebst Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Juli 2015 erhoben. Das SG Itzehoe hat zur Aufklärung ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Innere Medizin, Kardiologie, Sozialmedizin Dr. S_____ eingeholt (Gutachten vom 17. April 2020). Dr. S______ hat ausgeführt, ohne Berücksichtigung des Beschlusses im Schlichtungsverfahren vom 4. Juli 2016 (AZ01/2015) sei nach der Kodierregel D0201n der Deutschen Kodierregeln 2015 (DKR 2015) die akute Bronchitis mit dem ICD-Code J20.9 als Hauptdiagnose zu kodieren, da der Versicherte nicht zur Behandlung des primären Malignoms, sondern zur Behandlung des Infekts aufgenommen worden sei. Im Anschluss hat das SG Itzehoe der Klage mit Gerichtsbescheid vom 26. Juli 2021 stattgegeben, da der KK ein Erstattungsanspruch zustehe. Zwar sei der Schlichtungsbeschluss im Jahr 2015 noch nicht gültig gewesen. Allerdings ergebe die Auslegung der im Jahr 2015 maßgeblichen Kodierregel D0201n der DKR 2015, dass als Hauptdiagnose richtigerweise die akute Bronchitis zu kodieren gewesen sei.

 

Gegen den ihr am 9. August 2021 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 9. August 2021 eingegangene Berufung der Beklagten, zu dessen Begründung sie an ihrer bisherigen Argumentation festhält, die Ursache des bronchopulmonalen Infektes sei das bekannte Plasmozytom mit Leukopenie unter laufender Chemotherapie gewesen, so dass die Bronchitis als Komplikation bei Immunsuppression durch die Chemotherapie anzusehen sei. Sie habe die Bronchitis antibiotisch und – durch Gabe von Filgrastim zur Stimulierung der Leukozyten-Produktion – auch die Leukopenie behandelt. Ferner sei weiterhin der Tumor durch Fortführung der Chemotherapie behandelt worden und somit sei insgesamt eine Tumorbehandlung iSd DKR 0201n durchgeführt worden. Die Bewertung des Schlichtungsausschusses AZ01/2015 könne in ihrer Klarstellungswirkung durchaus auch rückwirkend ein Maßstab für die Auslegung der DKR sein, so dass sie die Tumorerkrankung korrekterweise als Hauptdiagnose kodiert habe.

 

Die Beklagte beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 26. Juli 2021 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

 

 

 

Die Klägerin beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Gestützt auf das MDK-Gutachten hält die KK daran fest, dass die stationäre Behandlung nicht primär zur Behandlung des Plasmozytoms, sondern aufgrund des zuvor erfolglos behandelten grippalen Infektes erfolgt sei.

 

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Klägerin, die Patientenakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten vorgelegen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die aktenkundigen Unterlagen und Schriftsätze Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des beklagten Krankenhausträgers ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG) eingelegt worden. Sie ist aber nur in geringem Umfang (hinsichtlich der Zinshöhe) begründet.

 

1. Die (vorliegend im Gleichordnungsverhältnis erhobene und damit nach stRspr) statthafte und auch im Übrigen zulässige Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) der KK hat – wie das SG Itzehoe zutreffend entschieden hat – in der Sache im Wesentlichen Erfolg.

 

a) Zwischen den Beteiligten ist dabei zu Recht nicht streitig, dass nach erfolgloser ambulanter Behandlung der Versicherte am 3. Juni 2015 zu einer iSv § 39 Abs 1 SGB V notwendigen stationären Behandlung in dem Krankenhaus der Beklagten aufgenommen wurde.

