Die Voraussetzungen für einen Anspruch eines Versicherten auf Medizinal-Cannabis nach § 34 Abs. 6 Satz 1 SGB V bleiben vom Wegfall des Erfordernisses einer vorherigen Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung (§ 45 Abs. 3 der Arzneimittel-Richtlinie) unberührt. Die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aufgestellten Kriterien für eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes (zuletzt Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 24/22 R -, in juris) sind durch das zum 01.04.2024 in Kraft getretene Cannabisgesetz nicht überholt.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 20.03.2023 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit steht die Genehmigung einer Therapie mit Cannabisblüten und die Erstattung hierfür bereits entstandener Kosten.
Der 1981 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter, Differentialdiagnose (DD) bipolare Störung, Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung und Tic-Störung und in der Vorgeschichte an einem Alkohol- und Amphetaminabusus. Nach seinen Angaben ist bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt.
Am 03.12.2020 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Genehmigung einer Therapie mit Cannabisblüten der Sorte Bedrocan in der Dosis 2g/Tag. Dem Antrag war die von P1 ausgestellte Verordnung vom 23.11.2020 sowie der von ihm unter dem 01.12.2020 ausgefüllte Arztfragebogen beigefügt, wonach mit den Cannabisblüten die ADHS therapiert werde solle. Das Behandlungsziel bestehe in einer Verbesserung der Selbststrukturierung, Konzentration und Aufmerksamkeit sowie der Anpassungs- und Integrationsfähigkeit. Unter der Gabe des Arzneimittels Strattera® sei es zu Nebenwirkungen gekommen. Sonstige zugelassene Medikamente seien ohne ausreichenden Effekt oder hätten zu starke Nebenwirkungen. Auch die laufende Psychotherapie habe keine Besserung erbracht.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts bat die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) um eine gutachterliche Stellungnahme. Im Gutachten vom 16.12.2020 gelangte G1 zu dem Ergebnis, dass zwar eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, jedoch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen im Sinne einer Therapiealternative zur Verfügung stünden.
Mit Bescheid vom 21.12.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme seien nicht erfüllt.
Hiergegen legte der Kläger am 14.01.2021 Widerspruch ein. Die Beklagte habe bislang nicht hinreichend seine individuelle Situation und die Erfolge der Cannabistherapie berücksichtigt. Ergänzend legte er ein Attest des P1 vom 10.02.2021 vor.
In dem sodann von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten des MDK vom 07.04.2021 führte L1 aus, dass von einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen sei. Es ergäben sich aus der Literatur aber keine ausreichenden Hinweise darauf, dass Cannabinoide den Verlauf und die Ausprägung einer ADHS spürbar positiv beeinflussen könnten. Allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen stünden zur Verfügung. Zur Arzneimitteltherapie der ADHS seien in Deutschland die Substanzen Atomoxetin, Dexamfetamin, Guanfacin, Lisdexamfetamin und Methylphenidat zugelassen. Hiervon seien Methylphenidat und Atomoxetin zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalters zugelassen. Seit Februar 2019 stehe zusätzlich Lisdexamfetamin zur Verfügung. Die nicht-medikamentösen (störungsspezifische Psychotherapie, teil-/stationäre Therapie, spezifische Rehabilitationsmaßnahme) und medikamentösen Therapiemöglichkelten (z.B. Quetiapin, kombiniert mit einem für ADHS zugelassenen Arzneimittel nach vorsichtiger Dosistitration und unter engmaschigem Monitoring, ggf. unter stationären Bedingungen in der Einstellphase) für die angegebenen Krankheitsentitäten seien nicht erkennbar ausgeschöpft. Die Begründung des behandelnden Vertragsarztes sei nicht nachvollziehbar, weil der Arzt weder auf die Therapiealternativen noch auf die in der S3-Leitlinie zur ADHS von 2017 aufgeführte Negativempfehlung für Cannabinoide bei ADHS eingehe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.05.2021 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Am 28.06.2021 hat der