L 10 SB 118/23

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 18 SB 191/22
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 10 SB 118/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Vertretungsberechtigte Verbände in sozialgerichtlichen Verfahren sind auch dann erst ab 2026 zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs verpflichtet, wenn diese einen für sie tätigen Syndikusrechtsanwalt für die Prozessvertretung einsetzen.

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 15. November 2023 aufgehoben.

Die Sache wird an das Sozialgericht Hildesheim zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob das beklagte Land berechtigt gewesen ist, den bei der Klägerin festgestellten Grad der Behinderung (GdB) von 50 auf 40 herabzusetzen.

Die H. geborene Klägerin erkrankte im Jahr 2019 an einem Karvernom und erlitt in diesem Zusammenhang eine Hirnblutung, wodurch in der Folge u.a. Schwindel, Ataxien, Gangunsicherheit und Fallneigung eintraten. Wegen dieser Erkrankung stellte das beklagte Land mit Bescheid vom 13. November 2019 in der Gestalt des Abhilfebescheides vom 24. Februar 2020 ab dem 30. September 2019 den GdB mit 50 fest. Die Entscheidung stützte sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigung: „Folgen nach Hirnblutung“. Der Bescheid enthielt auch den Hinweis, die bewertete Funktionsbeeinträchtigung sei möglicherweise noch einer Besserung zugänglich; es sei daher zu Februar 2021 eine Nachuntersuchung und Nachprüfung des GdB vorgesehen.

Im Februar 2021 leitete das beklagte Land die Überprüfung ein und zog hierzu Befundscheine der behandelnden Ärzte der Klägerin bei. Nach Beteiligung seines beratungsärztlichen Dienstes und anschließender Anhörung der Klägerin hob es mit hier streitgegenständlichem Bescheid vom 21. Januar 2022 den Bescheid vom 24. Februar 2020 insoweit auf, als es den GdB ab dem 1. März 2022 mit 30 bewertete. Die Entscheidung stützte sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigungen: „Folgen nach Hirnblutung (Einzel-GdB: 20), seelische Störung (Einzel-GdB: 20). Den gegen diese Entscheidung erhobenen Widerspruch der Klägerin wies das beklagte Land mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2022 zurück.

Dagegen hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim mit Fax am 22. September 2022 Klage durch ihren Prozessvertreter, den Sozialverband Deutschland (SoVD), erhoben. Der beim SG eingegangene Klageschriftsatz war unterzeichnet mit dem Namen der für den SoVD tätig gewordenen Sachbearbeiterin und dem Zusatz ihrer Berufsbezeichnung: Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin). Derselbe Schriftsatz samt Anlagen hat das SG postalisch am 26. September 2022 erreicht. Das SG hat den Klageeingang bestätigt, dem SoVD die von ihm beantragte Akteneinsicht gewährt und die Klagebegründung innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Akteneinsicht angefordert. In der Folgezeit haben weitere Schriftsätze – u. a. die Klagebegründung – des Prozessbevollmächtigten der Klägerin das SG postalisch erreicht. Nach Auswertung von der Klägerin zur Verfügung gestellter ärztlicher Unterlagen erkannte das beklagte Land unter dem 27. März 2023 den Anspruch der Klägerin insoweit an, als es den GdB ab dem 1. März 2022 mit 40 festgestellt hat; die hierzu von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin übersandte Prozesserklärung war erneut auf dem Postweg erfolgt. Das SG hat sodann Befundberichte von den die Klägerin behandelnden Ärzte beigezogen, worauf der Prozessbevollmächtigte der Klägerin postalisch im Juli und August 2023 reagiert hat.

