L 12 P 63/23

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 30 P 20/22
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 12 P 63/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20.9.2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten den Pflegegrad 1 übersteigende Leistungen der sozialen Pflegeversicherung.

Der im Jahre 1958 geborene Kläger ist bei der Beklagten pflegeversichert. Er leidet vor allem an einem chronischen Schmerzsyndrom, Störungen des Ganges und der Mobilität, Depressionen, Beschwerden im Schulter- und Nackenbereich sowie an Schmerzen in den Hüftgelenken. Seit Februar 2021 bezieht er von der Beklagten Leistungen nach dem Pflegegrad 1.

Am 5.10.2021 beantragte der Kläger die Höherstufung seines Pflegegrades. In dem daraufhin von der Beklagten veranlassten, nach einem Hausbesuch bei dem Kläger erstellten Gutachten der Medizinischen Dienste Niedersachsen und Bremen (MD) vom 4.11.2021 wurde der Hilfebedarf des Klägers mit insgesamt 20 gewichteten Punkten (gewP) bewertet. Die Einzelmodule nach § 14 Abs. 2 SGB XI stellten sich wie folgt dar:

1. Mobilität: 0 gewP

2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten: 0 gewP

3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 0 gewP

4. Selbstversorgung: 20 gewP

(Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereiches, An- und Auskleiden des Oberkörpers, Benutzen einer Toilette: überwiegend selbständig; Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Unterkörpers: überwiegend unselbständig, insgesamt: 9 Einzelpunkte)

5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: 0 gewP

(Medikation einmal pro Woche; körpernahe Hilfsmittel, Arztbesuche: selbständig; 0 Einzelpunkte)

6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 0 gewP

Mit Bescheid vom 5.11.2021 lehnte die Beklagte daraufhin den Höhestufungsantrag ab, da der Kläger die für den Pflegegrad 2 erforderlichen 27 gewP nicht erreicht habe. Den hiergegen vom Kläger mit Beeinträchtigungen beim Zuknöpfen der Kleidung, beim Fortbewegen innerhalb der Wohnung ohne Rollstuhl und bei seinem Kurzzeitgedächtnis erhobenen Widerspruch lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23.3.2022 ab. Zur Begründung bezog sie sich auf ein weiteres, nach einem Telefoninterview erstelltes MD-Gutachten vom 3.2.2022, das zu demselben Ergebnis kam wie das Vorgutachten.

Der Kläger hat hiergegen am 7.4.2022 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben. Zur Begründung hat er unter Vorlage weiterer ärztlicher Berichte bzw. Gutachten (u.a. Dipl.–Psych. G. vom 7.9.2018, Neurologe und Psychiater Dr. H. vom 1.8.2017, I. vom 17.2.2021, Radiologe Dr. J. vom 15.8.2023, Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) Dr.   K., L., vom 31.8.2023) vorgetragen, in den wesentlichen Belangen des täglichen Lebens unselbständig zu sein. Aufgrund seiner Einschränkungen sei ein Pflegebedarf zum Ausgleich kognitiver und kommunikativer Fähigkeiten, bei Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen, bei der Bewältigung von therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie bei der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte festzustellen.

Das SG hat zunächst Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte beigezogen (Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. M. vom 25.6.2022, Facharzt für Innere Medizin Dr. N. vom 13.5.2022) und sodann ein Sachverständigengutachten des Allgemeinmediziners und Facharztes für Psychotherapie Dr. O. vom 24.2.2023 eingeholt. Dieser ist nach Untersuchung des Klägers in dessen häuslicher Umgebung zu der Einschätzung gelangt, dass der Kläger einen Pflegebedarf im Umfang von 23,75 gewP erreicht habe (Modul 4: 20 gewP, Modul 6: 3,75 gewP). 