Kläger beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage erhoben und zur Begründung seinen bisherigen Vortrag wiederholt sowie ergänzend vorgetragen, es sei unstreitig, dass bei ihm eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vorliege. Auch führe die Medikation durch Cannabis dazu, dass die Voraussetzung einer spürbar positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. der schwerwiegenden Symptome anzunehmen sei. Es stehe zum einen keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung. Zum anderen könne in dem hier vorliegenden Einzelfall nach den begründeten Einschätzungen der behandelnden Vertragsärzte unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung seines Krankheitszustandes keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Anwendung kommen. P1 stelle in seiner erneuten fachärztlichen Stellungnahme eindrücklich dar, dass in seinen bisherigen Attesten die leitliniengerechte Medikation diskutiert worden sei. Er komme nach wie vor zu dem Ergebnis, dass er auf Methylphenidat mit Magen-Darm-Problemen, Gereiztheit sowie Schlafstörung reagiere. Auf das Medikament Strattera® habe er mit ausgeprägten Potenzstörungen als Nebenwirkungen reagiert. Des Weiteren seien die weiteren seitens der Beklagten vorgeschlagenen leitliniengerechten medikamentösen Therapien unter Berücksichtigung der Komorbiditäten im Vorfeld bei ihm hinlänglich angewendet worden. Auch erschließe sich ein zusätzlicher Effekt einer stationären Einstellungsphase vor diesem Hintergrund nicht. P1 sei auch der Auffassung, dass wegen des nicht unerheblichen Risikos einer Exazerbation der bekannten bipolaren Störung auf den Einsatz von Lisdexamfetamin (Elvanse®) verzichtet werden sollte, insbesondere da alternative, gutverträgliche und nebenwirkungsarme, wenn auch nicht zugelassene, Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Des Weiteren befinde er sich wieder in psychotherapeutischer Behandlung bei dem K1. Dieser komme in seiner erneuten Einschätzung zu dem Ergebnis, dass er (der Kläger) seit Jahren vollständig und stabil abstinent lebe. Er bleibe bei akuter psychosozialer Belastung in dieser Hinsicht stabil. Der Verlauf der Behandlung sei ausgesprochen erfreulich. Er sei selbstsicherer geworden. Es sei eine deutliche Steigerung des Selbstwerterlebens zu verzeichnen; er könne seine Impulsivität sehr viel besser kontrollieren und fände auch in konfliktträchtigen Situationen angemessene Verhaltensantworten. Auch bekomme er Kontrolle über seine Tics. Der K1 schildere, dass er ihn mit und ohne die Medikation mit medizinischem Cannabis erlebt habe. Ohne medikamentöse Unterstützung sei er in seiner motorischen Unruhe bis hinein in sein gestisches und mimisches Ausdrucksverhalten auffällig. Eingeschränkt sei seine Mitteilungsfähigkeit gewesen, es sei ihm nur schwer gelungen, seine Gedanken verständlich auszudrücken, seine verbale Artikulation habe zerhackt gewirkt, Sätze seien nicht beendet worden, passende sprachliche Ausdrücke, Worte hätten sich oft nicht gefunden, in komplexeren grammatikalischen Strukturen habe er sich verheddert. Unter der Medikation existiere ein vollkommen anderes Bild. Denkvorgänge könnten geordnet und komplex verbalisiert werden, es gäbe keine Wortfindungsstörungen, die motorische Unruhe sei reduziert, er besitze Kontrolle über die Tics. Auch am Arbeitsplatz erlebe er deutliche Hilfe im Hinblick auf seine Fehler- und Frustrationstoleranz. Abschließend komme der Psychologe zu dem Ergebnis, dass ohne die Wirkung des medizinischen Cannabis die Psychotherapie nicht in dieser Effizienz durchführbar gewesen sei. Ergänzend hat er das Attest des P1 vom 23.06.2021, die Stellungnahme des K1 vom 15.06.2021 sowie das Attest des E1 vom 17.10.2022 vorgelegt.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Ergänzend hat sie ein weiteres Gutachten des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg (MD) vorgelegt. Im Gutachten vom 12.08.2022 ist L1 zu dem Ergebnis gelangt, dass zwar formal eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes vorliege; die angegebene Begründung, warum die zur Verfügung stehenden, allgemein anerkannten Therapiealternativen nicht zum Einsatz kämen, könne jedoch gutachterlich nicht nachvollzogen werden.
