L 2 SO 3054/24

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SO 663/23
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 3054/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 25. Juli 2024 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Der endgültige Streitwert wird auf 27.791,51 € festgesetzt.



Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Erstattung der H1 (H.) im Zeitraum vom 21. Mai 2021 bis 30. Juni 2022 nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) gewährten Leistungen in Höhe von 27.791,51 €.

Die 1967 geborene und 2022 verstorbene H. hatte zunächst ihren Wohnsitz im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten.

2011 zog sie in den Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1, eine Gemeinde im Landkreis R1-Kreis. Die Beklagte erbrachte H. Leistungen bis zum 21. Mai 2021 (Bescheid vom 15. Juni 2021). Aufgrund einer fortschreitenden Demenz und Weglauftendenz der H. wurde sie zum 21. Mai 2021 im Seniorenheim Haus R2 in N1 - eine ebenfalls im R1-Kreis liegende Gemeinde - aufgenommen.

Durch Bescheid vom 26. August 2021 bewilligte der Kläger H. für den Zeitraum vom 21. Mai 2021 bis längstens zum 31. Dezember 2021 vorläufig Leistungen für pflegebedürftige Menschen in Einrichtungen nach dem Siebten Kapitel des SGB XII. Zur Begründung der Vorläufigkeit führte er aus, als Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich H. tatsächlich aufhalte, sei er verpflichtet, über die Leistungsgewährung unverzüglich zu entscheiden und Leistungen vorläufig zu gewähren. Es handele sich um einen Eilfall; die Einrichtung könne nicht auf die Vergütung warten.

Mit Schreiben vom 31. August 2021 machte der Kläger gegenüber der Beklagten die Kostenerstattung geltend. H. erhalte seit dem 21. Mai 2021 vorläufig Leistungen nach dem SGB XII in Form der Übernahme der Kosten des Pflegeheimes. Sie sei von der elterlichen Wohnung in H2 in die Lebenshilfe in S1 (Einrichtung der Eingliederungshilfe) gezogen. Von der Beklagten seien die diesbezüglichen Kosten übernommen worden. Da diese besondere Wohnform aus einer stationären Einrichtung hervorgegangen sei, könnte beim Übergang in die jetzige Einrichtung eine Heimkette im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII vorliegen. Es werde deshalb Kostenerstattung ab dem 21.  Mai 2021 und Fallübernahme ab dem 1. Oktober 2021 begehrt.

Für den Zeitraum vom 1. August bis zum 31. Dezember 2021 setzte der Kläger gegenüber H. die bewilligten Leistungen neu fest; die Leistungserbringung erfolgte auch weiterhin vorläufig (Bescheid vom 2. Dezember 2021).

Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 14. Dezember 2021 die Kostenerstattung ab. Die Auffassung des Klägers hinsichtlich der sozialhilferechtlichen Wertung der besonderen Wohnform als stationäre Einrichtung werde nicht geteilt. Nach § 98 Abs. 2 SGB XII sei somit der Kläger für die Leistungsgewährung ab dem 21. Mai 2021 örtlich zuständig.

Für den Zeitraum vom 1. Januar bis längstens 30. Juni 2022 bewilligte der Kläger H. wiederum vorläufig Leistungen für pflegebedürftige Menschen in Einrichtungen nach dem SGB XII (Bescheid vom 11. Januar 2022).

Am 5. April 2023 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Mannheim Klage erhoben. Zur Klagebegründung hat er ausgeführt, er habe der Leistungsempfängerin lediglich vorläufig Leistungen bewilligt. Die Beklagte sei jedoch örtlich und sachlich zuständig, womit ihm ein Kostenerstattungsanspruch zustehe. Die Voraussetzungen des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII lägen vor. Aufgrund des Umzugs der Leistungsempfängerin im Jahre 2011 in den Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1, einer besonderen Wohnform, sei kein Wechsel in der örtlichen Zuständigkeit erfolgt. Nach dem weiteren Umzug in das Seniorenheim Haus R2 in N1 sei eine sogenannte „Heimkette“ im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII entstanden, womit die Beklagte auch weiterhin örtlich zuständig sei. Für das Vorliegen einer entsprechenden Heimkette spreche auch die bis zum 31. Dezember 2021 geltende Vereinbarung zum Herkunftsprinzip. Diese sei zwar gekündigt worden, jedoch mit der Maßgabe, dass sie auf Leistungen, die vor dem 1. Januar 2022 begonnen hätten, anwendbar bleibe.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Ein Kostenerstattungsanspruch bestehe nicht, da sie mangels einer Heimkette nicht nach § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII örtlich zuständig sei. Der Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1, in dem die Leistungsempfängerin zuvor gelebt habe, sei eine besondere Wohnform und keine Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII.