 

b) Der Beklagten stand nach § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V iVm §§ 6 Abs 1 Satz 1, 11 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und §§ 18, 17b Abs 1 Satz 10 Kranken­haus­finan­zierungsgesetz (KHG) dem Grunde nach ein Vergütungsanspruch für die stationäre Krankenhausbehandlung des Versicherten zu (vgl zu den Grundvoraussetzungen des Vergütungsanspruchs: BSG vom 8. November 2011 – B 1 KR 8/11 R – Rn 13, 15 mwN; BSG, Urteil vom 18. Mai 2021 – B 1 KR 34/20 R – juris Rn 9). Welche DRG-Position abzurechnen ist, ergibt sich rechtsverbindlich aus der Eingabe und Verarbeitung von Daten in einem automatischen Datenverarbeitungssystem, das auf einem zertifizierten Programm (Grouper) basiert (vgl § 1 Abs 6 Satz 1 FPV 2015; vgl für die stRspr zum rechtlichen Rahmen der Fallpauschalenvergütung, insbesondere des Groupierungsvor­gangs und zur rechtlichen Einordnung des ICD-10-GM: BSG, Urteil vom 19. Juni 2018 – B 1 KR 39/17 R – juris Rn 11 ff). Der Grouper greift auf Daten zurück, die entweder als integrale Bestandteile des Programms mit vereinbart sind oder an anderer Stelle vereinbarte Regelun­gen wiedergeben. Zu Letzteren gehören die Fallpauschalen selbst, die von den Vertragspart­nern auf Bundesebene getroffene Vereinbarung zu den Deutschen Kodierrichtlinien Version 2015 für das G-DRG-System‎ gemäß § 17b KHG (DKR), aber auch die internationale Klassifikation der Krankheiten in der jeweiligen vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) bzw - jetzt - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) heraus­gegebenen deutschen Fassung (ICD-10-GM, Version 2015).

 

c) Für stationäre Behandlung des Versicherten stand der Beklagten der mit der Schlussrechnung vom 18. Juni 2015 geltend gemachte und von der Klägerin ausgeglichene Betrag iHv 6.981,10 Euro nicht vollumfänglich zu, da sie die stationäre Behandlung des Versicherten vom 3. bis 13. Juni 2015 nicht nach der DRG R61D, sondern lediglich nach der DRG E69B abrechnen konnte. Da zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, dass die jeweils von den Beteiligten in den Groupierungsvorgang eingegebenen Daten, ICD-Codes und OPS zu beiden DRG und den beiden Vergütungsbeträgen führen, konnte dieser übereinstimmende Beteiligtenvortrag vom Senat zugrunde gelegt werden (vgl zur Zulässigkeit dieses Vorgehens BSG, Urteil vom 18. Mai 2021 – B 1 KR 34/20 R – juris Rn 10). Den Differenzbetrag zwischen der Abrechnung nach den beiden DRG iHv 4.753,90 Euro hat die Beklagte der klagenden Krankenkasse zu erstatten.

 

2. Maßgeblich ist insoweit, dass die Beklagte für die stationäre Behandlung des Versicherten vom 3. bis 13. Juni 2015 das Plasmozytom (ICD-10 Code C90.30) nicht als Hauptdiagnose kodieren konnte. Für die Kodierung war nicht der Beschluss des Schlichtungsausschusses vom 4. Juli 2016 (AZ01/2015) heranzuziehen, der selbst vorsah, erst ab Veröffentlichung zu gelten <dazu a)>. Vielmehr waren die DKR 2015 anzuwenden <dazu b)> mit der Folge, dass die akute Bronchitis (ICD-10 Code J20.9) als HD zu kodieren war <dazu c)>.

 