Mit Urteil vom 20.9.2023 hat das SG sodann die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für den Pflegegrad 2 seien nicht erfüllt. Dr. O. sei nachvollziehbar zu dem Ergebnis gekommen, dass 27 gewP weiterhin nicht erreicht seien. Entgegen dem Vortrag des Klägers sei die von ihm benötigte umfassende Fürsorge ausreichend berücksichtigt worden. Im diesbezüglich heranzuziehenden Modul 2 komme es bei der Beurteilung der Selbständigkeit auf das nähere Umfeld an. Die Fähigkeiten des Klägers im Hinblick auf die örtliche, personelle und zeitliche Orientierung im Alltagsleben, das Erinnern und Steuern von Alltagshandlungen, das Verstehen von Ereignissen und Inhalten, die Bestandteil des Alltagslebens seien, lägen nach den plausiblen Feststellungen des Dr. O. ganz überwiegend vor. Der Kläger bewältige seinen Tagesablauf und habe detailreich seinen Alltag schildern können. Die Ressourcen und Beeinträchtigungen des Klägers habe der Sachverständige im Rahmen des Moduls 6 nachvollziehbar berücksichtigt. Entgegen der Ansicht des Klägers bestehe ein erhöhter Hilfebedarf aufgrund der rezidivierenden Depression im Modul 3 nicht. Dieses seelische Leiden erreiche nicht das Ausmaß, wie es laut Ziffer 4.3.11 der einschlägigen Begutachtungsrichtlinien („Richtlinien zum Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach § 17 Abs. 1 SGB XI“ - BRi, aktuell in der Fassung vom 21.8.2024) erforderlich sei. Es liege lediglich eine Antriebsminderung vor, der Kläger bewältige noch ohne fremde Hilfe seinen Alltag. Eine Psychotherapie finde aktuell nicht statt. Auch ein Pflegebedarf für die vorgetragene nächtliche Unruhe (Ziffer 4.3.2 BRi) könne nicht festgestellt werden. Der Kläger sei selbständig in der Lage, sich wieder zu beruhigen, indem er Beruhigungsmittel nehme.

Gegen das Urteil hat der Kläger am 17.10.2023 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, das SG habe sich mit dem nach Erstellen des Sachverständigengutachtens vorgelegten Bericht des P. vom 17.2.2021 nicht kritisch auseinandergesetzt. Aus dem Bericht werde ersichtlich, dass er nicht einmal mehr in der Lage sei, ein Belastungs-EKG durchzuführen. Sein Gesundheitszustand habe sich nach der Begutachtung durch Dr. O. ausweislich der Berichte des MVZ Dr.  Q. verschlechtert. Aufgrund seiner körperlichen Gebrechen sei er nicht mehr in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Selbst das Anziehen von Strümpfen, Unterwäsche und Hosen sei ihm zwischenzeitlich ohne Hilfe nicht mehr möglich.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

  1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20.9.2023 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2022 aufzuheben
  2. die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen mindestens nach Maßgabe des Pflegegrades 2 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

                     die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf ihr Vorbringen in der Vorinstanz und hält das Urteil des SG für zutreffend.

Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Dr. O. vom 28.1.2024 eingeholt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes sowie der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorlegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

II.

Der Senat konnte die Berufung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten wurden vorher zu dieser Verfahrensweise gehört.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Pflegeleistungen (mindestens) nach dem Pflegegrad 2 ablehnende Bescheid der Beklagten vom 5.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2022 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Beklagte und das SG haben in ihren jeweiligen Entscheidungen bereits den der Beurteilung zugrunde zu legenden gesetzlichen Maßstab der §§ 14, 15 SGB XI ausführlich und zutreffend dargelegt. In diesem Zusammenhang haben sie richtig darauf hingewiesen, dass Leistungen (mindestens) nach Pflegegrad 2 die Feststellung von wenigstens 27 gewP nach dem durch § 15 SGB XI vorgegebenen Begutachtungsinstrument voraussetzen (§ 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI). In zutreffender Anwendung dieses Maßstabes sind die Beklagte und das SG sodann nach der von ihnen jeweils hierzu veranlassten Sachaufklärung rechtsfehlerfrei zu der Beurteilung gelangt, dass diese Voraussetzungen für den Kläger nicht vorliegen.

Der Hilfebedarf des Klägers hat sich zur Überzeugung des Senats gegenüber dem Leistungen entsprechend dem Pflegegrad 1 bewilligenden Bescheid der Beklagten nicht in einem solchen Maße erhöht, dass die Voraussetzung für den Pflegegrad 2 seit dem vom Kläger am 5.10.2021 gestellten Höherstufungsantrag erreicht wurden bzw. werden. Der Senat schließt sich hinsichtlich der Einschätzung des Pflegebedarfs auf lediglich den Pflegegrad 1 rechtfertigende 23,75 gewP den Ausführungen des Dr. O. an. Dieser hat in seinen gutachterlichen Ausführungen als Pflegesachverständiger plausibel und in weitgehender Übereinstimmung mit den seitens der Beklagten veranlassten MD-Gutachten dargelegt, dass die sich auf den Pflegegrad auswirkenden Hilfebedarfe des Klägers sich auf die Module 4 und 6 der BRi beschränken. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des SG.

