Das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 2. Juli 2021 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Bremen, mit dem sie verurteilt worden ist, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab dem 19. Oktober 2018 festzustellen.
Bei der 1978 in I. geborenen Klägerin war mit Bescheid der Beklagten vom 24. August 2017 ein GdB von 30 wegen der Funktionsbeeinträchtigung „Chronische Leberentzündung, Sprue, Darmbeschwerden“ festgestellt. Ihren am 19. Oktober 2018 eingegangenen Neufeststellungsantrag begründete die Klägerin mit hinzugetretenen psychischen Beschwerden und legte im Rentenverfahren erstattete Gutachten des Internisten Dr. J. vom 25. Mai 2018 und des Psychiaters Dr. K. vom 14. Juni 2018 vor. Der internistische Gutachter hatte bei den Diagnosen chronische Hepatitis B (ohne Hinweise auf eine Leberzirrhose), Zöliakie und Laktose- und Fruktoseintoleranz keine wesentliche Einschränkung der Erwerbsfähigkeit gesehen, während der psychiatrische Gutachter aufgrund von Anpassungsstörungen mit akuter Belastungsreaktion, einer Angst- und depressiven Störung und eines Verdachts auf emotional instabile Persönlichkeitsstörung eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme empfohlen hatte. Unter zusätzlicher Berücksichtigung eines aktuellen hausärztlichen Befundberichts empfahl der Ärztliche Dienst aufgrund hinzugetretener psychischer Störungen (Einzel-GdB 30) die Feststellung eines Gesamt-GdB von 40 ab dem 19. Oktober 2018. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 28. November 2018 setzte die Beklagte diese Empfehlung um.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren legte die Klägerin einen zur Erlangung einer tiefenpsychologisch fundierten Langzeittherapie erstellten Bericht ihrer behandelnden Psychotherapeutin L. vom 20. November 2018 sowie ein für ihre private Krankenversicherung erstattetes nervenärztliches Gutachten des Dr. M. vom 7. Januar 2019 vor. Nachdem der Ärztliche Dienst diesen Unterlagen keine neuen Erkenntnisse entnommen hatte, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 2019 als unbegründet zurück.
Auf die am 9. August 2019 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Bremen Befundberichte der Fachärztin für Psychiatrie N. und der Psychotherapeutin L. eingeholt. Sodann hat es die Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. O. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 24. Oktober 2020 zur Vorgeschichte ausgeführt, dass die Klägerin im Jahr 1989 mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sei, im familieneigenen Restaurant habe arbeiten müssen und aufgrund schwerer Misshandlungen durch die Eltern sich ab 1993 in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung befunden habe. Nach Entzug des elterlichen Sorgerechts habe sie in einer Jugendwohngemeinschaft gelebt, das Abitur erlangt und eine kaufmännische Ausbildung erfolgreich absolviert. Trotz familiärer Belastung durch einen behinderten Sohn und einen kranken Ehemann habe sie 26 Jahre in leitender Position im Verkaufsbereich gearbeitet und sei nach einem schweren Zusammenbruch im Jahr 2017 bei diagnostizierter Belastungsstörung und Depression nunmehr berentet. Zum psychopathologischen Befund hat die Sachverständige ausgeführt, die Stimmung sei durchgehend mittel- bis schwergradig depressiv, das affektive Modulationsvermögen hochgradig eingeschränkt. Es zeige sich eine tiefe Verletzlichkeit, nachvollziehbar beschrieben würden Ängste, Panikattacken im Zusammenhang mit Kontakten zu Menschen in sämtlichen Alltagssituationen, begleitet von schwerem Vermeidungsverhalten. Positiv getönte soziale Aktivitäten bestünden seit Jahren nicht mehr und hätten