L 10 SB 56/24

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 18 SB 121/22
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 10 SB 56/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Vertretungsberechtigte Verbände in sozialgerichtlichen Verfahren sind auch dann erst ab 2026 zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs verpflichtet, wenn diese einen für sie tätigen Syndikusrechtsanwalt für die Prozessvertretung einsetzen.

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 28. März 2024 aufgehoben.

Die Sache wird an das Sozialgericht Hildesheim zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt einen Grad der Behinderung (GdB) von 50.

Bei der H. geborenen Klägerin war mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie (Versorgungsamt) vom 3. April 2017 ein GdB von 20 ab dem 19. Januar 2017 festgestellt worden. Dem hatten folgende Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde gelegen:

       „Wirbelsäulenschaden (Einzel-GdB 20)“

Im November 2021 beantragte die Klägerin bei dem Versorgungsamt, die bei ihr vorliegende Behinderung wegen einer Verschlimmerung bestehender sowie hinzugetretener Gesundheitsstörungen neu zu bewerten. Hierfür bezog sie sich u.a. auf den Reha-Entlassungsbericht der I. Klinik vom 22. November 2021. Das Versorgungsamt holte einen Befundbericht des die Klägerin behandelnden Internisten Dr. J. nebst vielen weiteren ärztlichen Berichten ein und ließ die Unterlagen von seinem ärztlichen Dienst auswerten. Sodann stellte es mit Bescheid vom 13. Januar 2022 den Anspruch neu fest und erkannte ab dem 3. Dezember 2021 einen GdB von 40 an. Dem lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde:

       „1. Seelische Störung (Einzel-GdB 30)

        2. Wirbelsäulenschaden (Einzel-GdB 20)“

Den Widerspruch der Klägerin wies das beklagte Land mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2022 – eingegangen beim Prozessbevollmächtigten der Klägerin per Briefpost am 3. Juni 2022 – zurück.

Dagegen hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim mit Fax am 1. Juli 2022 Klage durch ihren Prozessvertreter, den Sozialverband Deutschland (SoVD), erhoben. Der beim SG eingegangene Klageschriftsatz war unterzeichnet mit dem Namen der für den SoVD tätig gewordenen Sachbearbeiterin und dem Zusatz ihrer Berufsbezeichnung: Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin). Derselbe Schriftsatz samt Anlagen hat das SG postalisch am 4. Juli 2022 erreicht. Das SG hat den Klageeingang bestätigt, vom SoVD die Vollmacht angefordert, diesem sodann die von ihm beantragte Akteneinsicht gewährt und die Klagebegründung innerhalb einer Frist von sieben Wochen nach Akteneinsicht angefordert. In der Folgezeit haben weitere Schriftsätze – u. a. die Klagebegründung – des Prozessbevollmächtigten der Klägerin das SG postalisch erreicht. Das SG hat sodann Befundberichte von den die Klägerin behandelnden Ärzten beigezogen, worauf der Prozessbevollmächtigte der Klägerin postalisch im März und Mai 2023 reagiert hat.

Im Mai 2023 ist durch einen Wohnortwechsel der Klägerin das nunmehr beklagte Land Hessen in den Rechtsstreit eingetreten.

Mit Verfügung vom 2. August 2023 – per Post abgesandt am 4. August 2023 – hat das SG den Prozessbevollmächtigten der Klägerin darauf hingewiesen, es halte die Klage mangels Formwirksamkeit für unzulässig. Seit Beginn des Jahres 2022 bestehe für Rechtsanwälte die Pflicht, Schriftsätze und Prozesserklärungen zwingend als elektronische Dokumente bei Gericht einzureichen. Die Klageschrift sei lediglich per Fax und anschließend auf dem Postweg bei Gericht eingegangen. Da die Unterzeichnerin eine Syndikusanwältin sei, hätte sie den elektronischen Übermittlungsweg wählen müssen.

