S 16 AY 2/25 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 16 AY 2/25 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss


1.    Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.01.2025 gegen den Bescheid vom 20.12.2024 wird angeordnet.

2.    Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 


Gründe

I.    

Die Beteiligten streiten im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen die Aufhebung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Die Antragsteller sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und wurden dem Antragsteller mit Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 08.02.2023 zugewiesen. Seit dem 08.02.2023 beziehen sie laufend Leistungen nach dem AsylbLG. Letztmals bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 22.07.2024 Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG für den Zeitraum von September 2024 bis Juli 2025.

Im November 2014 erhielt der Antragsgegner Kenntnis darüber, dass der Asylantrag der Antragsteller mit Bescheid des BAMF vom 28.03.2023 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Kroatien angeordnet wurde. Die Abschiebungsanordnung ist seit dem 04.11.2024 vollziehbar, nachdem der VGH an diesem Tag den Antrag auf Zulassung der Berufung ablehnte.

Mit Bescheid vom 20.12.2024 hob der Antragsgegner den Bescheid vom 22.07.2024 mit Wirkung ab dem 11.11.2024 gern. § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) auf. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG i.V.m. § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG hätten die Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe mit Bescheid vom 08.11.2024 den Antrag auf Asyl nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt. Alle Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 Nr. 2 seien erfüllt. Somit ende die Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG zum 11.11.2024. Es würden daher ab dem 11.11.2024 für die Bedarfe an Ernährung, Gesundheits- und Körperpflege nur noch Überbrückungsleistungen in Höhe von 659,87 € bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von zwei Wochen, einmalig innerhalb von zwei Jahren, ausgezahlt. Die Zweijahresfrist beginne mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen. Die Antragsteller hätten für die Monate 11/2024 und 12/2024 bereits Leistungen nach §3 AsylbLG erhalten. Die Leistungen nach § 3 AsylbLG und die Überbrückungsleistungen nach § 1 Abs. 4 würden nachträglich verrechnet.

Am 02.01.2025 erfolgte eine Besprechung mit den Antragstellern. Diese hätten keine Bedenken vorgetragen. Der Bescheid wurde an diesem Tag den Antragstellern übergeben und durch die Antragsteller eine Empfangsbestätigung unterzeichnet.

Die Antragsteller haben am 15.01.2025 Widerspruch erhoben. Der Antragsgegner teilte mit Schreiben vom 16.1.2025, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG erfüllt seien und keine Leistungsauszahlung mehr erfolgen könne. 

Die Antragsteller haben durch ihre Prozessbevollmächtigte am 22.01.2025 einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung beim Sozialgericht Darmstadt gestellt.

Sie sind der Auffassung, dass der Bescheid schon rechtswidrig wäre, wenn keine Anhörung erfolgt sei. Es fehle zudem an der in § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG geforderte Feststellung des BAMF, dass die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich sei. Darüber hinaus sei die Vorschrift des § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG europarechtswidrig und hat daher unanwendbar zu bleiben. Nach gefestigter Rechtsauffassung unterfielen Antragsteller auf internationalen Schutz – und damit auch abgelehnte Dublin-Fälle – den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie (EuGH, Urt. v. 27. September 2012 – C-179/11, BSG, Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 25.07.2024 – B 8 AY 6/23 - Rn. 17). Das BSG habe mit dem vorgenannten Beschluss vom 25.07.2024 dem EuGH die Frage vorgelegt, ob eine Regelung eines Mitgliedstaats, die Antragstellern auf internationalen Schutz abhängig von ihrem Status als vollziehbar Ausreisepflichtige innerhalb der Überstellungsfrist nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ausschließlich einen Anspruch auf Unterkunft, Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege und Behandlung im Krankheitsfall sowie nach den Umständen im Einzelfall Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts gewähre, das in Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 RL 2013/33/EU beschriebene Mindestniveau abdecke. Eine nationale Regelung, die – wie § 1 Abs. 4 AsylbLG - lediglich Überbrückungsleistungen für 2 Wochen vorsehe, genüge daher in keinem Fall den europarechtlichen Vorgaben. Dass Überbrückungsleistungen in Form von Geldleistungen nach § 1 Abs. 4 Satz 5 Hs. 2 AsylbLG ausgeschlossen seien, verstoße zudem gegen Art 2 Buchst. g) der Richtlinie 2013/33/, wonach im Rahmen der Aufnahme als materielle Leistungen neben Unterkunft, Verpflegung und Kleidung insbesondere Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs zu gewähren sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH seien die Behörden und Gerichte in Deutschland europarechtlich verpflichtet, eine Regelung, die gegen europäisches Recht verstoße, unangewendet zu lassen, um die weitere effektive Geltung der unionsrechtlichen Vorgaben sicherzustellen. Ein nationales Gericht habe für die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Normen Sorge zu tragen und erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen (vgl. EuGH, Rechtssache 106/77, Urteil vom 09.03.1978, EuGH Simmenthal II). § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG dürfe daher nicht angewendet werden. Eine Kombination des Antrags nach § 86b Abs. 1 SGG mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG sei vorliegend nicht erforderlich, denn mit der begehrten Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs lebe der Bescheid vom 22.07.2024 als Grundlage für die Leistungsgewährung wieder auf. 

Die Antragsteller beantragen,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.01.2025 gegen den Bescheid vom 20.12.2024 anzuordnen.

Der Beklagte beantragt, 

den Antrag abzulehnen.