Mit Verfügung vom 1. September 2023 – per Post abgesandt am 8. September 2023 – hat das SG den Prozessbevollmächtigten der Klägerin darauf hingewiesen, es halte die Klage mangels Formwirksamkeit für unzulässig. Seit Beginn des Jahres 2022 bestehe für Rechtsanwälte die Pflicht, Schriftsätze und Prozesserklärungen zwingend als elektronische Dokumente bei Gericht einzureichen. Die Klageschrift sei lediglich per Fax und anschließend auf dem Postweg bei Gericht eingegangen. Da die Unterzeichnerin eine Syndikusrechtsanwältin sei, hätte sie den elektronischen Übermittlungsweg wählen müssen. Am 26. September 2023 hat die Regionalleiterin des SoVD – Ass. Jur. I. – Stellung zur Frage der Unzulässigkeit der Klage genommen. Zusätzlich hat sie vorsorglich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich eine erneute Klageschrift gegen den streitgegenständlichen Bescheid eingereicht. Sie hat darauf hingewiesen, dem SoVD sei vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen bei der Umstellung von der passiven auf die aktive beA-Nutzungspflicht die Auskunft erteilt worden, dass die Schriftsätze der beim Verband tätigen Syndizi von der beA-Nutzungspflicht nicht betroffen seien. Deshalb seien die Schriftsätze der Syndizi per Fax und postalisch übermittelt worden. Auch das Präsidium des SG sei mit Schreiben vom 9. Januar 2018 gefragt worden, wie sich die Syndikusrechtsanwälte des Verbandes verhalten sollten; eine Antwort sei ausgeblieben. In Anbetracht dieses Verhaltens sei man beim SoVD davon ausgegangen, dass keine Einwendungen dagegen bestünden, wenn die Syndizi mit der Sozialgerichtsbarkeit weiterhin per Fax bzw. postalisch kommunizierten. Deshalb habe für das vorliegende Verfahren ein unverschuldetes Fristversäumnis bestanden. Die Frage, der verpflichtenden aktiven beA-Nutzungspflicht der für den SoVD tätigen Syndikusanwälte sei außerdem streitig. Jedenfalls könnte vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 23. Mai 2023 vor diesem Zeitpunkt die elektronische Übermittlung der Schriftsätze der bei einem Verband tätigen Syndizi nicht verlangt werden. Rein vorsorglich werde jedoch nun formwirksam Klage erhoben.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 15. November 2023 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klage sei unzulässig, da sie nicht formwirksam eingelegt worden sei. Die für den prozessbevollmächtigten Sozialverband tätige Syndikusrechtsanwältin sei verpflichtet gewesen, das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) zu nutzen. Für seine Rechtsansicht hat sich das SG im Wesentlichen auf den Beschluss des BAG vom 23. Mai 2023 bezogen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat es der Klägerin nicht gewährt. Diese sei nicht ohne Verschulden gehindert gewesen, die Frist zur Einlegung der Klage einzuhalten. Es liege ein unbeachtlicher Rechtsirrtum vor. Von der Syndikusanwältin sei zu erwarten gewesen, dass sie aufgrund der Einrichtung ihres beA-Postfaches im Jahr 2022 dahingehend sensibilisiert gewesen sei, dieses im Rechtsverkehr mit den Gerichten nutzen zu müssen. Bei Zweifeln hätte sie den sichersten Weg wählen müssen. Ein unvermeidbarer Rechtsirrtum könne nicht angenommen werden. Die höchstrichterliche Entscheidung des BAG sei im Mai 2023 veröffentlich worden. Spätestens mit dieser Entscheidung sei das Hindernis der Rechtsunkenntnis weggefallen, sodass ein Antrag auf Wiedereinsetzung innerhalb eines Monats zu stellen gewesen wäre.

Gegen den ihr am 17. November 2023 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die von der Klägerin am 27. November 2023 eingelegte Berufung. Zur Begründung verweist Sie im Wesentlichen auf das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (LSG Nds-Brmen) vom 5. Juni 2024 (L 2 R 78/24). Daraus ergebe sich, dass der von der Klägerin Bevollmächtigte seinerzeit nicht zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs verpflichtet gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 15. November 2023 und den Bescheid des beklagten Landes vom 21. Januar 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2022 und des Teilanerkenntnisses vom 27. März 2023 aufzuheben,

hilfsweise,

die Sache an das Sozialgericht Hildesheim zurückzuverweisen.

Das beklagte Land beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid vom 15. November 2023 zurückzuweisen.