Mit Urteil vom 25. Juli 2024 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten. Eine (fortbestehende) Zuständigkeit der Beklagten ergebe sich nicht aus § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII. Nach § 98 Abs.1 Satz 1 SGB XII sei für die Sozialhilfe örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhielten. Für die stationäre Leistung sei nach § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung hätten oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hätten. Wären bei Einsetzen der Sozialhilfe die Leistungsberechtigten aus einer Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII in eine andere Einrichtung oder von dort in weitere Einrichtungen übergetreten oder trete nach dem Einsetzen der Leistung ein solcher Fall ein, sei der gewöhnliche Aufenthalt, der für die erste Einrichtung maßgebend gewesen sei, entscheidend. Örtlich zuständig für die Leistungen nach dem SGB XII an Personen, die Leistungen nach dem Siebten und Achten Kapitel des SGB XII in Form ambulant betreuter Möglichkeiten erhielten, sei nach § 98 Abs. 5 Satz 1 SGB XII der Träger der Sozialhilfe, der vor Eintritt in diese Wohnform zuletzt zuständig gewesen sei oder gewesen wäre. Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben habe die Beklagte zu Recht die Erstattung von Leistungen der Sozialhilfe, die der Kläger H. im Zeitraum vom 21. Mai 2021 bis 30. Juni 2022 in Höhe von 27.791,51 € gewährt habe, abgelehnt. In diesem Zeitraum sei nicht sie, sondern der Kläger für die Leistungserbringung örtlich zuständig gewesen. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten ergebe sich insbesondere nicht aus einer sogenannten „Heimkette“ nach § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII. H. habe sich vor ihrer Aufnahme am 21. Mai 2021 im Seniorenheim Haus R2 N1 nicht in einer Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII befunden. Der Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1 sei keine solche Einrichtung, sondern eine ambulant betreute Wohnform, wie auch der Beklagte in seiner Klageschrift ausgeführt habe. Bereits nach seinem Wortlaut sei aber § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII auf einen Wechsel zwischen ambulant betreutem Wohnen und einer stationären Einrichtung (sogenannte gemischte Kette) nicht anwendbar. § 98 SGB XII unterscheide schon tatbestandlich zwischen der Zuständigkeit in Fällen stationärer Unterbringung und in Fällen ambulant betreuten Wohnens.
Auch eine analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII komme auf Fallgestaltungen wie die vorliegende nicht in Betracht. Es fehle an einer, für eine analoge Anwendung aber notwendigen planwidrigen Regelungslücke. Die interne Normsystematik des § 98 SGB XII wie die Systematik dieser Vorschrift im Gesamtgefüge des SGB XII sprächen gegen ein gesetzgeberisches Versehen. Gegen das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke spreche zudem die Gesetzeshistorie. Der Gesetzesbegründung lasse sich ein umfassender Schutz des Einrichtungsortes in jeder denkbaren Konstellation nicht entnehmen. Dass sich hinter der Einführung des § 98 Abs. 5 SGB XII ein umfassender Schutz der Einrichtungsorte verberge und der Gesetzgeber den Zuständigkeitswechsel bei sogenannten „gemischten Ketten“ übersehen habe, sei nicht erkennbar. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der vom Kläger genannten (bis zum 31. Dezember 2021 geltenden) „Vereinbarung zum Herkunftsprinzip“ der Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg. Denn von bundesgesetzlich vorgegebenen Zuständigkeitsregelungen seien abweichende Absprachen durch koordinationsrechtliche Verträge nicht möglich.