Das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren und dessen (nochmaliger) Verweis auf Berichte des R. und des MVZ Dr. K. geben keinen Anlass, von dem Ergebnis des erstinstanzlichen Verfahrens abzuweichen. Dr. O. hat diesbezüglich vielmehr in seiner vom Senat veranlassten ergänzenden Stellungnahme vom 28.1.2024 plausibel und überzeugend ausgeführt, dass von einer in seinem Gutachten vom 24.2.2023 nicht berücksichtigten Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers mit einem hieraus ggf. resultierenden erhöhten Pflegebedarf wegen etwaiger relevanter Alltagseinschränkungen nicht auszugehen ist.

Die bei der Vorstellung des Klägers im S. im Februar 2021 zur Abklärung einer asymptomatischen Sinusbradykardie (nach darauf hindeutenden Aufzeichnungen auf der Smart-Uhr des Klägers) durchgeführten Untersuchungen mit EKG und der Erhebung von Blutwerten erbrachten keine auffälligen Befunde. Soweit ein Belastungs-EKG wegen der bei dem Kläger bekannten Hüft- und Kniebeschwerden nicht durchgeführt werden konnte, kann allein hieraus nicht auf eine kardiologische Erkrankung des Klägers geschlossen werden. Eine im August 2023 durchgeführte CT-Untersuchung des Herzens erbrachte keine krankheitswertigen Befunde und führte offenkundig, trotz festgestellter Verkalkungen und des Verdachtes auf eine höhergradige Abgangsstenose des RD1 (Abzweig der linken Hauptkoronararterie), ebenfalls nicht zu einer weiteren Behandlungsbedürftigkeit im kardiologischen Bereich (Bericht Dr. J. vom 15.8.2023).

Hinweise auf einen erhöhten Pflegebedarf ergeben sich auch aus den Befundberichten des eine mittelgradige depressive Episode diagnostizierenden MVZ Dr. K. vom 31.8.2023 nicht. Nachvollziehbar hat Dr. O. diesbezüglich in seiner ergänzenden Stellungnahme darauf hingewiesen, dass die vom Kläger bereits bei der Begutachtung im Februar 2023 angegebene, und im Gutachten berücksichtigte chronische depressive Symptomatik (als Bestandteil eines chronischen Schmerzsyndroms mit körperlichen und psychischen Faktoren) sich offenkundig nicht verschlechtert hat und aus dem sich nach wie vor nicht bestätigten Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung ebenfalls kein dauerhafter pflegerelevanter Hilfebedarf resultiert. Zutreffend hat insofern bereits das SG darauf hingewiesen, dass allein aus einer bei dem Kläger allenfalls feststellbaren Antriebsstörung in Form von Antriebsschwäche, -mangel oder ­‑armut bei depressiver Stimmungslage nach Ziffer 4.3.11 BRi noch kein Pflegedarf resultiert. Eine hierzu ggf. führende Antriebslosigkeit wurde vorliegend nicht festgestellt.

Soweit der Kläger schließlich (ebenfalls bereits im erstinstanzlichen Verfahren) mit einer E-Mail an seinen Prozessbevollmächtigten vom 27.7.2023 auf einen erhöhten Hilfebedarf beim Anziehen im Bereich des Unterkörpers verwiesen hat, hat Dr. O. in seiner o.g. ergänzenden Stellungnahme zutreffend auf die Berücksichtigung dieses Bedarfes in seinem Gutachten im Rahmen des Moduls 4 hingewiesen (An- und Auskleiden des Unterkörpers: überwiegend unselbständig). Bereits die MD-Gutachten vom 4.11.2021 und vom 3.2.2022 haben diesbezüglich in korrekter Anwendung der BRi zwei Einzelpunkte berücksichtigt.

Die für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit (allein) maßgeblichen gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit bzw. der Fähigkeiten des Klägers i.S. von § 14 Abs. 2 SGB XI sind durch die seitens der Beklagten veranlassten Gutachten, die zur Akte gelangten ärztlichen Berichte und Stellungnahmen und das vom SG eingeholte Sachverständigengutachten nebst der vom Senat veranlassten ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen erschöpfend ermittelt und dokumentiert. Der Senat sieht sich insofern nicht zu einer ergänzenden Sachverhaltsaufklärung durch Einholung weiterer pflegefachlicher und/oder medizinischer Gutachten oder Stellungnahmen veranlasst.

Die Berufung war nach alledem vollumfänglich zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­

Rechtskraft
Aus
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