Das SG hat den behandelnden P1 als sachverständigen Zeugen befragt. Dieser hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 15.06.2022 angegeben, dass sich der Kläger seit dem 15.04.2018 in seiner regelmäßigen ambulanten nervenärztlichen Behandlung befinde. Aufgrund der negativen Auswirkungen der ADS-Erkrankung auf die soziale Integrations- und Anpassungsfähigkeit, die Stimmungsinstabilität sowie die intellektuelle und berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers sei von einer schweren Form der Erkrankung auszugehen. Unter verschiedenen, vom Vorbehandler B1 laut Arztbrief vom 23.03.2018 verordneten Medikamenten, insbesondere Medikinet® und Strattera®, habe sich beim Kläger keine Verbesserung der ADS-Symptomatik gezeigt. Auch seien erhebliche Nebenwirkungen verzeichnet worden, u.a. Magen-Darm-Beschwerden, Gereiztheit und Schlafstörungen sowie ausgeprägte Potenzstörungen. Der ebenfalls vom Vorbehandler durchgeführte Therapieversuch mit Carbamazepin habe ebenfalls nicht zur Verbesserung beitragen können. Eine von 2014 bis 2016 durchgeführte psychotherapeutische Behandlung habe nach den Angaben des Klägers nicht zu einer wesentlichen Veränderung der Symptomatik geführt. Aufgrund dieser Tatsache sei auf eine erneute Verordnung von Methylphenidat verzichtet worden. Eine Anwendung des ebenfalls in den Leitlinien empfohlenen Medikaments Lisdexamphetarnin (Elvanse®) sei in Anbetracht eines Amphetaminabusus und einer bipolaren Störung des Klägers in der Vorgeschichte mit einem erheblichen Risiko verbunden gewesen, sodass nach einer vorgenommenen Güterabwägung darauf verzichtet worden sei. Die Verordnung von Cannabis erfolge durchgehend seit Anfang 2019. Seither berichte der Kläger über eine gute Stimmungsstabilisierung sowie eine gute Besserung von Gereiztheit und Aggressivität. Er könne sich besser konzentrieren, sozial deutlich besser anpassen und integrieren, er komme am Arbeitsplatz sowohl mit Mitarbeitern als auch mit Vorgesetzten gut zurecht, und habe zwischenzeitlich auch eine Partnerin gefunden. Nach den leitliniengerechten therapeutischen Möglichkeiten hätten insgesamt keine weiteren Therapieoptionen beim Kläger bestanden.
Mit Urteil vom 20.03.2023 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2021 verurteilt, die Kosten für die Arzneimittelversorgung mit Medizinalcannabis seit Antragstellung zu übernehmen und für die Zukunft die Arzneimittelversorgung mit Medizinalcannabis als Sachleistung zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Bescheid vom 21.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.05.2021 sei rechtswidrig. Der Kläger habe einen Anspruch auf die beantragte Kostenübernahme für eine Arzneimittelversorgung mit Cannabis für die Vergangenheit und die zukünftige Arzneimittelversorgung mit Medizinalcannabis als Sachleistung. Die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 31 Abs. 6 SGB V seien erfüllt. L1 vom MDK habe im Gutachten vom 12.08.2022 festgestellt, dass im vorliegenden Fall der ADHS von einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen sei. Es liege auch eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes vor, warum allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes vorliegend nicht zur Anwendung kommen könnten. In der ärztlichen Einschätzung von P1 vom 01.12.2020, ergänzt durch die sachverständige Zeugenaussage vom 15.06.2022, gehe dieser auf die Behandlungsmöglichkeiten für die ADHS vollständig und nachvollziehbar ein. Insbesondere stünden nach den Angaben von P1 nur drei zugelassene Medikamente bei ADHS im Erwachsenenalter zur Verfügung, von denen der Kläger zwei – bzw. drei wie in der mündlichen Verhandlung angegeben – genommen habe und wegen Nebenwirkungen wieder habe absetzen müssen. Nach Überzeugung der Kammer stünden damit keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen für die Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter mehr zur Verfügung. Selbst L1 gebe im Gutachten vom 22.08.2022 an, dass eine spezifische medikamentöse Therapie der ADHS im Jahr 2017 stattgefunden habe: Medikinet® Adult 20 mg (Verordnung N1 am 10.04.2017, N2 jeweils am 24.04.2017, 25.09.2017 und 30.10.2027), Medikinet® Retard 10 mg (Verordnung N2 am 25.09.2017 und 30.10.2017), Ritalin® Adult 20 mg (Verordnung N2 21.07.2017), Strattera® 40 mg (Verordnung N3 am 15.05.2017) und Strattera® 100 mg (keine Angabe zur Menge, Verordnung am 16.06.2017). Die sich daraus ergebenden Nebenwirkungen sowie das erhebliche Risiko der Einnahme des ebenfalls in den Leitlinien empfohlenen Medikaments Lisdexamfetamin (Elvanse®) in Anbetracht eines Amphetaminabusus und einer bipolaren Störung des Klägers in der Vorgeschichte beschreibe der Vertragsarzt. Damit habe P1 die mit Cannabis zu behandelnde Erkrankung und das Behandlungsziel benannt, die für die Abwägung der Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien mit der Anwendung von Cannabis erforderlichen Tatsachen vollständig dargelegt und eine Abwägung unter Einschluss möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis vorgenommen. Das Gericht habe keine völlige Unplausibilität der vertragsärztlichen Einschätzung finden können. Die Beklagte hingegen vermenge weitere Erkrankungen des Klägers und deren Behandlungsmöglichkeiten mit der streitgegenständlichen Behandlung und sei daher zu einem anderen Ergebnis gekommen, welches jedoch bei stringenter Prüfung so nicht zu halten sei.