Der Kläger hat gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 26. September 2024 zugestellte Urteil am 21. Oktober 2024 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung erhoben. Zur Begründung trägt er vor, dass es im Wesentlichen um die Frage der örtlichen Zuständigkeit des Klägers oder der Beklagten in Bezug auf die Übernahme von Heimkosten gehe, die durch die Pflege der H. in der Zeit vom 21. Mai 2021 bis 30. Juni 2022 entstanden seien. Das SG gehe zu Unrecht davon aus, dass der Kläger statt der Beklagten zuständiger Kostenträger nach § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sei. Nach § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII richte sich die Zuständigkeit des jeweiligen Trägers der Sozialhilfe für stationäre Leistungen - wie vorliegend - nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Leistungsberechtigten im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung. Lägen ein oder mehrere nahtlose Übertritte von einer Einrichtung in eine andere vor (Einrichtungskette), sei entscheidend für die Zuständigkeit der gewöhnliche Aufenthalt vor dem ersten Eintritt in die Einrichtung. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten und somit der Kostenerstattungsanspruch des Klägers ergäbe sich hier unter der Annahme eines nahtlosen Einrichtungswechsels. Entgegen der Auffassung der Beklagten stelle die Versorgung in der besonderen Wohnform Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. eine Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII dar. Gemäß § 98 Abs. 2 Satz2 SGB XII sei daher der gewöhnliche Aufenthalt, der für die erste Einrichtung maßgeblich gewesen sei, heranzuziehen. Dies sei im vorliegenden Fall die elterliche Wohnung der H. in H3. Dementsprechend sei die Beklagte gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII die örtlich zuständige Sozialleistungsträgerin. Das SG setze sich in seiner Entscheidung schon nicht mit der hier maßgeblichen Frage zur örtlichen Zuständigkeit bei einem Wechsel aus der besonderen Wohnform (Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX -) in eine Pflegeeinrichtung (SGB XII) auseinander. Es fehlten seitens des SG Ausführungen zur Subsumtion oder die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für das Vorliegen einer stationären Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII. Das SG übergehe die von Kläger- und Beklagtenseite aufgeworfene Frage, ob eine besondere Wohnform wie die Lebenshilfe als stationäre Einrichtung im Sinne von § 98 SGB XII einzuordnen sei und beschäftige sich stattdessen mit der hier nicht relevanten und im Übrigen bereits höchstrichterlich geklärten Frage einer analogen Anwendbarkeit des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII auf den Übertritt von betreutem Wohnen im Sinne des § 98 Abs. 5 und stationären Einrichtungen (gemischte Kette). Der Kläger bleibe dabei, dass die begrifflichen Neuerungen durch das Bundesteilhabegesetz und die damit einhergehende Systemumstellung zum 1. Januar 2020 keine Auswirkungen auf die Frage der örtlichen Zuständigkeit im Rahmen des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII haben könne. Es handele sich beim Übergang von einer besonderen Wohnform in eine staatliche Pflegeeinrichtung um eine Heimkette, da die besondere Wohnform aus einer Einrichtung der Eingliederungshilfe hervorgegangen sei. Der Charakter sei somit auch nach Umwandlung in eine besondere Wohnform der gleiche geblieben. Mit Inkrafttreten der dritten Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) gebe es in der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX die Unterscheidung in ambulante, teilstationäre und stationäre Leistungen für Menschen mit Behinderungen nicht mehr. Stattdessen gebe es als leistungsrechtliche Nachfolgeregelung der stationären Einrichtung die sogenannte besondere Wohnform (§ 42a Abs. 2 SGB XII). Der Wohnverbund der Lebenshilfe S1 stelle eine besondere Wohnform in diesem Sinne dar, da es keine Wohnung im Sinne des § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB XII sei und innerhalb des Wohnverbundes zur Erbringung von Leistungen nach Teil 2 des SGB IX ein persönlicher Wohnraum und ein zusätzlicher Wohnraum zur gemeinschaftlichen Nutzung zu Wohnzwecken überlassen würden. Im Wohnverbund der Lebenshilfe S1 befänden sich die Bewohner in ständiger Begleitung durch