Mit Schriftsatz vom 15. August 2023 – beim SG eingegangen am 21. August 2023 – hat die Sachbearbeiterin des SoVD – Ass. Jur. K. – Stellung zur Frage der Unzulässigkeit der Klage genommen. Zusätzlich hat sie vorsorglich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich eine erneute Klageschrift gegen den streitgegenständlichen Bescheid eingereicht. Sie hat darauf hingewiesen, dem SoVD sei vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen bei der Umstellung von der passiven auf die aktive beA-Nutzungspflicht die Auskunft erteilt worden, dass die Schriftsätze der beim Verband tätigen Syndizi von der beA-Nutzungspflicht nicht betroffen seien. Deshalb seien die Schriftsätze der Syndizi per Fax und postalisch übermittelt worden. Auch das Präsidium des SG sei mit Schreiben vom 9. Januar 2018 gefragt worden, wie sich die Syndikusrechtsanwälte des Verbandes verhalten sollten; eine Antwort sei ausgeblieben. In Anbetracht dieses Verhaltens sei man beim SoVD davon ausgegangen, dass keine Einwendungen dagegen bestünden, wenn die Syndizi mit der Sozialgerichtsbarkeit weiterhin per Fax bzw. postalisch kommunizierten. Deshalb habe für das vorliegende Verfahren ein unverschuldetes Fristversäumnis bestanden. Die Frage, der verpflichtenden aktiven beA-Nutzungspflicht der für den SoVD tätigen Syndikusanwälte sei außerdem streitig. Jedenfalls könnte vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 23. Mai 2023 vor diesem Zeitpunkt die elektronische Übermittlung der Schriftsätze der bei einem Verband tätigen Syndizi nicht verlangt werden. Rein vorsorglich werde jedoch nun formwirksam Klage erhoben.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 28. März 2024 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klage sei unzulässig, da sie nicht formwirksam eingelegt worden sei. Die für den prozessbevollmächtigten Sozialverband tätige Syndikusrechtsanwältin sei verpflichtet gewesen, das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) zu nutzen. Für seine Rechtsansicht hat sich das SG im Wesentlichen auf den Beschluss des BAG vom 23. Mai 2023 bezogen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat es der Klägerin nicht gewährt. Diese sei nicht ohne Verschulden gehindert gewesen, die Frist zur Einlegung der Klage einzuhalten. Es liege ein unbeachtlicher Rechtsirrtum vor. Von der Syndikusanwältin sei zu erwarten gewesen, dass sie aufgrund der Einrichtung ihres beA-Postfaches im Jahr 2022 dahingehend sensibilisiert gewesen sei, dieses im Rechtsverkehr mit den Gerichten nutzen zu müssen. Bei Zweifeln hätte sie den sichersten Weg wählen müssen. Ein unvermeidbarer Rechtsirrtum könne nicht angenommen werden. Die höchstrichterliche Entscheidung des BAG sei im Mai 2023 veröffentlicht worden. Spätestens mit dieser Entscheidung sei das Hindernis der Rechtsunkenntnis weggefallen, sodass ein Antrag auf Wiedereinsetzung innerhalb eines Monats zu stellen gewesen wäre.

Gegen den ihr am 2. April 2024 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die von der Klägerin am 3. April 2024 eingelegte Berufung. Zur Begründung verweist Sie im Wesentlichen auf das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (LSG Nds-Brmen) vom 5. Juni 2024 (L 2 R 78/24) sowie des erkennenden Senats vom 29. August 2024 (L 10 SB 118/23). Daraus ergebe sich, dass der von der Klägerin Bevollmächtigte seinerzeit nicht zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs verpflichtet gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,

1. den Gerichtbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 28. März 2024 aufzuheben und den Bescheid des beklagten Landes vom 13. Januar 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2022 zu ändern,

2. das beklagte Land zu verurteilen, bei ihr seit dem 3. Dezember 2021 einen GdB von 50 festzustellen.

hilfsweise,

die Sache an das Sozialgericht Hildesheim zurückzuverweisen.

Das beklagte Land beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 28. März 2024 zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Verwaltungsvorgang des beklagten Landes Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen ist.

1. Die am 1. Juli 2022 gegen den Bescheid des Versorgungsamtes vom 13. Januar 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2022 fristgerecht eingegangene Klageschrift war formgerecht.