Gegen das ihr am 13.06.2023 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15.06.2023 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Sie macht geltend, sämtliche verfügbare Standardtherapien, die für ADHS im Erwachsenenalter zur Verfügung stünden, müssten entweder durch den Vertragsarzt bereits erfolglos angewendet worden sein oder in die Abwägung einbezogen werden. Auf der Grundlage der dargelegten Tatsachen sei die Abwägung der Nebenwirkungen der noch verfügbaren Standardtherapien mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis vorzunehmen. Diesen Anforderungen genüge die vertragsärztliche Einschätzung von P1 nicht, auch nicht in Zusammenschau mit den bis zuletzt eingereichten Ergänzungen und Angaben als sachverständiger Zeuge. P1 berichte nur pauschal von Nebenwirkungen, ohne anzugeben, ob diese das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichten. Somit sei auch nicht nachvollziehbar, dass der Kläger durch die angegebene Symptomatik schwerwiegend in seiner Tagesstruktur oder Lebensführung beeinträchtigt sei. Ebenfalls fehle weiterhin eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Kontraindikationen unter Berücksichtigung der weiteren Erkrankungen des Klägers. Bei Recherche im Internet und nach Rückmeldungen des MD würden in sämtlichen Beiträgen zu ADHS und Cannabis keinerlei Erwähnung oder Empfehlung für Cannabinoide gefunden. Damit könne sich aus Sicht der Beklagten keine nicht ganz entfernt liegende Aussicht darauf ergeben, dass Cannabinoide den Krankheitsverlauf bzw. die Symptomatik bei ADHS spürbar positiv beeinflussen könnten. Jedenfalls könne die rückwirkende Verurteilung zur Kostenübernahme nicht rechtens sein, was sich schon an den weiteren Ermittlungen im gerichtlichen Verfahren zeige. Die Beklagte habe überdies festgestellt, dass der Kläger seit September 2022 von P1 Elvanse® verordnet bekomme. Dies widerspreche der früheren Einschätzung von P1, dass mit dem Arzneimittel Elvanse® (adult) keine weitere vertragliche Alternative zur Verfügung stehe. Soweit im Klageverfahren erstmals ein Befundbericht eines Schmerztherapeuten eingereicht worden sei, der zum ersten Mal über eine im März 2022 begonnene Schmerztherapie berichte, erscheine dies konstruiert und das Vorliegen eines chronischen Schmerzsyndroms unglaubwürdig.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 20.03.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2021 zu verpflichten, die Genehmigung zur Versorgung mit Cannabisblüten der Sorte Bedrocan in der Dosis 2g/Tag zu erteilen, und die zur Erstattung der dem Kläger im Zeitraum 01.01.2021 bis 31.10.2023 in Höhe von 15.817,52 € sowie vom 24.11.2023 bis 19.02.2025 in Höhe von 11.175,00 € entstandenen Kosten für Medizinal-Cannabis zu verurteilen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ergänzend führt er aus, die von P1 vorgenommene Abwägung dürfe nur darauf überprüft werden, ob sie völlig unplausibel sei. Dies sei nicht der Fall. P1 habe umfassend zu den Nebenwirkungen ausgeführt. Bei Aufnahme der Therapie mit Medizinal-Cannabis sei es zu einer raschen Besserung seines Gesundheitszustandes gekommen. Zwischenzeitlich sei es ihm sogar möglich gewesen, berufsbegleitend eine Ausbildung zur Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung zu absolvieren und diese als geprüfte Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung erfolgreich abzuschließen. Das Medikament Elvanse® habe er ab September 2022 verordnet bekommen und auch zunächst ohne zusätzliche Einnahme von Cannabis getestet. Dabei sei es zu Schlafstörungen und Appetitlosigkeit gekommen. Es habe zudem nur eine begrenzte Wirkdauer, sodass es vor allem gegen Nachmittag und Abend vermehrt zu Konzentrationsstörungen und Einschlafstörungen gekommen sei. Die Therapie mit diesem Medikament sei in der Folge wieder beendet worden. Ergänzend hat er das Attest von P1 vom 19.02.2025 vorgelegt.
Am 09.10.2023 hat der frühere Berichterstatter die Rechts- und Sachlage mit den Beteiligten erörtert.