eigentlich noch nie bestanden. Beschrieben würden Schlafstörungen, Grübeln, Früherwachen, Flash-back-Erlebnisse, Ängste vor Berührungen und Kontakten als Zeichen schwerer Traumatisierung. Es zeigten sich darüber hinaus ausgeprägte psychosomatische Symptome in Form von Verdauungsstörungen, Schlafstörungen, Blasenentleerungsstörungen, Schmerzen, Erschöpfung und Konzentrationsstörungen. Kognitiv seien eine vorzeitige Ermüdbarkeit, Erschöpfung, erhöhte Irritabilität und eine ausgeprägte affektive Labilisierung zu verzeichnen. Die psychopathologische Befunderhebung hat nach der Beurteilung der Sachverständigen eine seit der frühen Kindheit bestehende schwere Traumatisierung bestätigt, es seien zahlreiche stationäre Aufenthalte wegen Bulimie, schwerer Depression, Angst- und Panikstörungen erfolgt und eine seit Jahren laufende ambulante Psychotherapie sei ohne ausreichende Besserung geblieben, so dass die Klägerin Erwerbsminderungsrente beziehe. Zusammenfassend zeige sich eine schwer vom Leben ausgegrenzte, enttäuschte und traumatisierte Probandin. Die Sachverständige ist zu der Diagnose einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung mit mittel- bis schwergradigen sozialen Anpassungsstörungen gelangt und hat insoweit einen Einzel-GdB von 60 empfohlen. Bei der Gesamt-Bewertung seien die zusätzlich bestehende Lebererkrankung und die Zöliakie mit einem unverändert vorliegenden Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen, so dass sich ein Gesamt-GdB von mindestens 70 ergebe.
Der Ärztliche Dienst der Beklagten (Ärztin P.) ist dieser Bewertung nicht gefolgt. Zunächst hat er eine Zöliakie und eine chronische Leberentzündung nunmehr als gesonderte Funktionseinschränkungen berücksichtigt und jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet mit dem Vermerk, dass die Zöliakie nicht gesichert sei und die Anerkennung insoweit nur fortgeschrieben werde. Hinsichtlich der psychischen Störung hat er weiterhin einen Einzel-GdB von 30 für angemessen gehalten. Die Sachverständige habe bereits den Akteninhalt unzutreffend interpretiert und zudem keine eigenen Feststellungen zum Tagesablauf getroffen. Die Klägerin bewältige offenbar eine komplizierte Familiensituation mit zwei zu versorgenden Familienmitgliedern und strebe selbst eine Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit an, so dass die hohe Bewertung der psychischen Funktionsbehinderung durch die Sachverständige nicht nachvollziehbar sei. In einer Stellungnahme vom 15. Januar 2021 hat die Sachverständige an ihrer Beurteilung festgehalten. Sie habe in ihrem Gutachten eine schwere Traumatisierung der Klägerin herausgearbeitet, so dass es sich nicht nur um eine depressive Stimmungslage, sondern um eine anhaltend schwere depressive Symptomatik infolge einer posttraumatischen Persönlichkeitsveränderung handele.
Die Klägerin hat noch ein vom Landgericht Bremen in ihrem Verfahren gegen die Q. Lebensversicherung AG eingeholtes Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. R. vom 28. März 2021 zur Frage der Berufsunfähigkeit vorgelegt. Darin wird eine persistierende und unterschiedlich ausgeprägte depressive Störung von derzeit leichter Ausprägung diagnostiziert. Die Symptome der Depression und Dysthymia hätten sich vor dem Hintergrund einer komplexen strukturellen Persönlichkeitseigenart entwickelt, die einer selbstunsicheren Persönlichkeit mit ängstlich-vermeidenden und narzisstischen Merkmalen entspreche. Die Klägerin sei derzeit und voraussichtlich noch für ein weiteres Jahr gehindert, ihren Beruf einer Filialleiterin auszuüben. Es existierten erfolgversprechende und zumutbare Therapieansätze, die noch nicht zur Anwendung gekommen seien.