Nach § 90 SGG ist die Klage bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben. Im vorliegenden Fall ist die im Namen der Klägerin durch den bevollmächtigten SoVD erhobene Klage – unterzeichnet durch die beim Verband beschäftigte Syndikusrechtsanwältin – am 1. Juli 2022 schriftlich beim SG eingegangen. Der Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2022 ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin nach dessen unbestrittenem Vortrag am 3. Juni 2022 zugstellt worden (vgl. hierzu auch § 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X)). Die einmonatige Klagefrist gemäß § 87 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGG ist damit gewahrt worden.

§ 65d Satz 1 SGG (in der hier maßgeblichen – bis 31. Dezember 2025 geltenden – Fassung des Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 5. Oktober 2021, BGBl. I, 4607) bestimmt, dass vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln sind. Gleiches gilt nach § 65d Satz 2 SGG für die nach diesem Gesetz vertretungsberechtigten Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGG zur Verfügung steht. Ist eine Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig.

Die Klageschrift ist dem SG nicht als elektronisches, sondern als schriftliches Dokument (Telefax) übermittelt worden. Dies steht der formgerechten Klageerhebung jedoch nicht entgegen.

Die aktive Nutzungspflicht erfasst nach dem Gesetzeswortlaut Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse. Zu letzteren gehören die Sozialversicherungsträger. Für Rechtsanwälte muss die Bundesrechtsanwaltskammer zu diesem Zweck gemäß § 31 a Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) ein sog. „besonderes elektronisches Anwaltspostfach“ (beA) i.S.d. § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGG einrichten. Nicht erfasst von der aktiven Nutzungspflicht sind noch bis 31. Dezember 2025 die sonstigen Verfahrensbevollmächtigten nach § 73 Abs. 2 Nr. 3 bis 9 SGG. Hierzu gehören u.a. Rentenberater, Gewerkschaften und – wie der prozessbevollmächtigte Verband der Klägerin – Sozialverbände. Erst mit Wirkung vom 1. Januar 2026 gilt die aktive Nutzungspflicht grundsätzlich auch für alle vertretungsberechtigten Personen und Bevollmächtigten, denen ein „besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach“ (§ 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGG; §§ 10-12 ERVV) zur Verfügung steht und damit für den hier bevollmächtigten SoVD (vgl. Artikel 13 des Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 5. Oktober 2021, BGBl. I, 4607, 4614).

Streitig ist die Frage nach der aktiven Nutzungspflicht bei den sogenannten Syndikusrechtsanwälten (vgl. dazu §§ 46 ff. BRAO), die als Rechtsanwälte dauerhaft bei einem Unternehmen oder einem Verband angestellt sind und für die die Bundesrechtsanwaltskammer gemäß § 31a Abs. 1 und 2 BRAO ebenfalls ein – und zwar für jeden Syndikusrechtsanwalt je ein (gesondertes) – beA einrichten muss. Ob mit der Zulassung als Syndikusrechtsanwalt in jedem Einzelfall auch die aktive Nutzungspflicht nach § 65d SGG einhergeht, ist umstritten.

Eine Auffassung verweist auf die fehlende aktive Nutzungspflicht der Verbände vor 2026 sowie den Umstand, dass ein Syndikusrechtsanwalt unmittelbar für den Verband auftrete und nimmt dementsprechend keine Nutzungspflicht an (vgl. so im Ergebnis auch LSG Nds-Bremen, Urteil vom 5. Juni 2024, L 2 R 78/24).

Die Gegenauffassung stellt vorrangig auf die berufsrechtliche Stellung des Syndikusrechtsanwalts ab und nimmt dementsprechend eine umfassende Nutzungspflicht für alle Personen an, die als Syndikusrechtsanwalt zugelassen sind. So vertritt das BAG zu der im Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) geltenden Parallelvorschrift des § 65d SGG - § 46g ArbGG - die Ansicht, hinsichtlich der aktiven Nutzungspflicht komme es darauf an, wer zu identifizierender Urheber der Prozesserklärung, also Einreicher/Übermittler des elektronischen Dokuments sei; das BAG verlangt in diesem Zusammenhang von einem Verbandssyndikusrechtsanwalt, der entsprechend § 46 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BRAO Rechtsdienstleistungen des Arbeitgebers gegenüber seinen Mitgliedern erbringt und hierfür über ein separates beA verfügt, dass er bei Anträgen und Erklärungen gegenüber einem Gericht, die in Ausübung dieser Tätigkeiten vorgenommen werden, die für Rechtsanwälte geltenden Formerfordernisse wahrt (vgl. BAG, Beschluss vom 23. Mai 2023, 10 AZB 18/22, zitiert nach Juris). Dementsprechend hat das BAG in seiner Entscheidung eine Pflicht für Verbandssyndikusrechtsanwälte, den elektronischen Rechtsverkehr (ERV) aktiv zu nutzen, angenommen.