Der Senat hat ergänzend P1 schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt. P1 hat unter dem 13.02.2024 ausgesagt, die Behandlung mit Elvanse® in der Dosis 50 mg habe ab 22.09.2022 stattgefunden und sei am 19.10.2023 wegen Nebenwirkungen und unzureichender Wirkung beendet worden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
I. Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist statthaft und zulässig.
II. Die Berufung ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht der Klage stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten vom 21.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat weder einen Anspruch auf Genehmigung der Versorgung mit Cannabisblüten (dazu unter 1.) noch einen Anspruch auf Erstattung der ihm für die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten (dazu unter 2.).
1. Rechtsgrundlage für die begehrte Genehmigung der Versorgung mit Cannabisblüten ist § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V (eingefügt m.W.v. 10.03.2017 durch das Gesetz zur Änderung betäubungsrechtlicher und anderer Vorschriften vom 06.03.2017, BGBl I S. 403; hier in der Fassung des Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 23.05.2020, BGBl. I Nr. 23 S. 1018). Danach haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon, wenn sie an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden, (1.) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung (a) nicht zur Verfügung steht oder (b) im Einzelfall nach einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und (2.) eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegenden Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (Satz 2). Eine Änderung dieser Voraussetzungen ergibt sich nicht aus der auf Grundlage des § 31 Abs. 7 SGB V mit Wirkung zum 17.10.2024 in Kraft getretenen Änderung des § 45 der Arzneimittel-Richtlinie, wonach Leistungen, die auf Grundlage einer Verordnung eines in der Anlage aufgeführten Vertragsarztes (u. a. Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie) zu erbringen sind, keiner Genehmigung mehr durch die Krankenkasse bedürfen. Es ist ausdrücklich klargestellt (s. § 45 Abs. 3 Satz 3 der Arzneimittel-Richtlinie), dass die Verordnungsvoraussetzungen hiervon unberührt bleiben. Die Krankenkasse entscheidet nach wie vor über Anträge auf Genehmigung unabhängig vom Wegfall des Genehmigungserfordernisses, insbesondere bei Unklarheit über die Verordnungsvoraussetzungen (s. § 45 Abs. 4 Satz 3 der Arzneimittel-Richtlinie).
Unter Anwendung dieser Norm steht dem Kläger die Genehmigung der begehrten Versorgung mit Cannabisblüten nicht zu. Er leidet zwar unstreitig unter einer schwerwiegenden Erkrankung (dazu unter a). Es stehen zur Behandlung dieser Erkrankung aber allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung, die auch im vorliegenden Einzelfall zur Anwendung kommen können (dazu unter b). Deshalb ist Voraussetzung für den Genehmigungsanspruch, dass eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes vorliegt, die die hierfür von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien erfüllt; dies ist vorliegend nicht der Fall (dazu unter c). Offenbleiben kann, ob die Behandlung der Erkrankung des Klägers mit Cannabisblüten eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome verspricht (dazu unter d).
a) Unstreitig leidet der Kläger an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 SGB V. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (BSG, Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 24/22 R -; BSG, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R -; BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -; alle in juris). Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich nicht aus der gestellten Diagnose, sondern aus den konkreten Auswirkungen der Erkrankung; diese müssen den Betroffenen überdurchschnittlich schwer beeinträchtigen, wofür die Grad der Schädigungsfolgen(GdS)-Tabelle aus Teil B der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Anhaltspunkt dienen kann (BSG, Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 24/22 R -; BSG, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R -; BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -; alle in juris). ADHS ist gekennzeichnet durch Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und vermehrte Impulsivität, wobei die einzelnen Komponenten unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Mit zunehmender Schwere der Symptomatik treten auch Störungen des Sozialverhaltens auf. Beeinträchtigt werden u.a. die Leistungsfähigkeit in Schule, Ausbildung und Beruf, sowie die soziale Situation. Das Risiko für begleitende bzw. Folge-Erkrankungen wie Depression, Suchtverhalten u.a. ist deutlich erhöht. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des MD vom 12.08.2022. Ob ADHS eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 31 Abs. 6 SGB V ist, hängt dabei u.a. von der Schwere der dadurch verursachten sozialen Anpassungsschwierigkeiten ab; diese liegen nach der Definition in der Anlage zu § 2 VersMedV vor, wenn die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt, in das öffentliche Leben und das häusliche Leben nicht ohne besondere Förderung und Unterstützung gegeben ist (BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -, in juris). Unter Zugrundlegung der Angaben des sachverständigen Zeugen P1, wonach die ADHS-Erkrankung beim Kläger Auswirkungen auf seine soziale Integrations- und Anpassungsfähigkeit, die Stimmungsinstabilität sowie die intellektuelle und berufliche Leistungsfähigkeit hat, ist vorliegend in Übereinstimmung mit der Einschätzung der MD-Gutachter G1 und L1 von einer schweren ADHS und damit von einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V auszugehen. Hierfür spricht auch der beim Kläger festgestellte GdB von 50.