a) Für den Aufgabenbereich und die Geltung von Beschlüssen des Schlichtungsausschusses auf Bundesebene (gebildet vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft) war im Jahr 2015 noch die bis zum 31. Dezember 2019 geltende Regelung des § 17c Abs 3 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG, idF durch Gesetz vom 15. Juli 2013) maßgeblich (vgl zur allein zukunftsgerichteten Anwendung von Schlichtungsbeschlüssen nach § 19 KHG: BSG, Urteil vom 28. August 2024 – B 1 KR 33/23 R – juris Rn 20; BSG vom 22. Juni 2022 – B 1 KR 31/21 R – juris Rn 24, 28; BT-Drs 19/13397, Seite 92). Danach klärt der Schlichtungsausschuss verbindlich Kodier- und Abrechnungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung (§ 17c Abs 3 Satz 3 KHG). Seine Entscheidungen sind zu veröffentlichen und für die Krankenkassen, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich (§ 17c Abs 3 Satz 5 KHG). Solche Beschlüsse entfalten jedoch grundsätzlich keine Rückwirkung, sondern sind nur für die Zukunft anzuwenden, da das DRG-basierte Vergütungssystem vom Gesetzgeber als jährlich weiterzuentwickelndes und damit als ein "lernendes" System angelegt ist. Bei zutage tretenden Unrichtigkeiten oder Fehlsteuerungen sind in erster Linie die Vertragsparteien berufen, diese mit Wirkung für die Zukunft zu beseitigen. Dieser Anpassungsmechanismus betrifft auch die Begriffsbestimmungen in den DKR und folglich auch Beschlüsse des Schlichtungsausschusses zur Klärung von Kodier- und Abrechnungsfragen (vgl BSG, Beschluss vom 27. November 2024 – B 1 KR 72/23 B – juris Rn 17 zur Ablehnung einer grundsätzlichen Bedeutung für die zeitlich nicht mehr geltende Kodierregel 0201l DKR 2013 (wortlautidentisch mit der D0201n DKR 2015 Seite 63) zur „Frage der richtigen Auswahl der Hauptdiagnose bei Behandlung ausschließlich von Nebenwirkungen einer aufgrund einer Krebserkrankung durchgeführten Chemotherapie"; BT-Drs 17/13947, Seite 40: „Grundsatz der lernenden Systementwicklung“). Hinzu kommt, dass es sich bei dem fraglichen Beschluss des Schlichtungsausschusses letztlich nicht nur um eine Klärung von Auslegungsfragen handelt. Solche würden regelmäßig auch in die Vergangenheit wirken können. Vielmehr regelt der Schlichtungsausschuss abweichend von den Grundregeln der DKR zur Auswahl und Reihenfolge der Kodes sowie der Bestimmung von Haupt- und Nebendiagnosen Ausnahmeregeln in Fällen, die unter Satz 1 und 2 des Beschlusses fallen. Insoweit ist der Schlichtungsausschuss im Ergebnis rechtssetzend tätig geworden. Bei Rechtssetzung gilt jedoch, solange nichts Anderes geregelt ist, dass die Norm erst nach ihrer Veröffentlichung – und nicht rückwirkend – in Kraft tritt (Anschluss an Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 26. August 2021 – L 1 KR 30/21 – juris Rn 50; zu den Grenzen rückwirkender Regelungen in einem Vergütungssystem nach dem SGB V: BSG, Urteil vom 26. Juni 2019 – B 6 KA 8/18 R – Rn 23 mwN).

 

b) Gemessen an diesen Grundsätzen und unter Berücksichtigung der für die Auslegung und Anwendung der DKR geltenden Maßstäbe <dazu aa)> führen sowohl der Wortlaut <dazu bb)> als auch die Systematik <dazu cc)> der Kodierregel D0201n der DKR 2015 dazu, dass ein Tumor als Hauptdiagnose nur dann kodiert werden konnte, wenn er gezielt der Anlass für die stationäre Aufnahme war. Für die stationäre Behandlung des Versicherten war jedoch die akute Bronchitis (ICD-10 J20.9) als Hauptdiagnose zu kodieren <dazu c)>.