Wegen weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Verwaltungsvorgang des beklagten Landes Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen ist.

1. Die am 22. September 2022 gegen den Bescheid des beklagten Landes vom 21. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. August 2022 fristgerecht beim SG eingegangene Klageschrift war formgerecht.

Nach § 90 SGG ist die Klage bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben. Im vorliegenden Fall ist die im Namen der Klägerin durch den bevollmächtigten SoVD erhobene Klage – unterzeichnet durch die beim Verband beschäftigte Syndikusrechtsanwältin – am 22. September 2022 schriftlich beim SG eingegangen. Der Widerspruchsbescheid vom 23. August 2022 ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin nach dessen unbestrittenem Vortrag am 26. August 2022 zugestellt worden (vgl. hierzu auch § 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X)). Die einmonatige Klagefrist gemäß § 87 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGG ist damit gewahrt worden.

§ 65d Satz 1 SGG (in der hier maßgeblichen – bis 31. Dezember 2025 geltenden – Fassung des Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 5. Oktober 2021, BGBl. I, 4607) bestimmt, dass vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln sind. Gleiches gilt nach § 65d Satz 2 SGG für die nach diesem Gesetz vertretungsberechtigten Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGG zur Verfügung steht. Ist eine Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig.

Die Klageschrift vom 22. September 2022 ist dem SG nicht als elektronisches, sondern als schriftliches Dokument (Telefax) übermittelt worden. Dies steht der formgerechten Klageerhebung jedoch nicht entgegen.

Die aktive Nutzungspflicht erfasst nach dem Gesetzeswortlaut Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse. Zu letzteren gehören die Sozialversicherungsträger. Für Rechtsanwälte muss die Bundesrechtsanwaltskammer zu diesem Zweck gemäß § 31 a Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) ein sog. „besonderes elektronisches Anwaltspostfach“ (beA) i.S.d. § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGG einrichten. Nicht erfasst von der aktiven Nutzungspflicht sind noch bis 31. Dezember 2025 die sonstigen Verfahrensbevollmächtigten nach § 73 Abs. 2 Nr. 3 bis 9 SGG. Hierzu gehören u.a. Rentenberater, Gewerkschaften und – wie der prozessbevollmächtigte Verband der Klägerin – Sozialverbände. Erst mit Wirkung vom 1. Januar 2026 gilt die aktive Nutzungspflicht grundsätzlich auch für alle vertretungsberechtigten Personen und Bevollmächtigte, denen ein „besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach“ (§ 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGG; §§ 10-12 ERVV) zur Verfügung steht und damit für den hier bevollmächtigten SoVD (vgl. Artikel 13 des Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 5. Oktober 2021, BGBl. I, 4607, 4614).

Streitig ist die Frage nach der aktiven Nutzungspflicht bei den sogenannten Syndikusrechtsanwälten (vgl. dazu §§ 46 ff. BRAO), die als Rechtsanwälte dauerhaft bei einem Unternehmen oder einem Verband angestellt sind und für die die Bundesrechtsanwaltskammer gemäß § 31a Abs. 1 und 2 BRAO ebenfalls ein – und zwar für jeden Syndikusrechtsanwalt je ein (gesondertes) – beA einrichten muss. Ob mit der Zulassung als Syndikusrechtsanwalt in jedem Einzelfall auch die aktive Nutzungspflicht nach § 65d SGG einhergeht, ist umstritten.

Eine Auffassung verweist auf die fehlende aktive Nutzungspflicht der Verbände vor 2026 sowie den Umstand, dass ein Syndikusrechtsanwalt unmittelbar für den Verband auftrete und nimmt dementsprechend keine Nutzungspflicht an (vgl. so im Ergebnis auch LSG Nds-Bremen, Urteil vom 5. Juni 2024, L 2 R 78/24).