Ob weitere Erkrankungen beim Kläger bestehen, die als schwerwiegend im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V einzustufen sind, kann offenbleiben. Denn mit der begehrten Cannabisblütentherapie soll nach den Angaben des verordnenden Vertragsarztes P1 im Arztfragebogen vom 01.12.2020 ausschließlich die ADHS behandelt werden.
b) Zur Behandlung von ADHS stehen zur Überzeugung des Senats allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung, die auch im vorliegenden Einzelfall zur Anwendung kommen können.
Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst a SGB V), wenn es sie generell nicht gibt, sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (BSG, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R -; BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -; beide in juris). Ob es zur Behandlung der Erkrankung und zur Erreichung des angestrebten Behandlungsziels eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Therapie überhaupt gibt, bestimmt sich nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin (BSG, Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 24/22 R -; BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -; beide in juris). Gibt es danach eine Standardtherapie, scheidet sie aus, wenn die Therapie bereits zu schwerwiegenden Nebenwirkungen im Sinne des Art. 1 Nr. 12 RL 2001/83/EG (Richtlinie zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel) geführt hat oder ein erhebliches Risiko solcher Nebenwirkungen im Fall des Patienten besteht (BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -, in juris). Danach ist eine schwerwiegende Nebenwirkung eine Nebenwirkung, die tödlich oder lebensbedrohend ist, eine stationäre Behandlung oder Verlängerung einer stationären Behandlung erforderlich macht, zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung oder Invalidität führt oder eine kongenitale Anomalie bzw. ein Geburtsfehler ist.
Derart schwerwiegende Nebenwirkungen unter Anwendung der Standardtherapie zur Behandlung von ADHS sind vorliegend nicht dokumentiert. Zur Beurteilung des medizinischen Standards bei der Behandlung von ADHS ist die von den Gutachtern des MD angeführte S3-Leitlinie „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen" von 2018 heranzuziehen, die nach wie vor Gültigkeit beansprucht, auch wenn sie derzeit in Überarbeitung ist (geplante Fertigstellung Jan. 2026; Quelle: Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung, www.dptv.de). Darin werden als mögliche Optionen zur Pharmakotherapie der ADHS Stimulantien (Methylphenidat, Amfetamin, Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin unter Beachtung des jeweiligen Zulassungsstatus genannt. Hiervon sind Methylphenidat (z.B. Medikinet adult®, Ritalin®) und Atomoxetin (z.B. Strattera®) zur Behandlung des ADHS im Erwachsenenalter zugelassen. Seit Februar 2019 steht zusätzlich Lisdexamfetamin (Elvanse Adult®) zur Verfügung. Laut der vom MD ausgewerteten Leistungsübersicht der Krankenkasse sind für den Kläger seit 2016 Verordnungen von Fluoxetin (Antidepressiva), Methylphenidat (Medikinet adult®, Ritalin®), Atomoxetin (Strattera®) und Tiaprid (Neuroleptika) ausgestellt worden, wobei die ADHS-spezifischen Verordnungen alle im Zeitraum von April bis Oktober 2017 erfolgten. Elvanse® nahm der Kläger auf Verordnung von P1 in der Zeit vom 22.09.2022 bis 19.10.2023 ein. Damit kamen im Ergebnis alle für Erwachsene zugelassene ADHS-Medikamente zum Einsatz, wobei allerdings die genaue Behandlungsdauer und jeweilige Dosis nicht vollständig dokumentiert sind. Als Nebenwirkungen wurden vom Kläger bei der Einnahme von Medikinet® und Strattera® Magen-Darm-Beschwerden, Gereiztheit, Schlafstörungen und ausgeprägte Potenzstörung angegeben. Zu Elvanse® hat P1 mitgeteilt, dass der Kläger über Mundtrockenheit, Ein- und Durchschlafstörungen und eine erhebliche Appetitminderung bei einem BMI von 19,5 geklagt habe. Insgesamt ergeben sich hieraus keine lebensbedrohlichen oder eine stationäre Behandlung erfordernde Nebenwirkungen, zumal für sämtliche beim Kläger aufgetretenen Symptome Behandlungsmöglichkeiten offenstehen. Mit dem Arzneimittel Elvanse® konnte zudem – wenn auch zeitlich begrenzt – eine Besserung der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit sowie auch der Selbststrukturierungsfähigkeit erzielt werden, wie P1 mitgeteilt hat. Der Senat ist auch nicht davon überzeugt, dass sich die Anwendung des Medikaments Elvanse® wegen einer Kontraindikation verbietet. Die von P1 in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 15.06.2022 angegebene Diagnose einer bipolaren Störung ergibt sich nicht aus den Akten. Die Erkrankung wird lediglich als Differenzialdiagnose aufgeführt. Hiervon geht zuletzt offenbar auch P1 aus, nachdem er in seiner ergänzenden Aussage vom 13.02.2024 keine Bedenken mehr hinsichtlich einer Kontraindikation äußert. Im Übrigen wäre eine bipolare Störung keine absolute Kontraindikation für die Anwendung von Elvanse®; aus der von der Beklagten vorgelegten Fachinformation ergibt sich lediglich, dass besondere Vorsicht geboten sei, weshalb laut MD im Gutachten vom 16.12.2020 die Dosistitration unter (teil)stationären Bedingungen zu erwägen sei.