 

aa) Abrechnungsbestimmungen, zu denen die Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) sowie die internationale Klassifikation der Krankheiten in der jeweiligen vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information bzw – jetzt – Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) herausgegebenen deutschen Fassung gehören, sind wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und allenfalls unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht, so dass die textliche Bezeichnung einer DRG kein subsumtionsfähiger Vergütungstatbestand ist. Die Klassifikationssysteme können Begriffe entweder ausdrücklich definieren oder deren spezifische Bedeutung kann sich ergänzend aus der Systematik der Regelung ergeben. Ferner kann der Wortlaut ausdrücklich oder implizit ein an anderer Stelle normativ determiniertes Begriffsverständnis in Bezug nehmen. Fehlt es an solchen normativen definitorischen Vorgaben, gilt der Grundsatz, dass medizinische Begriffe im Sinne eines faktisch bestehenden, einheitlichen wissenschaftlich-medizinischen Sprachgebrauchs zu verstehen sind. Ergeben sich danach keine eindeutigen Ergebnisse, ist der allgemeinsprachliche Begriffskern maßgeblich (stRSpr, BSG, Urteil vom 22. Juni 2022 – B 1 KR 31/21 R – juris Rn 12 zu DKR und ICD-10; BSG, Beschluss vom 8. September 2021 – B 1 KR 75/20 B – juris Rn 11 zu DRG).

 

bb) Der Wortlaut der vorliegend auf ihre Anwendung hin zu prüfenden Kodierregel D0201n der DKR 2015 (Seite 63) lautet: „Die Reihenfolge der anzugebenden Kodes hängt von der Behandlung während des betreffenden Krankenhausaufenthaltes ab. Erfolgt die Aufnahme zur Diagnostik/Behandlung des primären Malignoms, ist das primäre Malignom als Hauptdiagnose-Kode zuzuweisen. […] Der Malignom-Kode ist als Hauptdiagnose für jeden Krankenhausaufenthalt zur Behandlung der bösartigen Neubildung und zu notwendigen Folgebehandlungen (zB Operationen, Chemo-/Strahlentherapie, sonstige Therapie) (siehe Beispiel 2) sowie zur Diagnostik (zB Staging) (siehe Beispiel 3) anzugeben, bis die Behandlung endgültig abgeschlossen ist, also auch bei den stationären Aufenthalten, die beispielsweise auf die chirurgische Entfernung eines Malignoms folgen. Denn obwohl das Malignom operativ entfernt worden ist, wird der Patient nach wie vor wegen des Malignoms behandelt. War der Aufnahmegrund weder die maligne Erkrankung noch die Chemo-/Strahlentherapie, so ist die Hauptdiagnose gemäß DKR D002 Hauptdiagnose zu wählen“ (nachfolgend D0201n <Seite 63>). Diese Grundregel für die Bestimmung der Hauptdiagnose, nämlich D002f der DKR 2015 (S 4), bestimmt, dass die Hauptdiagnose diejenige Diagnose ist, „die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich ist.” Der Begriff „nach Analyse” bezeichnet die Evaluation der Befunde am Ende des stationären Aufenthaltes, um diejenige Krankheit festzustellen, die hauptsächlich verantwortlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes war.

 

Die Kodierregel D0201n (Seite 63) soll nach ihrem Wortlaut zwar erkennbar dem Umstand Rechnung tragen, dass die Behandlung eines Malignoms kein einmaliger Vorgang ist, sondern als ein mehrstufiger komplexer Prozess mit Folgebehandlungen stattfindet, „bis die Behandlung endgültig abgeschlossen ist“. Eingeschlossen in die Kodierbarkeit des Malignoms als Hauptdiagnose werden daher sowohl operative, dh das Malignom entfernende, Behandlungen als auch chemo-/strahlentherapeutische (Nach-)Behandlungen des Malignoms. Dabei wird der Patient jeweils auch stationär aufgenommen, um gezielt den Tumor zu behandeln.