pädagogisch-pflegerische Fach- und Hilfskräfte. Es sei Tag und Nacht ein entsprechender Mitarbeiter vor Ort. Der Bewohner sei Teil der Bewohnerschaft, einer Einrichtung der Eingliederungshilfe. In dieser Einrichtung wohnten weitere Bewohner mit individuellen Hilfebedarfen. Die Einrichtung biete u.a. folgende Leistungen: Unterkunft und Verpflegung, die im individuellen Leistungsangebot vereinbarten Leistungen der individuellen Basisversorgung, der alltäglichen Lebensführung, der Gestaltung sozialer Beziehungen, der Freizeitgestaltung, der Kommunikation sowie psychische und medizinische Hilfestellungen. Damit erfülle der Wohnverbund der Lebenshilfe Sandhausen alle Anforderungen an eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII. Entgegen der Auffassung der Beklagten lasse sich aus den Willen des Gesetzgebers, die frühere Charakterisierung von Leistungen in ambulante, teilstationäre und stationäre Maßnahmen der Eingliederungshilfe aufzuheben, keine Rückschlüsse auf eine entsprechend bezweckte Änderung der örtlichen Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers im Rahmen des § 98 SGB XII bzw. der Kostenträgerschaft gemäß § 106 SGB XII ziehen. Es könne bei der Beurteilung der Frage, ob eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 SGB XII vorliege, nur auf die tatsächlichen Gegebenheiten und nicht auf bloße Begrifflichkeiten ankommen. Auch erfolge durch die begriffliche Ablösung der stationären Einrichtung durch die besondere Wohnform zum 1. Januar 2020 keine Unterbrechung der Einrichtungskette. Voraussetzung für die Annahme einer Einrichtungskette im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII sei lediglich, dass der Übertritt in die andere Einrichtung in einem engen zeitlichen Zusammenhangmit dem Aufenthalt in der vorherigen Einrichtung erfolge. Es komme also nur darauf an, ob der Einrichtungswechsel ohne erhebliche zeitliche Unterbrechung erfolge. Die infolge der Systemumstellung zum 1. Januar 2020 erfolgte Ablösung der stationären Einrichtung durch die besondere Wohnform dürfte dabei für die Beurteilung einer ununterbrochenen Heimkette unschädlich sein. Wenn die Beklagte für ihre Auffassung Bezug nehme auf den Inhalt der Drucksache 20/8344 des Deutschen Bundestages vom 13. September 2023, sei anzumerken, dass dort in der Begründung zum Änderungsvorschlag zu § 109 SGB XII angeführt werde, die besondere Wohnform stelle sozialhilferechtlich keine stationäre Einrichtung im Sinne  von § 98 SGB XII dar, weshalb in der besonderen Wohnform unter sozialhilferechtlichen Gesichtspunkten ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werde, wodurch bei einem Übertritt in eine stationäre Pflegeeinrichtung ein neuer Sozialhilfeträger örtlich zuständig werde. Jedoch werde im gleichen Bezug die Problematik an dieser Auslegung, nämlich, dass hierdurch der Schutz des Einrichtungsortes, der mit § 98 Abs. 2 SGB XII bezweckt werde, ins Leere laufe, ausdrücklich benannt. Der Schutz des Einrichtungsortes gehöre aber zu den elementaren Grundzügen des Sozialhilferechts, der bei einer solchen Betrachtungsweise unterlaufen werden würde. Sozialhilfeträger infrastrukturell gut situierter „Orte“ würden hierdurch enorme finanzielle Mehrbelastungen erfahren. Dies könne nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, denn dies würde der eigentlichen gesetzgeberischen Intention, Einrichtungsorte zu schützen, zuwiderlaufen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 25. Juli 2024 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die H1 vom 21. Mai 2021 bis 30. Juni 2022 gewährten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölften Buch ? in Höhe von 27.791,51 € zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Aus der Drucksache 20/8344 des Deutschen Bundestages vom 13. September 2023 ergebe sich deutlich, dass der Gesetzgeber die besondere Wohnform ausdrücklich nicht unter den Begriff der stationären Einrichtung im Sinne des § 98 SGB XII fasse. Davon ausgehend werde in einer besonderen Wohnform ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet. Vorliegend habe H. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der besonderen Wohnform in S1 begründet. Die Beklagte sei daher nicht der zuständige örtliche Leistungsträger nach § 98 Abs. 2 SGB XII. Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 106 Abs. 1 SGB XII bestehe nicht.