Mit Urteil vom 2. Juli 2021 hat das SG die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei der Klägerin ab dem 19. Oktober 2018 einen GdB von 50 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die bei der Klägerin vorliegende psychische Beeinträchtigung nach Teil B Nr. 3.7 VMG mit einem GdB von 40 zu bewerten sei. Bei der Klägerin bestehe eine mittelschwere depressive Störung aufgrund einer nicht erfolgreich behandelten schweren posttraumatischen Belastungsstörung. Hieraus folgten Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowie soziale Anpassungsschwierigkeiten. Die Kammer habe sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Klägerin verschafft und sich davon überzeugen können, dass diese den Alltag für ihre Familie mit dem pflegebedürftigen Ehemann und dem erkrankten Kind unter Aufopferung ihrer psychischen und körperlichen Integrität zu strukturieren versuche. Hierbei sei es jedoch schon zu psychischen Zusammenbrüchen gekommen. Die Klägerin habe keinerlei Freizeitgestaltung (Hobbys, kulturelle Veranstaltungen), die für einen Ausgleich sorgen könne. Sie vermeide weitestgehend soziale Kontakte. Es bestünden mithin soziale Phobien und nach den glaubhaften Angaben der Klägerin liege weiterhin eine bulimische Störung vor. Das SG hat insoweit u. a. auch auf die Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen Dr. O. Bezug genommen und dies im Einzelnen erläutert. Soweit in dem zuletzt vorgelegten Gutachten des Dr. R. lediglich eine leichte depressive Störung diagnostiziert werde, stehe dies der Annahme eines GdB von 40 nicht entgegen, da auch in diesem Gutachten soziale Anpassungsschwierigkeiten im Einzelnen beschrieben würden, wobei sich die Klägerin – wie auch Dr. R. festgestellt habe – hinsichtlich ihrer Beeinträchtigungen eher beschwichtigend geäußert habe. Unter Berücksichtigung eines Einzel-GdB von 30 für die chronische Hepatitis-B-Erkrankung ergebe sich ein Gesamt-GdB von 50. Die von der Sachverständigen Dr. O. vorgeschlagene hohe Bewertung mit einem Gesamt-GdB von 70 sehe die Kammer vor dem Hintergrund der noch vorhandenen Fähigkeit der Klägerin, den Familienalltag zu strukturieren, nicht als begründet an.
Gegen das ihr am 15. Juli 2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 9. August 2021 Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass die psychische Störung mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei, so dass sich ein Gesamt-GdB von lediglich 40 ergebe. Es sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Familienalltag ohne Hilfe bestreite und in der Lage sei, die tägliche Routine durchzuführen. Soweit die Klägerin nur wenige persönliche Kontakte außerhalb des Familienkreises habe, sei dies schon früher so gewesen und daher jedenfalls nicht ausschließlich auf die psychischen Störungen zurückzuführen. Im Übrigen betreibe die Klägerin eine Internetseite, auf der sehr wohl Freundinnen erwähnt würden. Die Klägerin plane ausweislich ihres Internetauftritts den Aufbau eines Vertriebsnetzes für „Body-Wraps“, was eine hohe Belastbarkeit, die Fähigkeit zum Umgang mit Stress und Kontakte zu anderen Menschen erfordere. Auch gebe die Klägerin dort an, sportlich aktiv zu sein und Trainerstunden zu nehmen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Bremen vom 2. Juli 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt zur Berufungsbegründung der Beklagten vor, dass sie keine sozialen Kontakte habe und schon seit Jahren voll erwerbsgemindert sei. Sie habe bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem SG darauf hingewiesen, dass sie die von der Beklagten in Bezug genommene Internetseite nicht deaktivieren könne und seit ihrer Erkrankung über mehrere Jahre hinweg keine Aktivität mehr stattfinde.
Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Psychiaterin N. vom 1. Oktober 2021 und 7. Februar 2022 sowie – hinsichtlich der internistischen Gesundheitsstörungen – des Internisten Dr. S. vom 29. Juli 2022 beigezogen. Dieser hat zur Virushepatitis B mitgeteilt, dass unter antiviraler Therapie keine laborchemisch-entzündliche Aktivität vorliege, und zur Zöliakie/Sprue, dass ihm diesbezüglich keine positiven endoskopischen oder laborchemischen Befunde vorlägen. Die Klägerin hat Berichte des AMEOS Klinikums T. über tagesklinische Behandlungen vom 19. Januar bis 2. März 2022 und vom 2. bis 23. Juni 2022 vorgelegt. Die Beklagte hat hierzu Stellungnahmen ihres Ärztlichen Dienstes (Ärztin P.) übersandt, in denen es heißt, dass die bestehende Teilhabebeeinträchtigung führend durch die familiäre Situation und nicht durch die psychische Erkrankung bedingt sei, und bei der letzten, auf eigenen Wunsch abgebrochenen tagesklinischen Behandlung ein weitgehend unauffälliger psychopathologischer Befund erhoben worden sei. Der Senat hat schließlich ein im Rentenverfahren erstattetes Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. U. vom 19. März 2019 beigezogen. Darin wird zum psychischen Befund u. a. festgestellt, dass die Antriebslage normal wirke, Vitalität und Flexibilität nicht herabgesetzt seien und eine wesentliche Depressivität nicht erkennbar sei. Die Klägerin wirke erschöpft. Dr. U. diagnostizierte seinerzeit eine Erschöpfung und eine Anpassungsstörung und führte aus, psychopathologisch wirke die Klägerin unauffällig, das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung liege nicht vor. Die Klägerin versorge Haus, Haushalt, den kranken Mann und die Söhne und arbeite offensichtlich 16 bis 18 Stunden täglich. Sie erscheine sehr belastet, aber auch belastbar, das Leistungsvermögen sei nicht wesentlich eingeschränkt.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat Prof. Dr. V., Chefarzt des AMEOS Klinikums T., ein weiteres Gutachten (ohne Datum, Eingang am 7. März 2024) erstattet. Er hat nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 13. November 2023 zum psychopathologischen Befund festgestellt, dass in der gesamten Exploration kein impulsives Verhalten aufgetreten sei, der Affekt sei gedrückt, die affektive Schwingungsfähigkeit sei eingeschränkt, lasse sich jedoch bei positiv gefärbten Themeninhalten noch modulieren. Die Klägerin zeige sich in der gesamten Exploration bewusstseinsklar, sie sei zu Ort, Person, Situation und Zeit sicher orientiert, der Sprachfluss sei durchgehend flüssig, sie könne der Exploration prompt folgen, Gedächtnis und Wahrnehmung seien zu keinem Zeitpunkt gestört. Halluzinationen, eine Wahndynamik oder Ich-Störungen lägen nicht vor, es bestehe aber ein sozialer Rückzug. Der Sachverständige hat eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung vor dem Hintergrund von körperlichen, psychischen und sexuellen Gewalterfahren im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert. Die Auswirkungen zeigten sich insbesondere auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Klägerin fühle sich durchgehend bedroht. Sie erwarte Abwertung von ihren Mitmenschen, empfinde keine Empathie für diese und sehe keinen Sinn in zwischenmenschlichen Kontakten außerhalb der Familie. Die Möglichkeit zu vertrauen sei deutlich eingeschränkt. Sie habe keine Freundschaften oder stützende soziale Kontakte. Sie gerate schnell in Konflikte, in welchen sie eine Reinszenierung der bisherigen Beziehungserfahrungen erlebe. Ferner liege bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung mittelgradiger Ausprägung vor. Es bestehe eine gedrückte Stimmung, die in den Untersuchungsbefunden seit 2017 ein unterschiedliches Ausmaß gezeigt habe, die Klägerin empfinde häufig ein ausgeprägtes Gefühl der Erschöpfung, sie habe Sorgen bezüglich der Zukunft, könne nur wenig Freude empfinden und die affektive Stimmungslage sei durchgehend gedrückt. In Zusammenschau der Befunde und unter Betrachtung der eigenen Untersuchungsergebnisse könnten die genannten Diagnosen im Verlauf über die Jahre sowohl in leichter als auch aktuell mittelgradiger Ausprägung gestellt werden. Die psychischen Erkrankungen seien den