Neben einer medikamentösen Standardtherapie der ADHS bei Erwachsenen stehen darüber hinaus nicht medikamentöse Therapien zur Verfügung. Hierzu gehören nach der o.g. S3-Leitinie eine störungsspezifische Psychotherapie, eine (teil)stationäre Therapie sowie eine spezifische Rehabilitationsmaßnahme. Hierauf verweist der MD in seinem Gutachten vom 07.04.2021. Eine Psychotherapie hat zwar bereits von 2014 bis 2016 stattgefunden und wird auch seit September 2019 in Form einer störungsspezifischen ambulanten Verhaltenstherapie durchgeführt (s. Arztbrief des K1 vom 15.06.2021). Eine (teil)stationäre Therapie sowie eine spezifische Rehabilitationsmaßnahme stünden dagegen noch zur Verfügung.
c) In Fällen, in denen – wie hier – für die Behandlung Standardtherapien zur Verfügung stehen, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Methoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes dennoch nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu (BSG, Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 24/22 R -; BSG, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R -; BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -; alle in juris). An die begründete Einschätzung sind aber wegen der Bestimmungen des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz - BtMG), der Vorgaben des Arzthaftungsrechts für die Behandlung mit einer (noch) nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode sowie aus Gründen des Patientenschutzes hohe Anforderungen zu stellen. Deshalb muss die begründete Einschätzung des Vertragsarztes die bestehenden Erkrankungen und bisher angewandten Behandlungskonzepte sowie das mit der Cannabis-Behandlung angestrebte Behandlungsziel benennen, die für die Abwägung der Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien mit der Anwendung von Cannabis erforderlichen Tatsachen vollständig darlegen und eine Abwägung unter Einschluss möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis erkennen lassen. Sind diese Anforderungen spätestens zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz erfüllt, ist eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses nur auf völlige Unplausibilität zulässig (BSG, Urteil vom 20.03.2024 - B 1 KR 24/22 R -; BSG, Urteil vom 29.08.2023 - B 1 KR 26/22 R -; BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -; alle in juris).
Die Voraussetzungen einer begründeten Einschätzung sind auch nicht durch das zum 01.04.2024 in Kraft getretene Cannabisgesetz (CanG) vom 27.03.2024 (BGBl. I, Nr. 109, S. 1 ff) überholt. Mit Inkrafttreten des CanG sind Cannabis und Dronabinol – anders als Nabilon – keine Betäubungsmittel mehr. Die entsprechenden Positionen wurden aus der Anlage III des BtMG gestrichen (Art. 3 Nr. 8 CanG, BGBl. I Nr. 109, S. 42). Dadurch unterfallen die gestrichenen Mittel weder § 13 Abs. 3 Satz 1 BtMG noch der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV). Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass die strengen Anforderungen an die begründete Einschätzung des Vertragsarztes abgesenkt oder modifiziert werden müssten. Der Einführung des CanG liegt eine neue Risikobewertung durch den Gesetzgeber zugrunde (vgl. BT-Drs. 20/8704, 68, 74, 93, 108). Allerdings hat der Gesetzgeber den Tatbestand des § 31 Abs. 6 SGB V nicht geändert, so dass seine Risikobewertung im Hinblick auf die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter mit Cannabis unverändert geblieben ist (vgl. hierzu: Müller-Götzmann, in: BeckOGK, SGB V, Stand: 15.11.2024, § 31 Rn. 144ff). Der Gesetzgeber hält ausdrücklich fest, dass die Regelungen im SGB V, die den Versicherten unter den dort genannten Voraussetzungen einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln geben, unverändert blieben (BT-Drs. 20/8704, 2f, 74; BT-Drs. 367/23, S. 2, 79). Für dieses Ergebnis spricht auch, dass das BSG im Rahmen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst b SGB V unter anderem Bezug nimmt auf die Anforderungen des Betäubungsmittelrechts und der Gesetzgeber sich bei der Bewertung von Cannabis zu medizinischen Zwecken weiterhin an den Regelungen des BtMG orientiert (vgl. BT-Drs. 20/8704, 151). Selbst wenn man die betäubungsmittelrechtliche Argumentation des BSG für überholt hielte, sind die strengen Anforderungen des BSG auf die weiteren Begründungselemente zu stützen, namentlich die fehlende Evidenz zur Wirksamkeit der Therapie und die Gründe des Patientenschutzes (Müller-Götzmann, a.a.O., Rn. 147; so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.11.2024 - L 11 KR 393/22 -, in juris Rn. 59).