Sowohl der Kläger als auch die Beklagte haben sich im Termin zur Erörterung des Sachverhalts und der Rechtslage am 8. Januar 2025 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte des Klägers und der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen. 

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis dazu erteilt haben.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1, Abs. 3 SGG statthafte, unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat (im Ergebnis) zu Recht einen Kostenerstattungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte bezüglich der H. in dem Zeitraum vom 21. Mai 2021 bis 30. Juni 2022 gewährten Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von 27.791,51 € verneint.

Als Rechtsgrundlage eines Kostenerstattungsanspruchs kommt § 106 Abs. 1 SGB XII in Betracht. Danach hat der nach § 98 Abs. 2 Satz 1 zuständige Träger der Sozialhilfe dem nach § 98 Abs. 2 Satz 3 vorläufig leistenden Träger die aufgewendeten Kosten zu erstatten. Ist in den Fällen des § 98 Abs. 2 Satz 3 und 4 ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht vorhanden oder nicht zu ermitteln oder war für die Leistungserbringung ein örtlicher Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig, sind diesem die aufgewendeten Kosten von dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe zu erstatten, zu dessen Bereich der örtliche Träger gehört. Gemäß § 106 Abs. 2 SGB XII gilt als Aufenthalt in einer stationären Einrichtung auch, wenn jemand außerhalb der Einrichtung untergebracht wird, aber in ihrer Betreuung bleibt, oder aus der Einrichtung beurlaubt wird.

Der Kläger hat nach dieser Rechtsgrundlage keinen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte, weil er nach § 98 Abs. 2 Satz 1 der (örtlich) zuständige Träger der Sozialhilfe bezüglich der H. gewährten Sozialhilfeleistungen gewesen ist.

Gemäß § 98 Abs. 1 SGB XII ist für die Sozialhilfe örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten. Gemäß § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ist für die stationäre Leistung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatten.

H. hatte bei Aufnahme in das Seniorenheim (Pflegeheim) Haus R2 in N1 am 21. Mai 2021 - in dieser Einrichtung sind H. unstreitig Leistungen nach dem Siebten Kapitel des SGB XII (Leistungen der Hilfe zur Pflege) als stationäre Leistungen erbracht worden - ihren gewöhnlichen Aufenthalt gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) in der besonderen Wohnform Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1. Beim Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1 handelt es sich - unstreitig und nach übereinstimmender Auffassung auch der Beteiligten - um eine besondere Wohnform als Unterkunft im Sinne des § 42a Abs. 2 Nr. 2 SGB XII. Dies ist dann erfüllt, wenn Leistungsberechtigte nicht in einer Wohnung nach § 42 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII leben, weil ihnen „zur Erbringung von Leistungen nach dem Teil 2 des Neunten Buches allein oder zu zweit ein persönlicher Wohnraum und zusätzliche Räumlichkeiten zur gemeinschaftlichen Nutzung nach Satz 3 zu Wohnzwecken überlassen werden“. Diese Voraussetzungen waren bezüglich der „Unterbringung“ von H. im Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1 erfüllt, denn sie hat während ihres Aufenthaltes dort Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß Teil 2 des SGB IX (bis 31. Dezember 2019 noch nach dem SGB XII) seitens der Beklagten erhalten und die „Wohnraumverhältnisse“ entsprachen § 42a Abs. Nr. 2 SGB XII. H. hatte gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I auch durch den Aufenthalt im Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1 einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Den hat nach der genannten Vorschrift jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. H. ist im Jahre 2011 in den Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1 eingezogen und hat dort dauerhaft ihren Aufenthalt begründet, wobei offensichtlich - dies ist schon durch den tatsächlichen Zeitablauf belegt - nicht nur ein vorübergehendes Verweilen in dieser Einrichtung beabsichtigt gewesen ist; H. ist erst zum 21. Mai 2021 - aufgrund der fortschreitenden Demenz und einer gegebenen Weglauftendenz, Umstände, die erst nach 2011 eingetreten sind - in das Pflegeheim Seniorenheim Haus R2 in N1 übergewechselt. Dass es grundsätzlich möglich ist, dass in einer besonderen Wohnform ein gewöhnlicher Aufenthalt gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I begründet werden kann, ist offensichtliche Auffassung des Gesetzgebers. In der Drucksache 20/8344 des Deutschen Bundestages vom 13. September 2023 Ziff. 13 (S.68) wird hierzu folgendes ausgeführt:

Der Deutsche Bundesrat gibt an, dass mit Einführung des Bundesteilhabegesetzes zum 1. Januar 2020 die bislang stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe in offene Wohnformen überführt wurden. Dies bedeutet, dass in einer besonderen Wohnform als Unterkunft im Sinn des § 42a Abs. 2 Nr.2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) auch ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden kann.
 
Hiervon ausgehend ist im Einzelfall zu prüfen, ob der Hilfebedürftige in einer „besonderen Wohnform“ einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Dies ist bei H. bezüglich ihres Aufenthalts in der besonderen Wohnform Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. von 2011 bis 21. Mai 2021 so gewesen.

Daraus folgt, dass gemäß § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII die örtliche Zuständigkeit des örtlichen Trägers der Sozialhilfe Landkreis R1-Kreis für die stationäre Leistung (Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII) an H. für den Zeitraum vom 21. Mai 2021 bis 30. Juni 2022 gegeben war, da H. ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in das Pflegeheim (21. Mai 2021) in S1 und damit im Zuständigkeitsbereich des Klägers gehabt hatte.

Entgegen der Auffassung des Klägers folgt die örtliche Zuständigkeit der Beklagten für die an H. ab 21. Mai 2021 gewährten stationären Leistungen der Hilfe zur Pflege nicht aus § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII, wonach, wenn bei Einsetzen der Sozialhilfe die Leistungsberechtigten aus einer Einrichtung im Sinne des Satzes 1 in eine andere Einrichtung oder von dort in weitere Einrichtungen übertreten oder nach dem Einsetzen der Leistung ein solcher Fall eintritt, der gewöhnliche Aufenthalt, der für die erste Einrichtung maßgebend war, entscheidend ist. Entgegen der Ansicht des Klägers ist H. „nicht aus einer Einrichtung im Sinne des Satzes 1 (Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V.) in eine andere Einrichtung (Pflegeheim Seniorenheim Haus R2) übergetreten; eine „Einrichtungskette“ ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht gegeben. Dies folgt aus dem eindeutigen gesetzgeberischen Willen, der in der bereits genannten Bundestags-Drucksache (S. 69) im Weiteren zum Ausdruck kommt. Dort ist ausgeführt:

Zugleich ist die besondere Wohnform sozialhilferechtlich auch keine stationäre Einrichtung im Sinne des § 98 SGB XII. Entfällt bei einem Übertritt aus der besonderen Wohnform in eine stationäre Pflegeeinrichtung die Eingliederungshilfeleistung, erfolgt die Zuständigkeitsbestimmung nicht mehr nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch, sondern nun nach § 98 SGB XII. Wird aber in der besonderen Wohnform unter sozialhilferechtlichen Gesichtspunkten ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet, knüpft die neue Zuständigkeit hier an und nicht an die Zuständigkeit der vor dem ursprünglichen Beginn der Einrichtungskette. Das bedeutet, dass ein neuer Sozialhilfeträger örtlich zuständig wird.