Nach Ansicht des erkennenden Senates ergibt sich aus § 65d SGG für den vorliegenden Fall der Klageeinlegung durch die Syndikusrechtsanwältin des SoVD am 1. Juli 2022 keine aktive Nutzungspflicht des ERV.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin und Arbeitgeber der tätig gewordenen Syndikusrechtsanwältin – der SoVD – ist im Rahmen seines satzungsmäßigen Aufgabenbereiches für seine Mitglieder zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen berechtigt, vgl. §§ 7, 8 des Gesetzes über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (Rechtsdienstleistungsgesetz – RDG). Dabei gehört/e der SoVD nicht den in § 59 c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 3 BRAO (weder in der vom 1. August 2022 bis 15. März 2023 geltenden Fassung vom 7. Juli 2021, noch in der seit dem 16. März 2023 geltenden Fassung vom 10. März 2023) genannten Berufen an. § 59 c Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 3 BRAO nennt (nur) die folgenden Berufe: Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und Buchprüfer. Hierzu zählt der SoVD nicht. Damit konnte bzw. kann der SoVD seine Rechtsdienstleistungen gegenüber der Klägerin zwar durch seine Syndikusrechtsanwältin erbringen (lassen); nach der ausdrücklichen Maßgabe des Gesetzes ist diese Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch die beim SoVD angestellte Syndikusrechtsanwältin aber keine anwaltliche Tätigkeit im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 1 BRAO (gewesen), vgl. § 46 Abs. 6 Satz 3 BRAO (in der ab dem 1. August 2022 gültigen Fassung vom 7. Juli 2021). Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung getragen, dass vorliegend solche Rechtsdienstleistungen in Rede stehen, die nicht Rechtsanwältinnen und -anwälten vorbehalten sind, sondern auch durch andere qualifizierte Personen erbracht werden können, die nicht den anwaltlichen Grundpflichten unterliegen (vgl. BT-Drucksache 19/30516, Seite 47). Zwar ist die gesetzliche Neuregelung in § 46 BRAO durch Einfügung des Absatzes 6 vom Gesetzgeber mit dem Ziel veranlasst worden, die sich aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zu § 46 BRAO a.F. ergebenden Zulassungsschwierigkeiten für Syndikusrechtsanwälte auszuräumen; Erwägungen, die im Zusammenhang mit der aktiven Nutzungspflicht des ERV stehen, finden sich in den Motiven zu § 46 Abs. 6 BRAO hingegen nicht. Dies ändert aber nichts daran, dass die gesetzliche Regelung eindeutig und vom Senat zu beachten ist: Bei der Erbringung von Rechtsdienstleitungen durch einen Syndikusrechtsanwalt im Rahmen von § 46 Abs. 6 Satz 1 BRAO liegt keine anwaltliche Tätigkeit im Sinn von § 46 Absatz 2 Satz 1 BRAO vor.

An diesem Ergebnis ändert sich auch dadurch nichts, dass die Klage vor dem SG am 1. Juli 2022 und damit vor dem Inkrafttreten des § 46 Abs. 6 BRAO erhoben worden ist. In der Neuregelung ist unklar geblieben, wie die Rechtslage vor dem 1. August 2022 (dem Inkrafttreten des Abs. 6) zu behandeln ist. Der Gesetzgeber hat mit der Einfügung des Absatzes allerdings keine neue Rechtslage schaffen, sondern lediglich derjenigen Regelung zur Geltung verhelfen wollen, die sich bereits vor dem 1. August 2022 aus § 46 Abse. 1- 5 BRAO nach herrschender Meinung ergeben hatte, allerdings seinerzeit vom BGH anders ausgelegt bzw. angewendet worden war. Handelt es sich bei § 46 Abs. 6 BRAO also um eine klarstellende Regelung, so ist ihm eine Vorwirkung zuzubilligen (im Ergebnis auch: Henssler/Prütting/Prütting, 6. Aufl. 2024, BRAO § 46 Rn. 45, zitiert nach beck-online).