Die Gegenauffassung stellt vorrangig auf die berufsrechtliche Stellung des Syndikusrechtsanwalts ab und nimmt dementsprechend eine umfassende Nutzungspflicht für alle Personen an, die als Syndikusrechtsanwalt zugelassen sind. So vertritt das BAG zu der im Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) geltenden Parallelvorschrift des § 65d SGG - § 46g ArbGG - die Ansicht, hinsichtlich der aktiven Nutzungspflicht komme es darauf an, wer zu identifizierender Urheber der Prozesserklärung, also Einreicher/Übermittler des elektronischen Dokuments sei; das BAG verlangt in diesem Zusammenhang von einem Verbandssyndikusrechtsanwalt, der entsprechend § 46 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BRAO Rechtsdienstleistungen des Arbeitgebers gegenüber seinen Mitgliedern erbringt und hierfür über ein separates beA verfügt, dass er bei Anträgen und Erklärungen gegenüber einem Gericht, die in Ausübung dieser Tätigkeiten vorgenommen werden, die für Rechtsanwälte geltenden Formerfordernisse wahrt (vgl. BAG, Beschluss vom 23. Mai 2023, 10 AZB 18/22, zitiert nach Juris). Dementsprechend hat das BAG in seiner Entscheidung eine Pflicht für Verbandssyndikusrechtsanwälte, den elektronischen Rechtsverkehr (ERV) aktiv zu nutzen, angenommen.

Nach Ansicht des erkennenden Senates ergibt sich aus § 65d SGG für den vorliegenden Fall der Klageeinlegung durch die Syndikusrechtsanwältin des SoVD am 22. September 2022 hingegen keine aktive Nutzungspflicht des ERV.

§ 46 Abs. 5 Satz 1 BRAO beschränkt die Tätigkeit des Syndikusanwalts auf die Beratung und Vertretung der Rechtsangelegenheiten seines Arbeitgebers. Die Frage, ob ein Syndikusanwalt Mandanten seines Arbeitgebers beraten darf, beschränkt sich auf wenige Fälle, nämlich u.a. die, in denen der Arbeitgeber Rechtsdienstleistungen beispielsweise nach §§ 7, 8 des Gesetzes über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (Rechtsdienstleistungsgesetz – RDG) erbringen darf und dafür den bei ihm beschäftigten Syndikusanwalt heranziehen möchte (vgl. Özman, Berufsrecht des Syndikusrechtsanwalts, S. 61, 64). In den §§ 7 und 8 RDG wird Sozial- und Wohlfahrtsverbänden die sozialrechtliche Beratung durch Personen ohne Befähigung zum Richteramt unter bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen erlaubt. So ist auch der Prozessbevollmächtigte der Klägerin und Arbeitgeber der tätig gewordenen Syndikusrechtsanwältin – der SoVD – im Rahmen seines satzungsmäßigen Aufgabenbereiches für seine Mitglieder zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen i.S.d. §§ 7, 8 RDG berechtigt.

Dementsprechend regelt § 46 Abs. 6 Satz 1 BRAO ausdrücklich, dass wenn ein Arbeitgeber, der nicht den in § 59c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 3 BRAO genannten Berufen angehört, zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen berechtigt ist, diese auch durch den Syndikusrechtsanwalt erbracht werden können. Dabei gehört der SoVD nicht den in § 59 c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 3 BRAO genannten Berufen an. § 59 c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 3 BRAO benennt (nur) die folgenden Berufe: Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und Buchprüfer. Hierzu zählt der SoVD nicht. Damit konnte der SoVD seine Rechtsdienstleistungen gegenüber der Klägerin durch seine Syndikusrechtsanwältin erbringen lassen; allerdings ist gemäß § 46 Abs. 6 Satz 3 BRAO die Erbringung von diesen Rechtsdienstleistungen keine anwaltliche Tätigkeit im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 1 BRAO gewesen. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung getragen, dass vorliegend solche Rechtsdienstleistungen in Rede stehen, die nicht Rechtsanwältinnen und -anwälten vorbehalten sind, sondern auch durch andere qualifizierte Personen erbracht werden können, die nicht den anwaltlichen Grundpflichten unterliegen (vgl. BT-Drucksache 19/30516, Seite 47). Handelt es sich also bei der Klageerhebung vor dem SG um keine anwaltliche Tätigkeit, so lässt sich für den vorliegenden Fall aus § 65 d SGG keine aktive Nutzungspflicht für den ERV herleiten.   