Damit hat der Gesetzgeber eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei der besonderen Wohnform als Unterkunft im Sinne des § 42a Abs. 2 Nr. 2 SGB XII - um eine solche handelt es sich unstreitig beim Wohnverbund der Lebenshilfe H2 e.V. in S1 - nicht um eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 SGB XII handelt. Die diesbezügliche Auffassung des Klägers steht in offensichtlichem Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen.

Hieran ändert sich auch nichts dadurch, dass - so die Betrachtung des Klägers - durch diese Einordnung der besonderen Wohnform als nichtstationäre Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 SGB XII der Schutz des Einrichtungsortes, der mit § 98 Abs. 2 SGB XII bezweckt werde, ins Leere laufe. Zuzugeben ist dem Kläger dabei, dass diese „Bedenken“ mit Blick auf den Schutz des Einrichtungsortes im Gesetzgebungsverfahren seitens des Deutschen Bundesrates vorgebracht worden sind (vgl. Drucksache 20/8344, a.a.O.). Der Deutsche Bundesrat hat diesbezüglich angemerkt:

Wird aber in der besonderen Wohnform unter sozialhilferechtlichen Gesichtspunkten ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet, knüpft die neue Zuständigkeit hier an und nicht an die Zuständigkeit der vor dem ursprünglichen Beginn der Einrichtungskette. Das bedeutet, dass ein neuer Sozialhilfeträger örtlich zuständig wird. Damit läuft der Schutz des Einrichtungsortes, der mit § 98 Abs. 2 SGB XII bezweckt wird, ins Leere. Es gilt dringend zu vermeiden, dass pflegebedürftige behinderte Menschen, bei denen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Umzug in eine reine stationäre Pflegeeinrichtung zu erwarten ist, aus Gründen der anschließend drohenden Sozialhilfekosten nicht mehr in der besonderen Wohnform aufgenommen werden. Die besondere Wohnform als Unterkunft sollte dringend in den Katalog der vom gewöhnlichen Aufenthalt ausgenommenen Aufenthaltsmöglichkeiten in § 109 SGB XII aufgenommen werden.

Diese Bedenken - die der Kläger teilt - hat jedoch der Deutsche Bundestag im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht geteilt (vgl. Drucksache 20/8344 des Deutschen Bundestages vom 13. September 2023, zu Ziff. 13 (S. 93):

Der Änderungsvorschlag wird abgelehnt. Die vorgeschlagene Änderung wird nicht für erforderlich gehalten. Dem BMAS liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass die geltenden Zuständigkeitsregelungen in der besonderen Wohnform tatsächlich zu Problemen bei der Aufnahme pflegebedürftiger Menschen mit Behinderung in einer stationären Pflegeeinrichtung führen, wenn diese zuvor in der besonderen Wohnform leben.

Damit stellt der Gesetzgeber eindeutig klar, dass es dabei verbleibt, dass die besondere Wohnform im Sinne des § 42a Abs. 2 Nr. 2 des SGB XII keine stationäre Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 SGB XII ist und dass es grundsätzlich möglich ist, dass in einer solchen besonderen Wohnform gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 das SGB I ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden kann. Dies folgt daraus, dass entgegen dem Vorschlag des Bundesrates die besondere Wohnform als Unterkunft nicht in den Katalog der vom gewöhnlichen Aufenthalt ausgenommenen Aufenthaltsmöglichkeiten in § 109 SGB XII aufgenommen worden ist.

Demzufolge war der Kläger gemäß § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII der örtlich zuständige Sozialhilfeträger für die Erbringung der Sozialhilfeleistung nach dem Siebten Kapitel des SGB XII an H. für den Zeitraum vom 21. Mai 2021 bis zum 30.  Juni 2022. Die Voraussetzungen des § 106 Abs.1 SGB XII für einen Kostenerstattungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte bezüglich dieser Leistungen sind nicht erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Rechtsfrage der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in einer besonderen Wohnform im Sinne des § 42a Abs. 2 Nr. 2 SGB XII ist über den Einzelfall hinaus klärungsbedürftig und höchstrichterlich bislang nicht geklärt.

Der Streitwert war entsprechend dem Erstattungsbegehren auf 27.791,51 € festzusetzen.  


 

Rechtskraft
Aus
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