stärker behindernden Störungen nach Teil B Nr. 3.7 VMG zuzuordnen und insgesamt mit einem GdB von 40 zu bewerten. Dieser Bewertung ist der Ärztliche Dienst der Beklagten (Ärztin P.) nicht gefolgt. Der im Gutachten erhobene Befund sei nur hinsichtlich des gedrückten, aber auflockerbaren Affekts auffällig, die weiteren Angaben/Einschränkungen seien subjektiv. Externe Hilfsangebote/Maßnahmen erfolgten nicht, es bestehe keine ambulante psychiatrische Pflege, bei einer höhergradigen psychischen Erkrankung des vorwiegend allein versorgenden Elternteils wären eine Unterstützung durch das Jugendamt und auch eine psychiatrische/psychologische Betreuung der Kinder erforderlich. Abgesehen von schlaffördernder Medikation und unterstützenden psychologischen Gesprächen finde keine weitere Therapie statt, die Klägerin sei zur Gestaltung ihres Tagesablaufs mit Versorgung ihres kranken Ehemannes und ihres behinderten Kindes eigenständig in der Lage. Damit sei die psychische Teilhabebeeinträchtigung mit einem GdB von 30 auch weiterhin umfassend bewertet. Einschränkungen der Verdauungsorgane würden im Gutachten nicht erwähnt, die erforderliche Medikamenteneinnahme bei chronischer Hepatitis B bedinge keine Teilhabebeeinträchtigung.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 28. November 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juli 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte, ihren GdB mit 50 und mithin die Schwerbehinderteneigenschaft festzustellen. Das anderslautende Urteil des SG Bremen vom 2. Juli 2021 ist aufzuheben.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i. V. m. § 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG, BGBl. I 2016, 3234 ff.). Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Von einer solchen ist im Schwerbehindertenrecht bei einer Änderung im Gesundheitszustand des behinderten Menschen auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt, während das Hinzutreten weiterer Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 regelmäßig ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB bleibt (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 26 m. w. N.). Dabei sind die in dem früheren Bescheid bei der Feststellung des Gesamt-GdB berücksichtigten Einzel-GdB – anders als der Gesamt-GdB selbst – nicht in Bestandskraft erwachsen (BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 12/06 R - juris Rn. 17 f.) und es handelt sich bei der Neufeststellung dementsprechend nicht um eine reine Hochrechnung des im früheren Bescheid festgestellten Gesamt-GdB, sondern um dessen Neuermittlung auf der Grundlage der aktuell tatsächlich vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen (vgl. BSG, Urteil vom 19. September 2000 - B 9 SB 3/00 R - juris Rn. 14).
Nach dem zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen § 152 SGB IX, der die bisherigen Regelungen des § 69 SGB IX (Fassung bis zum 31. Dezember 2017) im Wesentlichen unverändert übernommen hat, stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (Abs. 1 S. 1). Als GdB werden dabei nach § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX n. F. die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Grundlage der Bewertung ist die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene und zwischenzeitlich mehrfach geänderte Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Die darin niedergelegten Maßstäbe waren nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen Fassung) auf die Feststellung des GdB entsprechend anzuwenden. Seit dem 15. Januar 2015 existiert im Schwerbehindertenrecht eine eigenständige Rechtsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung, in der die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdB und auch für die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen aufgestellt werden (§ 70 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 gültigen Fassung bzw. § 153 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung). Hierzu sieht der zeitgleich in Kraft getretene § 159 Abs. 7 SGB IX (nunmehr § 241 Abs. 5 SGB IX n. F.) als Übergangsregelung vor, dass bis zum Erlass einer solchen Verordnung die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten.
Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) erlassen worden, in denen u.a. die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) i. S. des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend (vgl. Teil A Nr. 2 a VMG). Die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen VMG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 10 m. w. N.).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX n. F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s. § 2 Abs. 1 SGB IX) und die damit einhergehenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 c VMG) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in den VMG feste Grade angegeben sind (Teil A Nr. 3 b VMG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d ee VMG; vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 29).
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG a.a.O. Rn. 30). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist aber nach § 2 Abs. 1, § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX n. F., wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Bei der rechtlichen Bewertung dieser Auswirkungen sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (BSG, Beschluss vom 20. April 2015 - B 9 SB 98/14 B - juris Rn. 6 m. w. N.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat vielmehr zu Recht die Feststellung eines höheren GdB als 40 abgelehnt.
Die bei der Klägerin ganz im Vordergrund stehende psychische Beeinträchtigung ist nach Teil B Nr. 3.7 VMG zu bewerten. Danach sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 und schwere Störungen (z. B. eine schwere Zwangskrankheit) mit einem Einzel-GdB von 50 oder höher zu bewerten.
Nach einem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 sind psychische Anpassungsschwierigkeiten, die einen Einzel-GdB von 30 bis 40 rechtfertigen, durch Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße gekennzeichnet; derartige vom Sachverständigenbeirat entwickelte Abgrenzungskriterien können zur Auslegung herangezogen werden (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 – juris Rn. 43; Senat, Urteil vom 26. September 2018 – L 13 SB 32/17 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Februar 2013 – L 11 SB 245/10 – juris Rn. 45 ff.), wobei der Senat Kontaktmöglichkeiten und Vitalität als besonders bedeutsam für die Teilhabe ansieht, ferner den Erhalt der Möglichkeit einer Verfolgung von Lebensfreude. Insbesondere die Voraussetzungen für Letzteres können bei verschiedenen Menschen sehr individuell unterschiedlich sein. Nach den Beschreibungen der Teilhabe gemäß ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health), im Internet publiziert etwa vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (vgl. zur Anlehnung des neuen Behindertenbegriffs an das Partizipationsmodell des ICF: BT-Drucks. 14/5074, S. 176, 186 und Luthe, in: jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 2 Rn. 60 ff.), geht es vereinfacht gesagt um die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Befriedigung der Grundbedürfnisse und Möglichkeiten einer sinnvollen und befriedigenden Lebensgestaltung.
Hierbei setzt eine stärker behindernde psychische Störung, die für sich allein genommen einen Einzel-GdB von 40 rechtfertigt, bereits regelmäßig einen erheblichen Verlust an sozialen Kontakten oder Vitalität voraus, was sich in der Regel durch deutliche Anzeichen sozialer Isolation und/oder Interesselosigkeit und geschwundene Lebensfreude manifestiert. Ein Indiz für bestehenden Leidensdruck ist darüber hinaus auch die Behandlungsfrequenz beim Facharzt für Neurologie und Psychiatrie oder beim Psychotherapeuten, ferner die – ggf. wiederholte – Durchführung stationärer Maßnahmen. Indizien jeglicher Art sind zur Ermittlung der Schwere der psychischen Beeinträchtigung und des Teilhabeverlustes heranzuziehen und auszuwerten. Die Überzeugungsbildung in Bezug auf eine dauerhaft bestehende erhebliche psychische Erkrankung ist bei fehlender angemessener Behandlung zumindest erschwert (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. Dezember 2016 – L 7 SB 86/15). Zudem ist bei alledem – insbesondere auch dann, wenn ein höherer Einzel-GdB als 40 Gegenstand der Beurteilung ist – zu berücksichtigen, dass der GdB für psychische Funktionsstörungen in eine vernünftige und maßvolle Relation zu den übrigen Tabellenwerten zu setzen ist, woraus sich ergibt, dass bereits das Vorliegen einer „schweren“ Störung nur in besonders begründeten Fällen anzuerkennen ist.