Er ist der Auffassung, dass ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs.5 und 7 AufenthG nicht vorliege, so dass alle Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG erfüllt seien. Entsprechend der neuen Gesetzesvorlage – Gesetz zur Verbesserung der inneren Sicherheit – in Kraft seit 31.10.2024 wären nach § 1 Abs. 4 AsylbLG die Leistungen einzustellen. Es bestünde kein Anordnungsgrund. Ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller für den Antrag liege nicht vor. Weitere Überbrückungsleistungen seien durch die Antragsteller nicht beantragt worden. Vollziehbar ausreisepflichtige Leistungsberechtigte im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 5, denen bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat oder einem am Verteilmechanismus nach der VO (EU) 2013/604 teilnehmenden Drittstaat (d.h. den EFTA-Staaten: Island, Norwegen, Liechtenstein und Schweiz) internationaler Schutz gewährt worden sei, der fortbestehe, seien nach § 1 Abs. 4 S. 1 von Leistungen des AsylbLG grundsätzlich ausgeschlossen. Aus der Gesetzesbegründung (Drucksache 20/13413) gehe u. a. folgendes hervor: „Die Änderung hat klarstellenden Charakter. Mit der Entscheidung über die Unzulässigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erfolgt bereits die Feststellung über die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit, die im Rahmen dieser Regelung maßgeblich ist. Insbesondere hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits geprüft, dass dem Ausländer keine Verletzung von Artikel 3 der Menschenrechtskonvention oder Artikel 4 der Grundrechtcharta im anderen Mitgliedstaat droht. Die selbstinitiierte Ausreise ist in der Regel mit der Unzulässigkeitsentscheidung innerhalb von zwei Wochen möglich, wenn der Transfer gewährleistet ist. Zu diesem Zweck wird dem Ausländer ein Laissez-passer ausgestellt.“

Die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller führte mit Schriftsatz vom 03.02.2025 weiter aus, dass ein Anordnungsgrund bestehe, weil das Existenzminimum der Antragsteller nicht gedeckt sei. Ein erneuter Antrag auf Gewährung von Überbrückungsleistungen sei nicht erforderlich. Gegen den Bescheid vom 20.12.2024 sei fristgerecht Widerspruch erhoben worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.


II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen den Bescheid vom 20.12.2024 ist statthaft.

Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag, in den Fällten, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Soweit der angefochtene Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist, besteht keine Veranlassung zum sofortigen Vollzug. Ist die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides gegeben, wirkt sich die Interessenabwägung zugunsten der Behörde aus. Bei offenem Ausgang bleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung. Im Rahmen der Interessenabwägung kommt der Verpflichtung zum Schutz der Grundrechte eine besondere Bedeutung zu. Nach dem BVerfG (NJW 2003, 3617 (3618 f.) entspreche es der Funktion von Präventivmaßnahmen, mit denen für eine Zwischenzeit ein Sicherungszweck verfolgt werde, ausnahmsweise den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Ob diese Voraussetzungen gegeben seien, hänge von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Bewilligung konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lasse. Die rechtsschützende Funktion des Prozessrechts stehe demnach unter grundrechtlichem Einfluss (BeckOGK/Wahrendorf, 1.11.2024, SGG § 86b Rn. 81, 82, beck-online). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzungen entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, ist es von Verfassungswegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt (so: Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15. September 2024 – L 4 AY 19/24 B ER –, Rn. 32, juris). 

Im Rahmen der Interessenabwägung war dem Antrag zu entsprechen.

Streitgegenständlich ist der Widerspruch gegen die Aufhebung des Leistungsbescheides nach dem AsylbLG. Der Bescheid ist nicht bereits formell rechtswidrig, die erforderliche Anhörung wurde nachgeholt. Mit dem angefochtenen Bescheid wurden die Leistungen nach dem AsylbLG aufgrund der Anwendung des § 1 Abs. 4 Nr. 2 S. 1 AsylbLG aufgehoben. Danach haben Leistungsberechtigte nach Absatz 1 Nummer 5, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 31 Absatz 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des Asylgesetzes angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist, haben keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Antragssteller dem benannten Personenkreis unterfallen. 

Vorliegend kann nicht abschließend geklärt werden, ob die Klage in der Hauptsache Erfolg hätte. Denn im Rahmen der Folgenabwägung ist insbesondere der Vorlagenbeschluss des Bundessozialgerichts vom 25.07.2024 (B 8 AY 6/23) an den EuGH zu berücksichtigen. Die bezüglich der Vorschrift des § 1a Abs. 7 AsylbLG aufgeworfenen Rechtsfragen haben auch für die hier einschlägige Norm unmittelbare Auswirkungen und sind somit im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte erheblich. Die Beantwortung dieser Fragen dürfte sich auch unmittelbar auf die Leistungseinschränkung des hier einschlägigen § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG auswirken. Unter Berücksichtigung des Vollziehungsinteresses der Behörde gegenüber dem Interesse der Antragssteller hat das Vollziehungsinteresse zurückzustehen. Denn im Hinblick auf das offene Hauptsacheverfahren ist der Anspruch der Antragssteller auf eine menschenwürdige Grundversorgung bis zu einer tatsächlich erfolgten Abschiebung nach Kroatien als vorrangig zu gewichten. 

Entsprechend war dem Antrag stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
 

Rechtskraft
Aus
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