Eine den genannten Anforderungen genügende begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes liegt für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht vor. P1 hat im Arztfragebogen vom 01.12.2020, ergänzt um die Atteste vom 10.02.2021, 23.06.2021 und 19.02.2025 sowie die Aussagen als sachverständiger Zeuge vom 15.06.2022 und 13.02.2024, zwar im Ergebnis alle medikamentösen Standardtherapien abgehandelt. Detaillierte Angaben über welche konkreten Zeiträume in welcher Dosierung jedes der Medikamente eingenommen wurde und welches konkrete Ausmaß die jeweils vom Kläger angegebenen Nebenwirkungen hatten und wie diese behandelt wurden, hat er dagegen nicht gemacht. Auch mit den nichtmedikamentösen Therapieoptionen befasst er sich nicht. Insbesondere aber fehlt eine Abwägung der Nebenwirkungen der Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis, wobei in die Abwägung nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen, einfließen dürfen. Mit den möglichen Gefahren der Cannabisblütentherapie setzt sich P1 in seinen Stellungnahmen überhaupt nicht auseinander, obwohl sich dies angesichts des Substanz- und Alkoholmissbrauchs des Klägers in der Vergangenheit besonders aufgedrängt hätte.
d) Ob der Anspruch darüber hinaus auch an § 30 Abs. 6 Satz 1 Ziffer 2 SGB V scheitert, weil es an einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome fehlt, kann vorliegend dahinstehen. Nach der o.g. zitierten S3-Leitlinie zur Behandlung des ADHS soll Cannabis für die Behandlung der ADHS nicht eingesetzt werden (vgl. Seite 77 unter Ziffer 1.4.5.8.). Bestätigt wird dies von der Einschätzung der Leitungsgruppe des zentralen ADHS-Netzes auf Grundlage eines groß angelegten, systematischen Reviews des Jahres 2019, wonach nach aktuellem Kenntnisstand die gesundheitlichen Risiken den Nutzen von Cannabinoiden in der ADHS-Therapie „eindeutig“ überwögen (https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215-0366(19)30401-8/fulltext). Auf beide Fundstellen verweist der MD in seinem Gutachten vom 12.08.2022 und verneint damit das Vorliegen einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung. Ob dies noch dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entspricht und vor dem Hintergrund der vom BSG zur Feststellung der Erfolgsaussicht aufgestellten Kriterien, wonach an die Prognose keine hohen Anforderungen zu stellen sind und Unterlagen und Nachweise der Evidenzstufe IV und V genügen (s. BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 1 KR 28/21 R -, in juris, Rn. 40 ff.), haltbar ist, kann vorliegend offenbleiben, weil ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis aus den oben dargelegten Gründen unabhängig von der Wirksamkeit ohnehin nicht besteht (so ebenso LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.03.2022 - L 11 KR 3804/21 -, in juris).
2. Mangels Anspruchs auf Versorgung mit Cannabisblüten scheidet auch eine Kostenerstattung für bereits entstandene Kosten gemäß § 13 SGB V aus. Der Kläger hat weder Kostenerstattung gewählt (§ 13 Abs. 2 SGB V), noch hat die Beklagte eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt (§ 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V). Schließlich scheidet ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V aus, da eine Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) nicht eingetreten ist. Die Beklagte hat den Antrag des Klägers vom 03.12.2020 rechtzeitig innerhalb der Dreiwochenfrist mit Bescheid vom 21.12.2020 verbeschieden.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
IV. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).