Zudem besteht im Rahmen der Sachverhaltswürdigung stets Anlass, die Angaben eines Beteiligten gegenüber behandelnden Ärzten und Therapeuten sowie Sachverständigen kritisch zu würdigen und mit den objektiv feststellbaren Lebensumständen in Beziehung zu setzen. Bei depressiven Störungen handelt es sich nicht um im engeren Sinne nachweisbare Störungen, ein Sachverständiger kann letztendlich nur anhand von Plausibilitätskriterien urteilen. Bei Störungen dieser Art sind auch die Gerichte auf stringente, plausible und zweifelsfrei glaubhafte Angaben der zu beurteilenden Personen insbesondere zu ihren Lebensumständen angewiesen.
Nach diesen Maßstäben liegt im Falle der Klägerin bei den Diagnosen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und einer rezidivierenden Depression zweifellos bereits eine stärker behindernde Störung vor, während eine mit einem GdB von 50 oder mehr zu bewertende schwere Störung, vergleichbar einer schweren Zwangskrankheit, ausgeschlossen werden kann. Bei Vorliegen einer derartigen Störung wäre die in den vorliegenden medizinischen Unterlagen vielfach dokumentierte Fähigkeit der Klägerin zur normalen Alltagsbewältigung einschließlich der Versorgung und Betreuung eines kranken Ehemannes und eines behinderten Sohnes nicht denkbar. Dem Bewertungsvorschlag der erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Dr. O. mit einen Einzel-GdB vom 60 für die psychische Störung ist das SG vor diesem Hintergrund zu Recht nicht gefolgt. Dementsprechend hat auch der im Berufungsverfahren nach § 109 SGG gehörte Sachverständige Prof. Dr. V. als Arzt des Vertrauens der Klägerin lediglich das Vorliegen einer stärker behindernden Störung (Einzel-GdB 30-40 nach Teil B Nr. 3.7 VMG) bestätigt. Hinsichtlich dieser Störung wird unter Berücksichtigung aller vorliegenden Umstände ein GdB von 40 noch nicht erreicht, der in Teil B Nr. 3.7 VMG vorgegebene Bewertungsrahmen ist insoweit nicht auszuschöpfen. Allerdings dürfte die Einschätzung des Ärztlichen Dienstes der Beklagten, dass die bestehende Teilhabebeeinträchtigung führend durch die familiäre Situation und nicht durch die psychische Erkrankung bedingt sei, nicht zutreffen. Denn nach dem fachärztlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. V. sind die dort im Einzelnen beschriebenen gravierenden Schwierigkeiten bei der Führung zwischenmenschlicher Beziehungen außerhalb der Familie auf die bei der Klägerin bestehende komplexe posttraumatische Belastungsstörung zurückzuführen. Auch der Sachverständige Dr. R. beschreibt in seinem für das Landgericht Bremen erstatteten umfangreichen psychiatrischen Gutachten Symptome einer generalisierten sozialen Phobie, die sich vor dem Hintergrund erheblicher kumulativer Traumatisierungen in Kindheit, Jugend und Adoleszenz im Laufe vieler Jahre entwickelt habe. Liegen damit deutliche Anzeichen sozialer Isolation vor, sprechen andere Gesichtspunkte gegen die Annahme eines Einzel-GdB von 40 für die psychische Störung der Klägerin. Insoweit weist der Ärztliche Dienst der Beklagten in seiner zuletzt vorgelegten Stellungnahme vom 26. März 2024 zu Recht darauf hin, dass im Falle einer tatsächlich bestehenden höhergradigen psychischen Erkrankung eine Unterstützung der Familie durch das Jugendamt und auch eine psychiatrische/psychologische Betreuung der Kinder erforderlich wäre. Der Umstand, dass solche Hilfen nicht in Anspruch genommen werden, sondern die Klägerin ihren Alltag mit krankem Ehemann und behindertem Kind bewältigt, zeigt, dass die Klägerin psychisch durchaus belastbar ist. Der Sachverständige Dr. V. hat in seinem Gutachten den Tagesablauf der Klägerin mit Haushaltsführung, Betreuung der Kinder, Fahrdiensten zur Schule und zu außerschulischen Aktivitäten, Pflege des Ehemannes, Begleitung zu Arztterminen nochmals im Einzelnen dokumentiert, auch ist die Klägerin danach in der Lage, sich für ihren an einer auditiven Wahrnehmungsstörung leidenden Sohn einzusetzen, für dessen Förderung sie immer habe kämpfen müssen. Die bei der Klägerin zusätzlich vorhandene rezidivierende Depression liegt nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen in wechselhafter Ausprägung vor und wird von dem Sachverständigen Dr. V. als leicht bis mittelschwer klassifiziert. Nach alledem lässt sich die Bewertung der psychischen Störung mit einem Einzel-GdB von 40 nicht überzeugend begründen, so dass der von der Beklagten anerkannte Einzel-GdB von 30 noch als angemessen zu bezeichnen ist.