 

Entgegen der Auffassung des Krankenhauses liegt eine solche gezielte Tumorbehandlung jedoch nicht bereits dann vor, wenn im Sinne einer Ursachenkette nach der „conditio-sine-qua-non“-Formel das Malignom nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg – die stationäre Krankenhausbehandlung – entfiele. Bei dieser Betrachtung wären alle Erkrankungen, die im Anschluss an eine Malignombehandlung aufträten und stationär behandlungsbedürftig wären, nicht isoliert zu betrachten, sondern die Krebserkrankung wäre immer als HD zu kodieren. Das würde sowohl Erkrankungen umfassen, die als hoch wahrscheinliche Nebenwirkung einer geplanten Chemotherapie im Körper des krebserkrankten Patienten unerwünschte Prozesse – wie vorliegend zB eine Leukopenie – in Gang setzten und stationär behandlungsbedürftig wären (vgl zur stationären chemotherapeutischen Behandlung mit hoch wahrscheinlichen Komplikationen als notwendiger Bestandteil eines Therapieplans Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil vom 31. August 2023 – L 1 KR 32/23, BeckRS 2023, 54156, beck-online – nachfolgend BSG, Beschluss vom 27. November 2024 B 1 KR 72/23 B). Mit dem Malignom als HD zu kodieren wäre dann aber auch die Behandlung einer Erkrankung, die nicht hoch wahrscheinlich und damit planbar durch eine Chemo- oder Strahlentherapie einträte, sondern deren Ausbruch (zB) nur aufgrund eines therapiegeschwächten Körperzustands begünstigt würde, wenn weitere äußere Umstände, zB der Kontakt des Patienten mit Bakterien oder Viren, hinzuträten. Gleichermaßen zu bewerten wäre der Fall, wenn der Patient durch die Chemotherapie zB unter Schwindel litte, stolperte und sich einen Knochenbruch zuzöge. Das ist jedoch erkennbar nicht gewollt. Bereits Satz 2 der Kodierregel D0201n (Seite 63) – „War der Aufnahmegrund weder … noch …“- zeigt vielmehr auf, wie die Situation kodiertechnisch abzubilden ist, dass ein Patient mit einem diagnostizierten Malignom im Körper bzw während einer laufenden ambulanten strahlen-/chemotherapeutischen (Nach-)Behandlung des Malignoms in einen Krankheitszustand geraten kann, der parallel zu der Malignom(nach)behandlung auftritt und eine stationäre Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit auslösen kann. Wenn dieser parallele Erkrankungszustand und nicht das Fortschreiten der Behandlung des Malignoms die stationäre Aufnahme des Patienten auslöst, bestimmt sich die Kodierung der HD – dem Wortlaut der Kodierregel folgend – nicht nach „D0201n Seite 63“, sondern nach D002.

 

cc) Auch systematische Erwägungen, die sich aus der Auswertung weiterer beispielbelegter Regeln innerhalb der D0201n der DKR 2015 ergeben, sprechen für das gefundene wortlautorientierte Ergebnis. In den Beispielen 2 bis 7 werden situative Krankheitszustände mit Behandlungsmaßnahmen gelistet und die Kodierungen erläutert, die ua auch zwischen der Behandlung des Primärtumors und der Behandlung von Metastasen differenzieren. Nur für Behandlungsschritte zur Bekämpfung des Primärtumors ist dieser als HD zu kodieren; werden gezielt Metastasen behandelt, wird der Primärtumor nur als ND kodiert. Dh selbst für typische Behandlungsverläufe einer Krebserkrankung wird danach differenziert, welcher Erkrankungszustand – Primärtumor oder Metastasen – aktuell stationär behandlungsbedürftig ist, so dass nicht regelhaft der Primärtumor als HD zu kodieren ist.