2. Ist bereits im Ausgangspunkt von einer form- und fristgerecht erhobenen Klage auszugehen, weist der Senat nur hilfsweise darauf hin, dass der Klägerin auf der Basis der vom SG vertretenen abweichenden Rechtsauffassung und einer daraus folgenden Unwirksamkeit der schriftlichen Klageerhebung jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf die dann anzunehmende Versäumung der einmonatigen Klagefrist zu gewähren ist.

Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm nach § 67 Abs. 1 SGG auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist gemäß Abs. 2 binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 67 Abs. 2 SGG).

a) Bei einem Rechtsirrtum trifft den Beteiligten nur dann ausnahmsweise kein Verschulden, wenn dieser den Irrtum auch bei sorgfältiger Prüfung nicht vermeiden konnte; bei zweifelhafter Rechtslage muss er den sichersten Weg wählen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2012, VI ZB 1/11, VI ZB 2/11; zitiert nach Juris, Rn. 10 m.w.N.). Eine falsche Einschätzung der Rechtslage ist nur in ganz engen Grenzen ein Wiedereinsetzungsgrund (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 33. Auflage, § 233 Rn. 23.32). So kann eine Wiedereinsetzung in Betracht kommen, wenn die irrige Rechtsmeinung vom Gericht veranlasst und hierdurch ein besonderer Vertrauenstatbestand geschaffen wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 26. November 1997, XII ZB 164/97, zitiert nach Juris Rn. 8).

Nach Ansicht des Senates liegt hier ein solcher Ausnahmefall vor. Wie oben unter 1.) ausführlich dargestellt, hat der Gesetzgeber bislang bewusst davon abgesehen, für die hier in Rede stehenden Verbände eine Pflicht zur aktiven Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs vor dem 1. Januar 2026 zu begründen. Der Gesetzgeber hat in der Gesetzesbegründung ausdrücklich festgehalten, die Änderung begründe für die nach dem Sozialgerichtsgesetz vertretungsbefugten Bevollmächtigten, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Absatz 4 Nummer 4 zur Verfügung stehe, noch keine aktive Nutzungspflicht ab dem 1. Januar 2022. Eine aktive Nutzungspflicht werde für die vertretungsbefugten Bevollmächtigten erst zum 1. Januar 2026 eingeführt (vgl. BT-Drs. 19/28399, S. 47 zu Artikel 9). Damit war Grundlage des (vermeintlichen) Rechtsirrtums eine ausdrückliche Positionierung des Gesetzgebers, die zumindest den begründeten Anschein für die vom SoVD angenommenen Rechtslage erzeugen konnte. Ohne den Rechtsgedanken des Vertrauensschutzes bemühen zu müssen, stellt dies schon dem Grunde nach eine andere – besondere – Ausgangslage dar, als ein einfacher Rechtsirrtum. Diese besondere Ausgangslage wurde durch das Mitwirken des SG dadurch perpetuiert, dass es sowohl im vorliegenden Fall, aber auch in anderen Verfahren, in denen durch den SoVD mittels eines Syndikusrechtsanwaltes schriftlich bzw. per Telefax Klage erhoben worden war, sehr lange Zeit keine Bedenken gegen die Formwirksamkeit der Klageerhebung geäußert hatte. Dem Senat lagen bzw. liegen weitere Berufungen gegen Entscheidungen der 18. Kammer, aber auch anderer Kammern desselben Gerichts vor, in denen bei vergleichbaren Sachverhalten ebenfalls lange Zeit keine Bedenken gegen die Formwirksamkeit der Klageerhebung geäußert worden sind. Vergleichbar ausgestaltete Berufungsverfahren sind zudem bei anderen Senaten des Landessozialgerichts anhängig (vgl. insoweit auch LSG Nds-Bremen, Urteil vom 5. Juni 2024, L 2 R 78/24 zu Verfahren der 41 Kammer des SG). Durch dieses Verhalten konnte sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in seiner Rechtseinschätzung bestärkt fühlen.