Allerdings würde ein Gesamt-GdB von 50 selbst dann nicht erreicht, wenn die psychische Störung entgegen den vorstehenden Ausführungen mit einem Gesamt-GdB von 40 zu bewerten wäre. Denn die bei der Klägerin vorliegenden weiteren Gesundheitsstörungen führen in Anwendung der Regelung in Teil A Nr. 3 d) ee) VMG nicht zu einer Erhöhung des GdB. Eine Zöliakie ist nach dem Beweisergebnis (Befundbericht des behandelnden Internisten Dr. S. vom 19. Juli 2022) nicht belegt, bestätigt ist lediglich eine Laktoseunverträglichkeit. Damit erweist sich der von der Beklagten zugunsten der Klägerin berücksichtigte Einzel-GdB von 20 für eine Zöliakie als nicht berechtigt und die Laktoseunverträglichkeit, der durch ein angepasstes Ernährungsverhalten begegnet werden kann, ist bei fehlender Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes (vgl. Teil B Nr. 10.2 VMG) nicht GdB-pflichtig. Die chronische Hepatitits-B-Erkrankung ist bei fehlender entzündlicher Aktivität nach Teil B Nr. 10.3.1 VMG mit einem Einzel-GdB von 20 zutreffend bewertet. Damit handelt es sich allerdings um eine leichte Funktionsbeeinträchtigung, bei der es nach Teil A Nr. 3 d) ee) VMG vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. So liegt der Fall auch hier, denn der nach Teil A Nr. 3 b) VMG erforderliche Vergleich mit Gesundheitsschäden, zu denen in der Tabelle feste GdB-Werte angegeben sind, zeigt, dass eine Schwerbehinderung – selbst bei Annahme eines Einzel-GdB von 40 für die psychische Störung – nicht erreicht wird. So ist im Funktionssystem Nervensystem und Psyche in Teil B Nr. 3.1.2 VMG für zentrale vegetative Störungen als Ausdruck eines Hirndauerschadens mit häufigeren synkopalen Anfällen und erheblichen Auswirkungen auf den Allgemeinzustand ein fester GdB-Wert von 50 vorgesehen. Eine Vergleichbarkeit der bei der Klägerin vorliegenden Gesamtbeeinträchtigung mit einer derart schwerwiegenden Behinderung sieht der Senat nicht als gegeben an.
Dies führt in den häufigen Fällen, in denen der Gesamt-GdB in vertretbarer Weise entweder einen Zehnergrad höher oder niedriger angenommen werden kann, zudem regelmäßig dazu, dass eine richterliche Heraufsetzung des GdB auf den höheren vertretbaren Wert aufgrund der in diesen Fällen zumeist verbleibenden Zweifel nach den Regeln der objektiven Beweislast (hierzu BSG, Urteil vom 27. Oktober 2022 – B 9 SB 4/21 R – juris Rn. 41, m. w. N.) nicht in Betracht kommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.