 

c) Dieser Auslegung folgend teilt der Senat die Einschätzung der Beklagten bzw des MDK und des Sachverständigen Dr. S______ (ohne Auswertung des Schlichtungsbeschlusses) sowie des SG, dass vorliegend die akute Bronchitis (ICD-10 J20.9) als HD zu kodieren ist. Der Versicherte wurde am 3. Juni 2015 nicht aufgenommen, um eine terminierte Operation oder eine Chemo-Therapie mit Revlimid zur Behandlung des Plasmozytoms oder eine terminierte Behandlung der Leukopenie als Nebenwirkung der Chemotherapie zu erhalten. Das zeigt sich auch daran, dass die Unterbrechung der ambulant verordneten und von dem Versicherten selbständig durchgeführten medikamentösen Chemotherapie und die Gabe von Filgrastim zur viertägigen Behandlung der Leukopenie erst nach Rücksprache mit dem den Versicherten behandelnden Onkologen des AK St. Georg am 9. Juni 2015 umgesetzt wurde. Der Versicherte wurde zwar mit der Erkrankung an einem Plasmozytom und laufender chemotherapeutischer Behandlung aufgenommen, Anlass für den konkreten Zeitpunkt der Aufnahme am 3. Juni 2015 um 18:42 Uhr war jedoch der ambulant nicht behandelbar gewesene Infekt mit Ruheatemnot und Diarrhoen nach Antibiotikaeinnahme. Zur Behandlung wurden eine kalkulierte antibiotische Therapie, eine intravenöse Flüssigkeits- und Kaliumsubstitution und regelmäßige Inhalationen eingeleitet. Folglich war die akute Bronchitis als Hauptdiagnose zu kodieren.

 

Diesem Ergebnis stehen auch die weiteren zwischenzeitlich vorgebrachten Argumentationsansätze der Beteiligten zur Kodierung von Symptomen nach D0201n der DKR 2015 (Seite 66) oder zur Mehrfachkodierung D012i der DKR 2015 (Seite 20) nicht entgegen.

 

3. Nach alledem macht die Klägerin daher – wie vom SG bereits ausgeurteilt – gegenüber der Beklagten zu Recht die Erstattung einer überzahlten Krankenhausvergütung iHv 4.753,90 Euro geltend. Zu beanstanden ist in dem Berufungsverfahren lediglich die erstinstanzlich gewährte Zinshöhe.

 

Der Zinsanspruch für die Erstattungsforderung beruht auf § 13 Sätze 3, 4 der Entgeltvereinbarung 2015, wonach bei Zahlungsverzug im Sinne des BGB Verzugszinsen bzw Prozesszinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank ab Fälligkeitstag (frühestens ab 15. Tag nach Rechnungseingang) berechnet werden können. Diese Zinsregelung gilt auch zu Gunsten der Krankenkassen bei Rückforderungen von bereits beglichenen Rechnungen ab dem Zeitpunkt des Forderungseinganges der Krankenkassen. Da das SG – fehlerhaft – Zinsen iHv 5 Prozent­punkten über dem Basiszinssatz zugesprochen hatte, war der Gerichtsbescheid insoweit korrigierend zu ändern.

 

4. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 197a SGG, 154 Abs 2 und 155 Abs 1 Satz 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), da der Erfolg der Beklagten hinsichtlich der Höhe des Zinsanspruchs nur einen geringen Anteil ausmacht.

 

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegen nicht vor. Weder weicht der Senat mit seiner Entscheidung von Entscheidungen des Bundessozialgerichts ab noch erfordert dieser Sachverhalt die Klärung von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung. Zu dem Beschluss des Schlichtungsausschusses vom 4. Juli 2016 AZ01/2015 und der in den Jahren 2013 und 2015 wortlautidentischen Kodierregel D0201l bzw D0201n der DKR hat das BSG sich bereits dahingehend positioniert, für vor dem 4. Juli 2016 abgeschlossene Behandlungsfälle keinen Klärungsbedarf zu sehen (BSG, Beschluss vom 27. November 2024 – B 1 KR 72/23 B – juris).

 

Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers, §§ 47 Abs 1, 52 Absatz 3 GKG. Vorliegend war der Gegenstand des Verfahrens eine bezifferte Geldsumme – Erstattung der Vergütung für eine stationäre Krankenhausbehandlung in Höhe von 4.753,90 Euro. Dieser Betrag war – gerundet – als Streitwert festzusetzen.

Rechtskraft
Aus
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