2. Ist bereits im Ausgangspunkt von einer form- und fristgerecht erhobenen Klage auszugehen, weist der Senat nur hilfsweise darauf hin, dass der Klägerin auf der Basis der vom SG vertretenen abweichenden Rechtsauffassung und einer daraus folgenden Unwirksamkeit der schriftlichen Klageerhebung jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf die dann anzunehmende Versäumung der einmonatigen Klagefrist zu gewähren ist.

Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm nach § 67 Abs. 1 SGG auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist gemäß Abs. 2 binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 67 Abs. 2 SGG).

a) Bei einem Rechtsirrtum trifft den Beteiligten nur dann ausnahmsweise kein Verschulden, wenn dieser den Irrtum auch bei sorgfältiger Prüfung nicht vermeiden konnte; bei zweifelhafter Rechtslage muss er den sichersten Weg wählen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2012, VI ZB 1/11, VI ZB 2/11; zitiert nach Juris, Rn. 10 m.w.N.). Eine falsche Einschätzung der Rechtslage ist nur in ganz engen Grenzen ein Wiedereinsetzungsgrund (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 33. Auflage, § 233 Rn. 23.32). So kann eine Wiedereinsetzung in Betracht kommen, wenn die irrige Rechtsmeinung vom Gericht veranlasst und hierdurch ein besonderer Vertrauenstatbestand geschaffen wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 26. November 1997, XII ZB 164/97, zitiert nach Juris Rn. 8).

Nach Ansicht des Senates liegt hier ein solcher Ausnahmefall vor. Wie oben unter Ziff. 1. dargestellt, hat der Gesetzgeber bewusst davon abgesehen, für die hier in Rede stehenden Verbände eine Pflicht zur aktiven Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs vor dem 1. Januar 2026 zu begründen. Der Gesetzgeber hat in der Gesetzesbegründung ausdrücklich festgehalten, die Änderung begründe für die nach dem Sozialgerichtsgesetz vertretungsbefugten Bevollmächtigten, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Absatz 4 Nummer 4 zur Verfügung stehe, noch keine aktive Nutzungspflicht ab dem 1. Januar 2022. Eine aktive Nutzungspflicht werde für die vertretungsbefugten Bevollmächtigten erst zum 1. Januar 2026 eingeführt (vgl. BT-Drs. 19/28399, S. 47 zu Artikel 9). Damit ist Grundlage des (vermeintlichen) Rechtsirrtums der Mitarbeiter/innen des SoVD eine ausdrückliche und deutliche Positionierung des Gesetzgebers gewesen, die zumindest den begründeten Anschein für die vom SoVD angenommene Rechtslage erzeugen konnte. Ohne den Rechtsgedanken des Vertrauensschutzes bemühen zu müssen, stellt dies schon dem Grunde nach eine andere – besondere – Ausgangslage dar, als ein einfacher Rechtsirrtum. Diese besondere Ausgangslage wurde durch das Mitwirken des SG dadurch perpetuiert, dass es sowohl im vorliegenden Fall, aber auch in anderen Verfahren, in denen durch den SoVD mittels eines Syndikusrechtsanwaltes schriftlich bzw. per Telefax Klage erhoben worden war, sehr lange Zeit keine Bedenken gegen die Formwirksamkeit der Klageerhebung geäußert hatte. Dem Senat lagen bzw. liegen weitere Berufungen gegen Entscheidungen der 18. Kammer des SG vor, in denen bei vergleichbaren Sachverhalten ebenfalls lange Zeit keine Bedenken gegen die Formwirksamkeit der Klageerhebung geäußert worden sind. Vergleichbar ausgestaltete Berufungsverfahren sind zudem bei anderen Senaten des Landessozialgerichts anhängig (vgl. insoweit auch LSG Nds-Bremen, Urteil vom 5. Juni 2024, L 2 R 78/24 zu Verfahren der 41. Kammer des SG). Durch dieses Verhalten durfte sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in seiner Rechtseinschätzung bestärkt fühlen und spätestens hierdurch wurde ein besonderer Vertrauenstatbestand geschaffen.