Vor dem aufgezeigten Hintergrund braucht der Senat das an das Präsidium des SG gerichtete Schreiben des SoVD vom 9. Januar 2018 bzw. das Schreiben des Präsidenten des LSG vom 22. Februar 2018 nicht weiter zu beleuchten; zumindest weist er aber darauf hin, dass beide Schreiben in erster Linie die passive Nutzungspflicht des beA für Syndizi thematisiert haben und damit wenig ergiebig für die hier zu klärende Rechtsfrage scheinen.

b) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt worden.

Der Senat teilt nicht die Rechtsansicht des SG, spätestens mit der Entscheidung des BAG im Mai 2023 wäre das Hindernis der Rechtsunkenntnis für den SoVD weggefallen, so dass der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen einen Monats zu stellen gewesen wäre. Abgesehen von dem Umstand, dass sich keinerlei Ermittlungen oder Erkenntnisse des SG dazu finden lassen, zu welchem konkreten Datum der Beschluss des BAG vom 23. Mai 2023 online durch das Gericht selbst und/oder in den einschlägigen Rechercheportalen veröffentlicht worden und damit für den SoVD abrufbar gewesen ist, ist insoweit auf Folgendes hinzuweisen: Höchstrichterliche Rechtsprechung schafft kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Kein Prozessbeteiligter kann daher darauf vertrauen, der Richter werde stets an einer bestimmten Rechtsauffassung aus der bisherigen Judikatur festhalten (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 11. August 1993, 1 BvR 1667/15, unter Hinweis auf BVerfGE 78, 123 <126>; 131, 20 <42>). (Schutzwürdiges) Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage aufgrund höchstrichterlicher Entscheidungen kann daher in der Regel nur bei Hinzutreten weiterer Umstände, insbesondere bei einer gefestigten und langjährigen Rechtsprechung entstehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. August 1993, 1 BvR 1667/15 unter Hinweis auf BVerfGE 72, 302 <326>; 122, 248 <277 f.>; 126, 369 <395>; 131, 20 <42>).

Eine gefestigte und langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob sich für Verbandssindyzi eine Nutzungspflicht des ERV aus § 65 d SGG ergibt, existiert aber nicht.

Damit könnte sich ein Wegfall des Hindernisses allenfalls in dem Zeitpunkt feststellen lassen, zu dem das SG mit Hinweisverfügung vom 2. August 2023 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf die vermeintliche Formunwirksamkeit und Unzulässigkeit der Klage hingewiesen hatte. Schon mit Schriftsatz vom 15. August 2023, beim SG eingegangen am 21. August 2023 – und damit binnen eines Monats – hat der SoVD die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und auch erneut die Klage erhoben. Weil dies nunmehr von der Sachbearbeiterin Ass. jur. Lang unterzeichnet gewesen ist, konnten Antrag und Klageerhebung formwirksam auf postalischem Wege erfolgen.   

3. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall gegeben. Das Sozialgericht hat in dem angefochtenen Gerichtsbescheid die Klage aus Zulässigkeitsgründen abgewiesen und in der Sache das Begehren der Klägerin nicht geprüft. Von dem ihm eingeräumten Ermessen macht der Senat im vorliegenden Fall im Sinne der Zurückverweisung Gebrauch. Anderenfalls wäre die im vom Gesetz vorgesehene inhaltliche Prüfung des klägerischen Begehrens in zwei Tatsacheninstanzen nicht gewährleistet. Unter Berücksichtigung der beschleunigten Durchführung des vorliegenden Berufungsverfahrens verletzt die Zurückverweisung auch keine schutzwürdigen Interessen der Klägerin an der Gewährung zeitnahen Rechtsschutzes.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 159 SGG, Rn. 5f).

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.

 

Rechtskraft
Aus
Saved