Vor dem aufgezeigten Hintergrund braucht der Senat das an das Präsidium des SG gerichtete Schreiben des SoVD vom 9. Januar 2018 bzw. das Schreiben des Präsidenten des LSG vom 22. Februar 2018 nicht weiter zu beleuchten; zumindest weist er aber darauf hin, dass beide Schreiben in erster Linie die passive Nutzungspflicht des beA für Syndizi thematisiert haben und damit wenig ergiebig für die hier zu klärende Rechtsfrage scheinen.

b) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt worden.

Der Senat teilt nicht die Rechtsansicht des SG, spätestens mit der Entscheidung des BAG im Mai 2023 wäre das Hindernis der Rechtsunkenntnis für den SoVD weggefallen, so dass der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen einen Monats zu stellen gewesen wäre. Abgesehen von dem Umstand, dass sich keinerlei Ermittlungen oder Erkenntnisse des SG dazu finden lassen, zu welchem konkreten Datum der Beschluss des BAG vom 23. Mai 2023 online durch das Gericht selbst und/oder in den einschlägigen Rechercheportalen veröffentlicht worden und damit für den SoVD recherchier- und abrufbar gewesen ist und (theoretisch) zur Kenntnis genommen werden konnte, ist insoweit auf Folgendes hinzuweisen: Höchstrichterliche Rechtsprechung schafft kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Kein Prozessbeteiligter kann daher darauf vertrauen, der Richter werde stets an einer bestimmten Rechtsauffassung aus der bisherigen Judikatur festhalten (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 11. August 1993, 1 BvR 1667/15, unter Hinweis auf BVerfGE 78, 123 <126>; 131, 20 <42>). (Schutzwürdiges) Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage aufgrund höchstrichterlicher Entscheidungen kann daher in der Regel nur bei Hinzutreten weiterer Umstände, insbesondere bei einer gefestigten und langjährigen Rechtsprechung entstehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. August 1993, 1 BvR 1667/15 unter Hinweis auf BVerfGE 72, 302 <326>; 122, 248 <277 f.>; 126, 369 <395>; 131, 20 <42>). Eine gefestigte und langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob sich für Verbandssyndizi eine Nutzungspflicht des ERV aus § 65 d SGG ergibt, existiert aber nicht.

Damit könnte sich ein Wegfall des Hindernisses allenfalls in dem Zeitpunkt feststellen lassen, zu dem das SG mit Hinweisverfügung vom 1. September 2023 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf die vermeintliche Formunwirksamkeit und Unzulässigkeit der Klage hingewiesen hatte. Noch mit Schriftsatz vom 22. September 2023, beim SG eingegangen am 26. September 2023 – und damit binnen eines Monats – hat der SoVD die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und auch erneut die Klage erhoben. Weil dies nunmehr von der Regionalleiterin Ass. jur. Eck unterzeichnet gewesen ist, konnten Antrag und Klageerhebung formwirksam auf postalischem Wege erfolgen.   

3. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall gegeben. Das Sozialgericht hat in dem angefochtenen Gerichtsbescheid die Klage aus Zulässigkeitsgründen abgewiesen und in der Sache das Begehren der Klägerin nicht geprüft. Von dem ihm eingeräumten Ermessen macht der Senat im vorliegenden Fall im Sinne der Zurückverweisung Gebrauch. Anderenfalls wäre die vom Gesetz vorgesehene inhaltliche Prüfung des klägerischen Begehrens in zwei Tatsacheninstanzen nicht gewährleistet. Unter Berücksichtigung der beschleunigten Durchführung des vorliegenden Berufungsverfahrens verletzt die Zurückverweisung auch keine schutzwürdigen Interessen der Klägerin an der Gewährung zeitnahen Rechtsschutzes.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 159 SGG, Rn. 5f).

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben

Rechtskraft
Aus
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